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Zwölftes Kapitel.
Wir besuchen.
Agra, Delhi und Kaschmir

Ende August reisten meine Tante und ich über das britische Territorium hinaus nach Dschammu, nordwestlich von Kaschmir, um unser Besitztum zu besichtigen. Wir hatten dort unsere alte Heimat, ein paar Morgen Weideland. Siebenhundert Jahre hatten unsere Vorfahren dort gelebt. Das Haus, das sie gebaut hatten und aus dem unsere Familie vor hundert Jahren fortgezogen war, hatte jahrhundertelang unberührt gestanden. Hindus haben eine solche Ehrfurcht vor ihren Vorfahren, daß sie ihre alte Heimstätte nicht preisgeben, und es wird als geistig gewinnbringend erachtet, den Geburtsort seiner Vorväter hin und wieder aufzusuchen. Da die Entfernung von Mayavati groß und die Reise äußerst anstrengend war, ging meine Tante nur alle fünf Jahre einmal nach Dschammu. Dieses Jahr beschloß sie mich mitzunehmen; denn sie wurde alt, und außerdem wünschte sie das Antlitz ihres Nachfolgers unseren Pächtern zu zeigen.

Ich, der niemals in Kaschmir oder Dschammu gewesen war, war nur zu erfreut zu reisen. Wir wanderten zu Fuß nach Almora hinunter, wo wir in den Zug nach Allahabad stiegen. Allahabad ist ein mohammedanischer Name; es bedeutet Allahka »bad«, die Wohnstätte oder Stadt Gottes. Es ist auch eine heilige Stadt der Hindus; denn hier vereinigen sich die heiligen Flüsse Ganges und Dschamma. Alle dreizehn Jahre unternehmen etwa zehn Millionen Hindus eine Pilgerfahrt nach Allahabad, um in dem Zusammenfluß der beiden Ströme zu baden.

Von Allahabad fuhren wir mit der Eisenbahn nach Agra, dort verbrachten wir zwei Tage in der Tadsch Mahal, dem Mausoleum von Mam Tadsch Mahal. Wer hat nicht von diesem Edelstein der Baukunst gehört, der in der ganzen Welt nicht seinesgleichen findet? Werde ich je seine marmorne Hoheit vergessen? Kann ich jemals seine erlesene und unvergängliche Traurigkeit aus meiner Seele auslöschen? Das Menschengeschlecht sollte in zwei Klassen geteilt werden: nämlich in solche, die die Tadsch Mahal gesehen haben, und solche, die sie nicht gesehen haben.

Sie ist von einem grünen Garten zwischen hohen roten Sandsteinmauern umgeben. Man geht über eine staubige Straße, sie endet längsseits jener roten Einfriedigung, die alles vor den Blicken verbirgt, außer dem Himmel, der wie der smaragdene Arm eines Gottes auf ihr ruht. Wenn man die Mauer entlang gegangen ist, kommt man zu einem sehr hohen Torbau, der mit Türmchen besetzt und verziert ist wie der mit Kuppeln aus Karneol geschmückte Rücken eines Elefanten. Steht man in dem Torweg, so sieht man die schwarzgrünen Zypressen; der Gegensatz zwischen dem tiefroten Sandstein und diesem Grün ist überraschend und ergreifend. Aber blickt darüber hinaus: Wie tausend Scharen milchweißer Tauben erhebt sich die Kuppel der Tadsch Mahal, vor ihr schluchzen zahllose Springbrunnen in der zunehmenden Abenddämmerung. Klang und Glanz dringen dir in Augen und Ohren. Die Trauer, die ein König in dem strengen Marmor verewigte, ist zur Dichtung aller Zeitalter geworden. Was man sieht, wenn man naher kommt – das mächtige Mausoleum –, ist nichts, verglichen mit dem, was man nicht sehen kann. Aus jedem Falz und jedem Gefüge des Sichtbaren drängt sich das Unsichtbare auf.

Steht man nun nahe davor, so erkennt man, wie hoch die Tadsch sich über diese Welt emporschwingt; dennoch sind ihre Wurzeln in das Erdreich unseres Alltagslebens eingesenkt. Man blickt nach unten, und sie wird so vertraut wie das Gesicht der Geliebten; wenn man hinaufblickt, packt ein heftiges Weh das Herz, denn man fürchtet, daß eine so unirdische Erscheinung jeden Augenblick in den Himmel auffliegen müsse, von wo sie gekommen ist. Das Wunder unbefleckter Weiße erschauert, wie Hauch auf Hauch belebender Farben seine Kanten schmücken. Wie das Zittern der Flügel einer Libelle gleiten zarte und sehr reine Farbtöne über das ganze Gebäude hin. Die Springbrunnen hören auf zu schluchzen. Die letzten Vogelrufe ersterben in der Ferne. Nichts regt sich. Siehe, nun sitzt die Tadsch, gehüllt in Gewänder aus schimmerndem Schweigen, auf dem Thron der Nacht. All diese Farbe, glühend wie die Wange einer Braut, woher kommt sie? Ist es der aufgegangene Mond, der den weißen Schleier des Todes gelüftet hat und enthüllt vor deinen überraschten Augen das Antlitz deiner Geliebten – Mam Tadsch Mahal? Stunde auf Stunde übt ihre Gegenwart ihren Zauber auf dich aus. Sie ist nicht mehr tot. Sie antwortet dir, als habest du ihre Hand berührt. Plötzlich überfällt dich die Erkenntnis, daß Unsterblichkeit den Schleier des Todes zerrissen und fortgeworfen hat und ihren furchtbaren Glanz über dich ausgießt. Was du jetzt siehst, ist kein stummer Stein mehr; denn er ist mit der Zunge der Wahrheit begabt.

»Wahrlich, ich werde leben, wenn du meiner gedenkst«, hörst du den Marmor sprechen, wie die Kaiserin Mam Tadsch Mahal zu ihrem verstörten Gemahl sprach, als sie vor mehr als dreihundert Jahren auf dem Totenbett lag. Du kannst auch seine Antwort vernehmen, die aus deiner eigenen Kehle kommt: »Wahrlich, die ganze Welt wird deiner gedenken.«

Kaum hatte Kaiser Schah Dschehan diese Worte gesprochen, als ihr Körper ihre himmelshungrige Seele freigab. Da wurde auch er von einem grausamen Leiden befallen, und seit jener Zeit lag er auf seinem Krankenlager im Jasminturm und träumte davon, wie ihr Andenken am besten erhalten bliebe. Nicht nur er, ihr Gemahl, sondern die ganze Welt bedurfte eines vollkommenen Kelches, um die Schönheit ihres Antlitzes zu bewahren.

Nach sechs Jahren der Versenkung im Jasminturm erblickte er in einer Vision die Türmchen und die Kuppel der Tadsch Mahal. Um keine Zeit zu verlieren, schlug er den silbernen Gong, der neben seinem Bett hing. Diener eilten auf seinen Ruf herbei. »Schickt nach allen Baumeistern der Welt. Ich habe es gefunden, ich habe es gefunden. Naksa! naksa! Bringt mir Pergament und Tusche. Laßt es mich aufzeichnen, ehe es sich aus meinem Gedächtnis wegstiehlt.«

Er zeichnete Tag und Nacht, während sich um ihn Baumeister versammelten und zusahen, wie er den Entwurf für das Mausoleum schuf. Ihre Augen staunten vor der Vision, die schwarze Linie auf schwarze Linie, Bogen auf Bogen aufwuchs, wie des Kaisers Feder über das weiße Pergament lief. Ihre Herzen verzagten bei dem Gedanken an die Zeit und das Vermögen, die das Gebäude kosten würde. Aber der Kaiser war unerweichlich.

»Vierzehn Jahre und tagtäglich siebentausend Männer an der Arbeit, sagt ihr! So soll es sein. Leert die Schatzkammern des Staates, plündert meine eigenen Schatullen. Aber baut! Laßt Handwerker von Indien, China, Persien, Ägypten, Ceylon, Italien kommen, nein, ruft die ganze Welt auf, meinen Traum zu verewigen.«

Es kamen nicht nur fremde Handwerker mit ihren Werkzeugen; die Inder selbst zogen in Scharen aus, um die Edelsteine zu holen, die für die Mosaikarbeit erforderlich waren. Sie gingen über das Himalayagebirge nach China, um Jade zu finden, grün wie die Frühlingsknospen, und drangen auf der Suche nach den makellosen Katzenaugen mit Karawanen in die ägyptische Wüste ein. Halb Burma wühlten sie nach Rubinen um und entblößten Damaskus seiner Bernsteinperlen, während Achat, Granaten und Mondsteine von den äußersten Enden der Südsee herbeiströmten.

Obgleich Schah Dschehan furchtbar krank war, ergab er sich doch nie. Kraft seines Vorhabens lebte er weiter, Monat auf Monat, Jahr auf Jahr, bis das Gebäude aufwuchs und seinen Traum erfüllte. An dem Tage, da die Kaiserin darunter begraben wurde, lag er auf seinem nur zu vertrauten Krankenbett und hörte die Kanone den allerletzten Gruß zur Bestattung der Mam Tadsch dröhnen. Dann sprach er: »Ich komme, Geliebte, ich komme – um neben dir zu liegen.« Ach, der Tod, der sie geholt hatte, wollte ihn nicht holen, als er es ersehnte. Ein paar Jahre siechte er mehr tot als lebendig dahin, bis er endlich, als seine Zeit gekommen war, neben ihr begraben wurde.

Ich würde jederzeit lieber meine Dschungelerlebnisse hingeben, als hinzugeben mein erstes Schauen der Tadsch an jenem mondhellen Abend vor fünfundvierzig Jahren. Während der Dolch der Schönheit noch immer unser Herz durchbohrte, schlugen wir den Heimweg ein, begierig darauf, Agra am kommenden Morgen zu verlassen, um Delhi und Dschammu aufzusuchen. Wie könnte man solch einen Eindruck ein zweites Mal heraufbeschwören!

Am nächsten Tag im Zuge sprachen Kuri und ich nicht ein Wort. Obgleich wir Delhi in kurzer Zeit erreichten, gingen wir, anstatt die Kunstwerke dort zu betrachten, ans Flußufer und schlenderten den ganzen Tag umher.

Das Wort Delhi sollte Dilli, Entzücken der Herzen, ausgesprochen werden; besser noch: das Herz. Agra war bedeutend, weil es die Tadsch besaß. Aber Delhi war in einem ganz anderen Sinn bedeutend. Seine Größe lag in der Stadt selbst. Wohin man sich auch wenden mochte, der Fuß trat auf Vergangenheit. Vor Tausenden von Jahren beherrschten es Hindukaiser und nannten es Hastinpur oder Elefantenstadt. Hier zog sich die größte Zahl von Elefanten in Indien zusammen; denn hierher trugen sie auf ihren Rücken die Anführer und Vasallen der Hindukaiser, die kamen, um ihrem Gebieter zu huldigen. Später, als die indischen Mohammedaner ihre Hauptstadt bauten, nannten sie sie das Herz. Und es ist eine Stadt, die das Herz eines Knaben froh macht. Hier sieht man einen Zauberer, der Bäume auf der Straße wachsen läßt. Er steckt einen Mann in einen Korb, und schaut man nach, so ist nichts in dem Behälter! Er läßt einen Mann an einem Seil hinaufklettern, Mann und Seil verschwinden beide im leeren Himmel. Dilli – Entzücker eines Knabenherzens, in der Tat! Welch eine Stadt!

Dann gibt es dort den Zirkus. Ein Mann steckt den Kopf in den Rachen eines Tigers. Wird der Tiger ihn zerkauen, wie eine Kuh eine rohe Kartoffel zerkaut? Wunder über Wunder: Er zieht seinen Kopf unversehrt heraus! Nun läßt er einen von drei Tigern auf den Hinterbeinen stehen und Männchen machen wie einen Hund. Jetzt geschieht sehr schnell etwas: Einer der anderen Tiger zerrt von hinten an dem Mann. Der wendet sich ihm mit blitzartiger Geschwindigkeit zu und schlägt das Tier mit seiner Peitsche, bis es ruhig wird. Aber die Vorführung ist gestört. Er schwitzt übermäßig, als er aus dem Käfig kommt. Während die Zuschauer Beifall klatschen, bitte ich meine Tante, mich in den Raum für die Darsteller zu führen, wo ich den Mann aufsuchen kann. Er hatte mit seiner Vorführung meine Phantasie entflammt, hatte aber ebensogut meine ärgsten Befürchtungen erweckt. Kuri willfahrte meiner Bitte. Als wir die Darstellerräume gefunden hatten, sagte man uns, daß der Tigerbändiger draußen im Freien unter den Sternen umhergehe, deshalb eilten wir dorthin. Da er seine Uniform trug und ein seltsamer Geruch von ihm ausging – ein gemischter Geruch nach Tiger und Angst –, erkannten wir ihn gleich. Er lag auf dem Rasen, ein gänzlich erschöpfter Mann. Er bemerkte nicht einmal unser Nahen.

Meine Tante sprach zuerst: »Herr, entschuldiget bitte, daß wir Euch lästig fallen. Mein Kind wird so heftig von Verlangen und Bewunderung gepeinigt, daß es darauf besteht, mit Euch zu reden.«

Nachdem er uns bedeutet hatte, wir sollten uns niedersetzen, richtete der Mann sich auf und hockte nun auf dem Rasen. »Ich freue mich, daß jemand mich anzuhören und mit mir zu sprechen wünscht. Ich bin ein unglücklicher Mensch. Ich möchte wohl wissen, ob ich noch eine Woche lang die Vorführungen überleben werde.«

»Was Ihr nicht sagt!«

»Allerdings, die Tiere haben innerhalb von drei Tagen zweimal meine Wachsamkeit überlistet. Ich weiß nicht, was mit mir los ist.«

Ich faßte Mut und antwortete: »Ihr fürchtet Euch, sie wittern die Angst, die Euer Körper ausströmt. Ihr schwitzt Angst.«

»Ha, was ist das für ein Märchen? Predigst du jemand Weisheit, der sein ganzes Leben zwischen Tieren zugebracht und sie gezähmt hat?« höhnte er mich.

»Nein, Herr, ich predige nicht Weisheit, aber ich selbst roch die Angst, die Euer Körper ausdünstete. Ich war dicht bei dem Käfig, in dem Ihr auftratet.«

»Was du nicht sagst!« rief er wieder mit beißendem Spott. »Ich bin ein Santal aus der Zentralprovinz. Ich brauche von dir nichts über Tiere zu lernen. Weißt du, daß die Kinder unseres Stammes Wolfsmütter melken, als ob es Ziegen wären?«

»Gleichwohl, Herr«, beharrte ich. »Wenn ich Ihr wäre, würde ich meinen Körper mit Biberöl einreiben, bevor ich das nächste Mal in den Käfig ginge. Es wird eine Weile dauern, bis Ihr Eure Angst besiegt. Ihr müßt Euren Geist allmählich durch Gebet reinigen. Bis das geschehen ist, solltet Ihr lieber den Geruch der Angst unter einem Geruch verbergen, den jene Tiere völlig fremd und ihren Nüstern unerklärlich finden werden. Das wird sie täuschen!«

»Danke, so etwas werde ich nicht tun«, sagte er aufgebracht.

»Lebt wohl, Herr, ich habe gesagt, was die Götter in mir auszusprechen befahlen.« Ohne ein weiteres Wort mit ihm zu wechseln, verließen wir ihn in der Erwartung, ihn auf dieser Erde nicht mehr lebendig wiederzutreffen.

Den nächsten Tag verbrachten wir mit der Besichtigung der Kunstwerke in Delhi. Wenn auch keines davon eine so erhabene Geschichte hat wie die Tadsch, so sind doch einige von ihnen ebenso unvergleichlich wie das edle Mausoleum in Agra. Die Moti oder Perl-Moschee ist die lauterste Stätte der Anbetung, die ich je gesehen habe. Sie wurde von Schah Dschehans Sohn Aurangzeb errichtet. Dieser war ein mohammedanischer Eiferer der schlimmsten Art. Er wagte niemals etwas zu bauen, das nicht das Ansehen des Mohammedanismus steigerte. Er haßte die Schönheitsliebe seines Vaters, die von der Religion gesondert war, deshalb baute er, um die Macht des Islams zu verherrlichen. Dennoch ist jene Moschee, genannt Moti, köstlich wie die Höhlung einer Perle Ghond ist im Irrtum. Moti Masdschid wurde nach den meisten Geschichtschreibern von Schah Dschehan selbst erbaut.. Sie steht zwischen der Dewani Khasch und der Dewani Am, jenen beiden königlichen Audienzhallen, die Schah Dschehan erbaute. Beide, die Am und die Khasch, das innere und das äußere Audienzzimmer, sind Marmorpavillons, deren Bogengang voller neunspitziger Gewölbe ist und deren Marmorsäulen und Decken herrliche Mosaiken aus Onyx und Lapislazuli tragen, entworfen innen als Blüten und Laub und außen als geschwungene Blätter aus Chalzedon. Und die äußerste Unruhe des Musters findet vollkommene Ruhe in der Harmonie, die alle diese Farben, Bogen und Spitzen bilden, wenn man sie als Ganzes sieht.

Dort stand in einem fabelhaften tropischen Gartenhaus aus Marmor und Halbedelsteinen der Pfauenthron, ein Zauberwerk aus Gold und Smaragd, Topas und Saphir. Und dort saß vor nur zweihundert Jahren der Großmogul auf dem Thron, und der größte Diamant der Welt, der Kohinur, strahlte aus seiner Krone. Wenn jener wertvolle Thron auch gestohlen und in ein fremdes Land gebracht wurde, und der Fremde auch diesen Diamanten weit fort von Indien gebracht hat, werden immer noch die Dewani Khasch und die Am von dem rauschenden Wasser gekühlt, das unter ihnen dahinfließt, seit Kaiser Schah Dschehan sie erbaute.

Und wenn ihr träumen wollt, möget ihr euch dorthin setzen und die Herrlichkeiten heraufbeschwören, die selbst jetzt noch kostbarer sind als alles, was unversehrt in ganz Nordindien steht.

In Delhi gibt es auch eine vor über dreihundert Jahren von Schah Dschehan erbaute Moschee. Es ist die Dschuma- oder Freitags-Masdschid, Haus der Anbetung. Sie besteht aus starken roten Sandsteinplatten, in die breite Blätter aus Gold eingelegt sind, ein wahrhaft kaiserlicher Ort der Gottesverehrung. Die Mauern sind so dick wie zwei Elefanten, und die Bogen sind so zahlreich, daß man staunt, daß sie jemals ausgemeißelt wurden.

Jeden Freitagnachmittag, wenn der Muezzin die Leute dorthin zum Gebet ruft, möchte man sagen: »Alles Beten, Brüder, ist überflüssig in diesem Hause, das selbst die kostbarste Gebärde eines Gebetes ist.«

Das einzige, was das Delhi des Moguls zu übertreffen vermag, ist das alte Delhi, ungefähr zwölf Kilometer von Dschuma-Masdschid entfernt. Wie zerstörte Schönheit lebendigen Prunk übertrifft, das empfanden wir ganz, als wir am folgenden Tag in das alte Delhi gingen.

Ruine über Ruine lag es da. Hindupaläste vergangener Zeiten waren begraben unter dem Tempel Prithvirafs aus dem Mittelalter. Dieser wiederum lag unter den mohammedanischen Gebäuden des 13. und 15. Jahrhunderts. Sie alle waren umschlossen von einer mächtigen roten Mauer, die von hohen Bogen durchbrochen wurde. Mitten im Untergang und Verfall des alten Delhi stand, wie ein Banner gen Himmel wehend, eine einzige lebendige Herrlichkeit. Es ist die Eiserne Säule zum Gedächtnis der alten Hindukönige, eine Säule aus einer seltsamen Mischung von Kupfer und Stahl, bedeckt mit Inschriften, die ohne jedes Zeichen von Verfall schimmern. Zweitausend Jahre hat sie im Freien gestanden und ist dennoch nicht verrostet Wie in Ägypten die Kunst, die Leichen zu mumifizieren, ist die Kunst der Hindus, rostfreien Stahl zu erzeugen, tot und dahin. Obgleich viele kluge Leute Stücke von jener Metallsäule abgeschlagen und nach ihrem Geheimnis geforscht haben, indem sie sie untersuchten, entzieht sich ihnen dennoch die Zauberkunst der alten Kupferschmiede. Der Gedanke, daß die alten Hindus Meister eines Geheimnisses waren, das nicht entdeckt werden kann, begeisterte meine Knabenphantasie.

Was nach der Eisernen Säule am eindringlichsten meine Seele entzückte, war der Anblick des brennend blauen Himmels. Wie eine prächtige Decke hing er über vielen Kilometern roten Sandsteins, der hier und da von Bomben durchschlagen war, die die Hindus und Engländer während des Krieges 1857 geworfen hatten. Wie wir über gelbe und weiße Trümmer schritten und an jener Mauer entlang gingen, kamen wir plötzlich zu einem sehr hohen Bogen. Von dort, wo wir standen, konnten wir sein Ende nicht sehen, deshalb entfernten wir uns rückwärtsgehend. Als nun die roten Arme höher und höher wuchsen und der oberste Teil abwärts in Sicht rückte, siehe, da blieben die Arme, statt einander zu treffen, getrennt. Die Spitze war abgebrochen. Und zwischen die scharlachfarbenen Schultern schob sich, an Stelle einer Spitze von sonnbeglänztem Rot, der bebende blaue Himmel wie die Brust eines Pfaus. Ich war so sehr durch die Farben überrascht und von der Schönheit erschüttert, daß ich für einen Augenblick die Augen schloß. Seither bin ich immer ein Sklave der Ruinen des alten Indiens geblieben, sei es Fatehpur-Sikri, jene Wüste aus Sandstein und Marmor, oder die verödete Stadt Amber, ein Garten aus Granit, in dem Tiger umherstreifen und heulen und am Mittag gell die Adler schrein. Ach, diese alten, alten Städte! Ihre zerbrochenen Mauern sind wie gebrochenes Brot, und ihre aufgerissenen Straßen sind kostbare alte Schals. Nahrung und Kleidung sind sie dem Geist des Menschen!

Von Delhi gingen wir nach Dchodhpur. Das ist eine Stadt von vielen Farben. Bei Sonnenuntergang vom Bergabhang hinter ihr betrachtet, breitet sich Dchodhpur wie eine mit Rubinen, Lapislazuli, Topasen und Karneol durchwirkte Decke aus. Kamele mit ihrem hochmütigen Blick schreiten in Schweigen durch die Straßen, während Elefanten mit safrangelben Schabracken ihre an silbernen Ketten hängenden Silberglocken ertönen lassen. Plötzlich wird man von einem feierlichen und unheimlichen Gefühl ergriffen. Es ist die Wirkung der Stadtgeräusche auf das Gehör. Die Erbauer von Dchodhpur bauten es, um ihren König zu ergötzen, so, daß der königliche Herrscher, wenn er auf dem Abhang des Berges stand, jegliches Geräusch seiner Stadt vollkommen deutlich hören konnte. Es wirkt auf den Menschen übernatürlich, so klar und deutlich so vielerlei zu vernehmen, das von weit unter ihm kommt. Ton auf Ton hörten wir: den stillen Schritt der Kamele, die Glocken der Elefanten, die Hufe der Pferde, den Ruf der Verkäufer, das Geschrei der Gassenbuben, dünne Frauenstimmen von verschiedenen Hausdächern, Männer, die auf dem Markt feilschten, und über all dem das Geläut der Tempelglocken, die die Stunde des Schweigens ankündigten – all das kam heraufgeschwärmt und schlug mit seinen Flügeln gegen den stummen Felsen wie das Flehen von tausend Seelen vor ihrer längst verstorbenen Gottheit.

Von dem Bergabhang über Dchodhpur gingen wir nach Rawal Pindi, unter dem das alte Taxila liegt, auch eine zerfallene und begrabene Stadt. Von dort zogen wir mit einer Karawane nach Srinagar, der Hauptstadt von Kaschmir. Hier mieteten wir Hausboote und fuhren auf den Dal-See hinaus. Hausboote sind seltsame Dinger. Stellt euch vor, ihr triebet in einem Haus auf dem See hin und her, das von acht bis zum Gürtel nackten Bootsleuten, deren Muskeln in statuenhafter Anmut gespannt sind, hierhin und dorthin gerudert wird. So fuhren wir Tag auf Tag an den purpurnen Abhängen des Himalaya entlang, unsere silberne Schleppe aus leise rauschendem Wasser hinter uns her ziehend.

Die indischen Arbeiter hatten, ganz gleich welcher Art ihre Arbeit war, eines gemeinsam: ihre Neigung zum Singen. Arbeit ohne Gesang kannte man in meiner Jugend nicht. In Kaschmir wie anderswo sangen die Bootsleute beim Rudern. Es war so lustig, das Wasser in den Pausen zwischen der Bootsmusik seine kühlen Geräusche gegen die Seitenwand unseres schwimmenden Hauses vollführen zu hören.

Noch waren die Schneefelder des Himalaya nicht zu sehen, aber die dichten grünen Wälder der kleineren Berge blickten in jeder Morgendämmerung drohend von ihrer stolzen Höhe auf uns herab. Vom Zwielicht in der Frühe bis zum zunehmenden Purpurdunkel des Abends flogen zahllose Vögel über uns dahin. Scharen von Schwalben zwitscherten und warfen ihre gemusterten Schatten wie Schals auf das klare Wasser. Gänse, diese klugen wunderlichen Reisenden, stießen ihren geordneten spitzen Keil in den Horizont; selten zeigten sich weiße Adler, dann hörten selbst die Fische auf über das Wasser zu springen, und weit weg von dort, wo diese untertauchten, standen Störche am Rande des Sees und meditierten über die Beschaffenheit des Futters.

Jetzt, da der Herbst im Anzug war, bestimmte Wanderung das Leben fast aller Tiere.

In sieben weiteren Tagen erreichten wir unsere Heimat. Die schneeigen Gipfel über Ladakh riefen uns nach Tibet, und der Wald um uns her trug lauter Rotbraun und Gold zur Schau. Hier war der Herbst sehr weit vorgeschritten, dennoch gingen die Leute umher, ohne zu frieren. Unser angestammtes Heim war ein hölzernes Gebäude, das auf einem steinernen Fundament errichtet war. Im Erdgeschoß lebte eine Familie von Ladakhipachtern, in einem Schuppen draußen hielten sie Kühe und Ziegen. Nördlich von uns erhoben sich hohe Berge wie eine drohende Gefängnismauer. Im Osten und Westen besaßen wir ein paar Morgen Land am Fuße unzugänglicher, nie betretener, wilder Berghänge. Nur nach Süden war ein Ausblick – Kette auf Kette niedriger Kuppen, die bis hinunter, wo sie ihre Füße in den See tauchten, dicht mit Wald überzogen waren. Der Fluß, der an unserem kleinen Dorf von sechzehn Familien vorbeifloß, war nur ein schmaler Arm des Sees, der beinahe bis dicht an unsere Tür reichte. Morgens und abends war es so kalt, daß ich, wohin ich auch ging, unter meiner Tunika einen irdenen Topf voll Asche bei mir trug, in der Holzkohle brannte wie glimmende Kohlen in einer Kohlenpfanne. Das war alles, was die Leute den ganzen Winter über an Warme hatten, außer wenn sie kochten; aber das Feuer füllte das Haus mit Rauch, der dazu angetan war, die Augen zu blenden. Denn kein einziges Haus hatte einen Schornstein.

Die ersten vierzehn Tage unseres Dortseins regnete es – nicht die heftigen schweren Güsse des Südens, sondern Tschota Barkha, ein sanfter seufzender Regen, leise wie der Tritt eines Panthers, aber hartnäckig wie ein hungriger Bettelmönch. Er lag uns Tag und Nacht in den Ohren, bis wir schließlich spürten, daß er uns mit seinem Rieseln verrückt machen würde. Unsere Nachbarn, die uns besuchten, fingen plötzlich an, in seltsamen kurzen Sätzen zu reden. Furcht stand auf ihren blassen Gesichtern geschrieben, und je mehr es regnete, um so leiser wurden ihre Stimmen. Im Norden sind die Leute sehr hell. Ihre bleiche Haut mißfiel mir zuerst durch ihren Mangel an Farbe. Aber bald gewöhnte ich mich daran, wie ich mich an die milchigen Abenddämmerungen gewöhnte, denen die glühenden, leuchtenden Farben des Sonnenuntergangs im Süden fehlten.

Daß unsere Nachbarn zu angsterfüllt waren, um es länger zu verbergen, daran konnten wir nicht mehr zweifeln. Jetzt, da der Regen vierzehn Tage gedauert hatte, erwogen sie unverhüllt die Flucht, wobei ihre weißen Gesichter mir einen schrecklichen Eindruck machten. Das waren keine Gesichter, sondern Masken der Angst. In unserem Hause wurde ein Kriegsrat gehalten. Jetzt erfuhr ich, worin die Sorge bestand. Der Regen konnte einen Erdrutsch herbeiführen.

Im Himalayagebirge lockert zu viel Regen die Berge. Immer wenn dieser lange seufzende Regen fällt, dunkel und weich wie die Flügel einer Fledermaus, überkommt die Menschen Furcht. Er fällt hernieder, aber statt von den Bergen abzufließen, sickert er ein bis zu ihrem Grund und löst alles Wurzelwerk. Mit rasiermesserscharfen Klauen gräbt und gräbt er, bis Wurzel nach Wurzel zerrissen ist. Dann schiebt der Regen den Berg vorwärts, jeden Tag einen Zoll –. Stellt euch einen ganzen Berg vor, der sich so bewegt. Nach vierzehn Tagen verliert schließlich der Abhang das Gleichgewicht und stürzt wie ein betrunkener Titane, wobei er Männer, Frauen und Kinder wie ebenso viele Zwerge und Würmer unter sich zermalmt.

Obgleich das ganze Dorf zur Flucht riet, blieben meine Tante und ich da. Eine Familie nach der anderen zog fort, bis wir beiden allein waren. Endlich hörte eines Nachts der Regen auf, da begann die erste Bewegung eines Berges. Wir fühlten das Haus erzittern. Dann Stille, totenbleiche mondbeglänzte Stille. Wieder zitterte das Haus. Wieder stach die Stille wie ein Schwert in unser Herz. Dann, statt eines neuen Bebens des Hauses, ein entsetzliches gellendes Geschrei; alle Tiere, Vögel und Donnerschläge vereint konnten nicht ein solches Getöse vollführen. Das Haus schwankte ganz wenig. Aber wir wußten, daß unser Ort verschont geblieben war. Kuri und ich, die auf der oberen Veranda standen, klammerten uns in Angst und Ehrfurcht aneinander, als wir uns ins Haus schleppten. Wie das Atmen eines kleinen Kindes schien die Erde in Erleichterung zu seufzen und senkte sich.

Am nächsten Morgen sahen wir uns draußen um; siehe, eine Höhlung brandgelber Masse war im Osten jenseits unseres Dorfes entstanden; ein kleiner Berg war aufgehoben und weggeschleudert worden, wie ein Kind eine ausgerissene Pflanze fortwirft. Und Gott in seiner unendlichen Gnade hatte unser Dorf unberührt gelassen. Nach einem weiteren Tag kehrten unsere Nachbarn allmählich einer nach dem anderen zurück.


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