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Fünfzehntes Kapitel.
Der Wer-Tiger

Zuhause kamen wir eine Woche vor Baradin Daradin: Bara (groß) din (Tag), Beginn der längeren Tage. oder Weihnachten an. Unterwegs machten wir halt in Fatehpur, jener auf Akbars Befehl im sechzehnten Jahrhundert erbauten Stadt. Ich konnte nicht glauben, daß, weil ein Kaiser sprach: »Baut mir eine Stadt!«, sich – wie die Göttin Schri (Schönheit) aus dem Ozean – dieses Paradies aus Marmor, Granit und Sandstein erhob Die Schri der Hindus ist gleichbedeutend mit der Aphrodite. Diese stieg auf aus dem Schaum des Mittelmeeres vor einer phönizischen Barke, die mit Gold und Edelsteinen handelte. Ebenso erhob sich Schri, die Göttin der Schönheit, des Reichtums und der Tugend, aus den Tiefen des Indischen Ozeans und setzte sich auf den Bug eines Handelsschiffes..

Von Fatehpur gingen wir nach Delhi und dann von Delhi nach Dscheypur. Auch die letztgenannte Stadt wurde auf den Befehl eines Hindukönigs, Dschey Singh, erbaut, der eine Stadt mit geraden Straßen und Häusern von gleicher Höhe begehrte. Da steht sie heute in Radschputana. Elefanten bewegen sich eilig wie Mietskutschen zwischen violetten, purpurnen, rosa und weißen Häusern hin und her. Kamele kommen und gehen, Hunderte zugleich, wie eine lohfarbene, vom Gold des Tagesanbruchs zum Kobalt-Zwielicht des Abends gespannte Schnur.

Jeden Nachmittag machen die jungen Edelleute ihren Spaziergang zwischen Palästen, als wäre ein altes Gemälde zum Leben erwacht. Auf den Dächern der Häuser schimmern Tauben in vielen Farben, wenn der Sonnenuntergang sein märchenhaftes Gold vom Himmel herabschüttet. Rote, weiße, gelbe und purpurne Frauen stehen auf Altanen oder sitzen mit kostbarem Prunk angetan, indes unten auf dem schwärzlichen Weg Gruppen von jungen Männern umhergehen, einige in purpurnen Togen, andere in lang fließender blauer Seide; dicht bei ihnen ein kleiner Trupp in Weiß, gefolgt von einer zahlreichen Menge in Orange, Safran und Grün. Manchmal schritt ein Elefant, beladen mit Knaben und Mädchen, still vorbei, während seine Reiter sangen und schwatzten.

Doch die bezaubernde kurze Dämmerung ist rasch vorüber, und der Wüstenwind wirbelt einen blauen Nebel auf, der wie Weihrauch von Straße zu Straße wallt. Vor ihm fliegen die Tauben von den Hausdächern, die Altanen leeren sich, und die Straßen sind ihres Umzuges beraubt. Das einzige, was seinen Zauberschimmer bewahrt, ist die Farbe der Paläste, die Lustgärten und die Springbrunnen, über denen die blaue Nacht wie ein Vogel schwebt. Wenn ihr jemals nach Dscheypur geht, vergeßt nicht, es zu so vielen Sonnenuntergangsstunden zu betrachten, wie ihr könnt.

Nach einer dort verbrachten Woche machten wir uns auf den Heimweg, und obgleich wir in diesen Monaten viel Schönes gesehen hatten, waren wir beide, meine Tante und ich, froh, den Rauch der Häuser von Mayavati gegen den Himmel aufsteigen zu sehen, an dessen nördlichem Rand die Himalayaberge wie Priester bei ihrer Abendandacht saßen. Als wir näher kamen, hörten wir Frauen bei ihrer Arbeit singen und Männer die letzte Hand an ihr Tagewerk legen. Gerade da, ich weiß nicht wieso, ergriff ein Gefühl der Schwermut mein ganzes Wesen.

Daß man die Trauer des Abends erlebt, ist natürlich, aber ich hatte sie nie zuvor empfunden. Fünfzehn Jahre auf Erden brauchte ich dazu, bis ich eine glückliche Beute der erhebenden und lindernden Schwermut der Abendstunde wurde.

An jenem Abend kam Purohit zu uns, um uns wieder in Mayavati willkommen zu heißen. Unserer indischen Sitte gemäß hatten wir für jeden im Dorf ein Geschenk mitgebracht. Wir gaben dem Priester die illuminierte Handschrift der Ghita, Lied von Gott, unsere Bibel, die wir in Dscheypur erstanden hatten. Sie war so schön, daß der Priester nicht zu sprechen vermochte, als er die schweren Pergamentblätter des Buches umschlug und die Illustrationen auf jeder Seite eingehend betrachtete. Dies war eine der alten, alten Künste Indiens, die Fremde von uns lernten und vor Jahrhunderten hinaustrugen. Nie werde ich die Bilder vergessen, mit denen die Hälfte jeder Seite ausgeschmückt war, schwer von Farben, als seien sie aus roten, gelben und blauen Felsen ausgehauen; doch die zarten Linien, mit denen sie gezeichnet waren, waren dünn wie Sommerfäden und fest wie Stahl. »Welch eine Kunst!« Nachdem er das laut gesagt hatte, fügte der Priester hinzu: »Ihr habt Verdienst erworben.«

Als er uns verlassen hatte, begehrte ich zu wissen, weshalb sich in Indien der Schenker einer Gabe mit dem Gedanken begnügen muß: »Nun, da ich gegeben habe, habe ich Verdienst erworben.« Selten hört man irgendeine Form von »Danke schön« von dem Empfangenden. Später einmal, als ich über dreißig Jahre alt war, dankte mir ein Engländer dafür, daß ich ihm vor einem Elefanten im Dschungel das Leben gerettet hatte. Ich gab ihm zur Antwort: »Ich habe Verdienst erworben.« Da sah er mich an, als rede ich in einer fremden Zunge.

Unseren ersten Morgen in Mayavati verbrachten wir damit, Geschenke in verschiedene Häuser zu tragen. Meine Tante sagte: »Du verstehst, je mehr du weggibst von dem, was du besitzt, um so mehr verlierst du an Selbstsucht. Wer sein Selbst aufgibt, kommt Gott näher, und wer dem Unendlichen dadurch näher ist, daß er Verdienst erwirbt, wird, wenn er stirbt, in einer besseren Welt wiedergeboren werden. Höre nie auf, Verdienst zu erwerben.«

Aber ich sagte Kuri nichts davon, daß ich desto mehr Blasen an den Füßen bekam, je mehr Verdienst ich erwarb, indem ich Geschenke von Haus zu Haus trug.

Obgleich dies Verfahren, an Selbstsucht zu verlieren, meine Füße schmerzen machte, trug ich dennoch Prasad Prasad, soviel wie heiliges Brot, wird vom Priester im Tempel gesegnet. Man kann dann jedem, dem man sein Wohlwollen erweisen will, ein Stück davon bringen., geistiges Geschenk, zu Kalu, dem Krämer, den ich nie leiden mochte. In seinem Hause hörte ich zum erstenmal in meinem Leben von einem Wer-Tiger. Von Kalus Laden aus fand aller Klatsch unserer Gemeinde sein Echo; in der Tat hatte der Krämer einen hervorragenden Sinn für Akustik. Ganz gleich, was an den heimlichen Orten von Mayavati geredet wurde, man hörte in kurzer Zeit ein verstärktes Echo davon aus Kalus Mund.

Während er das Prasad empfing, erzählte er mir von dem Menschentiger. Er kräuselte seine dicken Lippen und begann:

»Du hast mir Prasad gebracht. Und dadurch hast du unendliches Verdienst erworben! Prasad oder Nahrung der Geistigen Vereinigung ist ein besseres Geschenk als andere Dinge. Ha! Du bekamst es in dem Tempel Brahmas (des Schöpfers) in Adschmir? Der Priester segnete diesen Reis und weihte ihn? Gut. Darum ist es richtiges Prasad. Mein ganzes Haus wird davon essen, damit wir unsere Seelen von vielen Sünden reinigen.« Er hielt einen Augenblick inne, während er das Prasad beiseite legte. »Übrigens, hast du gehört, daß Tschamar, der Flickschuster unseres Dorfes, ein Wer-Tiger geworden ist?« Darauf blickte er mich schweigend an.

»Was ist ein Wer-Tiger, Herr Kalu?« fragte ich ihn.

»Weißt du das nicht, o Dschungelmann unseres Dorfes? Ich sehe, daß unser Priester dich nicht alles gelehrt hat. Deine Unwissenheit macht dir Ehre. Sie hat dich demütig gemacht. Sei nicht ungeduldig. Ein Wer-Tiger ist ein Mensch, der in der Nacht ausgeht, auf allen vieren läuft, Tiere tötet und sie roh verzehrt. Man hat Tschamar das die beiden letzten Male, wo Vollmond war, tun sehen.«

»Wer sah ihn?« fragte ich. »Weshalb ging er im Licht des Vollmonds aus?«

»Ha, du bist ein Zweifler. Der Zauber, der einen Mann in einen Tiger verwandelt, kann nur in einer ganz hellen Nacht ausgeübt werden. Ich versichere dir, daß er sich in einen Tiger verwandelt, um Vieh zu töten, dessen Fell er sich am nächsten Tage holt. Ich glaube, er ist ein Wer-Tiger. Deshalb mache ich einen großen Bogen um ihn, wenn ich ihm nach Sonnenuntergang begegne.«

Wenn ich auch das meiste von dem, was der Krämer mir erzählte, nicht glaubte, machte seine Erzählung meiner Neugier doch Appetit. An jenem Tage ging ich aus und berichtete alles dem Priester. Er setzte nicht den geringsten Glauben in ein solches Märchen; denn er argwöhnte, daß irgendeine niedrige und böswillige Seele dieses Gerücht zum Schaden unseres guten Flickschusters aufgebracht habe, lediglich weil in einer Vollmondnacht zwei Ochsen von einem Tiger getötet wurden.

»Aber«, sagte ich, »das Sprichwort schärft uns ein: ›Ein Gerücht so groß wie ein Elefant ist zum mindesten auf einer mausekleinen Tatsache gegründet.‹«

»Schön, was möchtest du in dieser Sache unternehmen?« fragte Purohit. »Möchtest du dem Elefanten den Bauch aufschlitzen, um die kleine Tatsache zu entdecken?«

»Aber gibt es wirklich Wer-Tiger, Herr?«

»Nein«, antwortete er mit vollster Überzeugung. »Gerüchte über Tigermenschen habe ich gehört, aber nie konnte ich feststellen, daß es stimmte. So etwas gibt es nicht, außer in den böswilligen Gehirnen schlechter Leute.«

»Herr, laßt uns die Sache untersuchen«, bat ich ihn.

»So, das ist es also, du bist auf Unterhaltung aus? Nun gut, entrinnen wir der Langenweile, indem wir dieser Sache nachgehen; es mag ergötzlich sein. In der nächsten Vollmondnacht wollen wir Tschamar folgen! Wird das deinen Appetit auf Abenteuer befriedigen?«

Nachdem ich mich vom Priester verabschiedet hatte, ging ich zu Tschamars Haus. Dort gab es nichts Ungewöhnliches! Er arbeitete fleißig in seinem Handwerk. Er war der Flickschuster, Schuhmacher und Gerber für die gesamte Gemeinde. In dem vorderen Hofraum bei seiner Hütte lagen Felle aller Sorten zum Trocknen in der Sonne. Drinnen, in einer kleinen Stube, trocknete er ein Stück Leder in der Absicht, hochrote Pantoffel daraus zu machen. Er summte eine Melodie, wahrend er seine Arbeit tat. Ich setzte mich neben ihn auf den Fußboden und plauderte. Der Ledergeruch ist nie angenehm; dennoch blieb ich so lange, wie für eine allgemeine Beschreibung meiner kürzlichen Reise nötig war. Wahrend er zuhörte und arbeitete, sah er mich hin und wieder an; der große Mund, die Fuchsaugen, das schmale Kinn und die breite Stirn verkündeten, wie ich sie gelegentlich betrachtete, nichts Schlimmes. Dieser Bursche glich nicht im entferntesten einem Tigermenschen, außerdem stand er im Ruf, ein guter Gatte und ein sehr liebevoller Vater zu sein. Trotzdem lagen der Priester und ich in der nächsten Vollmondnacht seinetwegen auf der Lauer, und wir brauchten auch nicht lange zu warten.

Gegen zehn Uhr, als das ganze Dorf schlafen gegangen war, kam Tschamar aus seinem Hause hervor. Er blickte sich sehr aufmerksam nach allen Seiten um. Dann horchte er auf die Stimmen der Nacht, die zahlreich waren. Ungeachtet der schrecklichen Winterkälte zirpten viele Insekten den Mond an. Weit weg rief ein Schakal, was wie immer besagte, daß der Tiger nicht fern war.

Aber nichts schüchterte Tschamar ein. Er machte sich in der Richtung nach dem Dschungel auf den Weg, und wir folgten ihm natürlich, aber in einem beträchtlichen Abstand, dem wir es zu verdanken hatten, daß wir ihn in einer halben Stunde bei einem Dickicht aus den Augen verloren.

Dann hörten wir »hau, hau, hau« fast vor unseren Füßen. Wir gingen auf den Laut zu, da wir aber infolge des dichten Pfianzenwuchses nichts erkennen konnten, erstiegen wir einen Baum, um klar zu sehen. Schau, dort unten, kaum elf Meter von unserem Standort, heulte ein Schakal und zitterte außer sich vor Angst. Im Mondlicht sah er aus wie das weiße Gespenst eines heulenden Hundes, was uns davon überzeugte, daß ein Scher, das heißt Tiger, in der Nahe war. Es ist eine allgemeine Tatsache im Dschungel, daß Schakale, so oft sie Tiger riechen, von der Scher-Angst hypnotisiert werden und wie Dämonen heulen. Das verdrießt die großen Katzen, und da sie einen Schakal nicht fressen, gehen sie entweder aus der Nähe des gellenden Narren weg, oder sie kommen dicht heran und brüllen, was das armselige Tier sofort verstummen und so schnell davonrennen läßt, wie seine Beine es zu tragen vermögen.

Letzteres war genau das, was jetzt geschah. In wenigen Minuten teilten sich die Büsche und jungen Bäumchen hinter dem Heuler. Der Mondschein bebte durch den schweren, zitternden Tau. Wie das strahlende Antlitz einer teuflischen Gottheit wurde der helle Kopf eines Tigers sichtbar. »Gr-r-r-raul«, brüllte er. Wenn es irgendeinen Ton gibt, der einem die Ohren durchbohrt und augenblicklich bis in die innerste Seele dringt, dann ist es das aus voller Kehle ertönende Gebrüll eines Tigers. Es gibt nicht noch einen so zwingenden Ton in der Natur, nicht einmal das Trompeten eines wahnsinnigen Elefanten.

In diesem Augenblick hörte, als sei ein Zauber gebrochen, der Schakal zu zittern auf und sein herzzerreißendes Angstgeschrei brach ab. »Wauhh!« bellte der Tiger ihn noch einmal an. Der jämmerliche Schakal floh so schnell und so sacht, daß nicht einmal eine Pflanze sich rührte, die Richtung anzuzeigen, die er genommen hatte.

Der Tiger bewegte sich vorwärts. Mehr als zur Hälfte war er unseren Blicken ausgesetzt. Es sah aus, als sei er von einem Heiligenschein blitzender Perlen umgeben. Das Mondlicht, das den zitternden und niederfallenden Tau streifte, wob einen unbeschreiblichen Zauber um ihn. Jetzt hob er den Kopf und sah nach unserem Baum hinauf. Seine Augen schienen sich auf die unseren zu heften. Er starrte und starrte; und während er das tat, veränderte er sich. Zoll für Zoll verwandelten sich seine Kiefer und seine Nase. Dann wurden die smaragdgrünen Augen plötzlich rot wie die eines sehr zornigen Mannes. Langsam schob sich die zurückfliehende Stirn vor … Es war geisterhaft, dieser Menschenkopf auf dem Rumpf eines wilden Tieres. Plötzlich öffnete er den Mund und schrie gellend. In diesem fürchterlichen Brüllen eines Raubtiers vernahmen wir den Schrei eines Menschen. Es war der unheilvollste Ton, den man sich vorstellen kann. Er traf mich wie ein Speer des Grausens … Meine Knie zitterten unter mir, und die Zähne klapperten mir im Kopf. Der Priester legte mir den Arm um die Taille, um mich vor dem Hinabfallen zu bewahren, und flüsterte in einem ruhigen, überzeugten Ton: »Es ist nur ein erschrockener Tiger.« Ich wurde von Übelkeit gepackt. Ich schloß die Augen, und zugleich mit dem Augenschließen machte ich eine ungeheure Anstrengung, meine Glieder und Knie zu beherrschen, die angefangen hatten, aufs äußerste nachzugeben. Einen Augenblick später, als ich mich standhafter fühlte, öffnete ich die Augen. Sieh da, auf dem Erdboden war nichts. Das Mondlicht fiel wie Wasserstürze hernieder und die ganze Natur war schwer von Schlaf. Kein Tiger irgendwelcher Art ließ sich sehen oder hören. Hatte ich wirklich geträumt, als ich dort auf dem Baumstamm stand, oder war ich wach? Wir hörten ein weit entferntes Brüllen in der Richtung des Dorfes, und das war alles. Nichts Merkwürdiges begab sich mehr in dieser Nacht. Sobald der Tag heraufdämmerte, brach wie durch eine Eiskruste ein fahler Schein durch eine Wolke im Osten. Wir stiegen von unserem Hochsitz herunter. Ganz wenige Vögel sangen. Eine Eule heulte, ein Marder schrie, und ein wilder Hahn stieß eine kurze abgehackte Erwiderung aus, die übertönt wurde von einem frierenden Pfau, der die Sonne um mehr Wärme ankreischte. Aber von Wärme war nichts zu spüren. Als wir auf den Erdboden kamen, waren wir durchnäßt von Tau, der schwer war wie große schmelzende Hagelkörner. Es war so naß und kalt, daß es von allem, was wir anfaßten, in Schauern herunterregnete. Alles war feucht und unbehaglich. Langsam schlichen wir zu der kahlen Stelle, wo der Schakal gesessen und geschrien hatte. Ja, trotz der Feuchtigkeit lag dort auf dem Gras ein deutlicher Abdruck seiner Schenkel, und da, wo der Tigermensch hervorgekommen war, fanden wir die Fußabdrücke einer großen Katze. Wir hatten das Tier nicht geträumt. Aber der schreckliche Gedanke an den Menschen kam mir in den Sinn. War es unser Flickschuster? Oder – »Ein Tier ist ein Tier, Bruder«, hörte ich den Priester mir zureden. »Laß dich nicht beirren. Es kann nichts anderes sein. Das unirdische Mondlicht betrügt die Phantasie des Menschen, und er meint einen Tigermenschen gesehen zu haben, und das ist der Grund, weshalb wir ihn nur in den vollkommen hellen Nächten zu sehen glauben.«

»Ich kann wetten, Herr,« wandte ich ein, »er wird auch heute nacht herauskommen, wie er es letzte Nacht getan hat.«

»Wir werden sehen«, entschied der Priester.

Jetzt folgten wir der Fährte des Tigers den ganzen Weg bis zum Dorf und an unserem Haus vorbei bis zu unserem eigenen Kuhstall. Sieh da, seine Tür war aufgerissen, und nur hundert Meter von ihr entfernt lag eine getötete Kuh! An ihrem Kopf, der nicht verstümmelt war, erkannte ich meinen Liebling Goma.

Unser übriges Vieh war davongerannt, niemand wußte, wohin. Der jähe Schrecken mußte fürchterlich gewesen sein, als die Tatze des Tigers schwer die Tür des Kuhstalls traf und sie aufriß, nachdem der Riegel unter dem Schlag zerbrochen war. Noch nie hatte bisher ein Tiger das Schloß eines Kuhstalls aufgebrochen, um seinen kostbaren Inhalt zu rauben. Diese Handlung, eine schwere Tür aufzubrechen, ließ es als das Werk eines Menschen erscheinen.

Ein heftiges Schmerzgefühl durchfuhr mich, als ich den Schauplatz untersuchte, besonders, als ich in die glanzlosen Augen der armen Goma starrte. Sie war von klein an mein Freund gewesen – tatsächlich mein Lieblingstier. Da lag sie, tot und verstümmelt.

»Schau, was ist das?« rief der Priester aus. »Wie seltsam; die Fußspuren eines Mannes!«

In der Tat waren da die Abdrücke von den bloßen Füßen eines Mannes, die von der Stelle, wo die Kuh getötet wurde, zum Dschungel führten. Noch seltsamer aber war, daß fast gleichlaufend mit ihnen die Fährte eines Tigers lag, dessen blutbesudelte Krallen wenigstens zwanzig Meter weit Spuren auf dem Boden zurückgelassen hatten.

»Merkwürdig!« dachte der Priester laut; »Tiger sind reinliche Tiere, sie lecken sich vom letzten Flecken ihrer Jagd sauber, bevor sie nach dem Fressen nach Hause gehen. Wie kann es sein, daß dieses Tier wie ein gleichgültiger menschlicher Schlächter Blutspuren auf seiner Fährte hinterläßt? Das muß untersucht werden. Laß uns in den Wald hinausgehen, ehe das ganze Dorf aufwacht. Wir dürfen niemand etwas von unserer Tätigkeit erfahren lassen. Diesen Weg – komm schnell. Hörst du das Dorf? Sie haben entdeckt, daß der Tiger unseren Weiler besucht hat.«

Einen Pfad entlang laufend, der einen Umweg machte, erreichten wir den Tempel, wenige Minuten bevor die Dorfältesten und meine Tante dorthin aufgebrochen waren, um nach dem Priester zu fragen. Sie waren froh, von ihm zu erfahren, daß ich bei ihm gewesen und nicht verloren war.

Sie hielten eine gemeinsame Beratung über die Art des Todes unserer Kuh. Jeder hatte menschliche Fußspuren neben den Tigerspuren gesehen. Der Priester enthüllte ihnen das Geheimnis der beiden Menschenfüße nicht, die ihre Abdrücke auf dem nassen Gras zurückgelassen hatten. Er forderte die Dorfleute auf, sich nicht ungewöhnlich aufgeregt zu zeigen und nicht aus der Wer-Tiger-Legende Nutzen zu ziehen. Er machte es ihnen zur Pflicht, ruhig zu sein: »Wenn wir das Geheimnis dieser ganzen grausamen Angelegenheit durchdringen wollen, dann müssen wir Schweigen bewahren und im Verborgenen arbeiten. Ich schwöre euch, daß in wenigen Tagen die Wahrheit dieser Vorkommnisse wie ein Leichnam auf dem Wasser unserer Nachforschungen treiben wird.«

Ihr fragt vielleicht, was unsere Diener und Arbeiter taten? Sie waren der flüchtenden Herde nachgelaufen, das war der Grund, weshalb niemand zu Hause war, als der Priester und ich am frühen Morgen den Tatort erreicht hatten. Es kostete die armen Burschen den ganzen Vormittag, alle Tiere zusammenzutreiben. Als sie zurückkamen, waren Mensch und Tier gänzlich erschöpft.

Nun gingen wir, wie es in Hindudörfern üblich ist, zum Flickschuster und forderten ihn auf, zu uns zu kommen, um über den Kadaver zu verfügen. Er schlief noch, was unseren Verdacht weckte; wir waren der Ansicht, daß nur ein Mensch, der die ganze Nacht draußen gewesen war, so spät noch schlafen würde. Das war ein Beweis mehr, daß er ein Wer-Tiger war. Er schickte uns aus seinem Schlafzimmer Botschaft, daß er kommen würde, sobald er fertig angezogen sei.

Als er bei uns erschien, lag ich nach der tüchtigen Leistung der Nacht fest eingeschlafen in meinem Bett. Der Priester hatte mir gesagt, ich sollte ordentlich schlafen, denn die kommende Nacht würde vielleicht so hell vom Mond erleuchtet sein, daß sie den Tiger dazu verlockte, sich auf den Weg zu machen.

Den Anweisungen des Priesters folgend, ging ich nach Sonnenuntergang an eine bestimmte Stelle, um das Haus des Flickschusters zu beobachten. Gegen halb zehn gesellte sich Purohit zu mir, ungeachtet eines leichten Rheumatismusanfalles, den er sich die Nacht zuvor geholt hatte. Wir standen Posten und warteten darauf, daß Tschamar auf seine nächtliche Jagd gehen würde. Das Mondlicht war so hell, daß man kaum erkennen konnte, daß nicht Vollmond war.

Sieh da, gegen zehn Uhr begab sich Tschamar wieder auf seinen nächtlichen Beutezug. Diesmal behielten wir ihn im Auge. Wie tief er auch in den Dschungel ging, wir folgten ihm, ohne zu schwanken; anscheinend hegte er keinen Verdacht, denn er blickte nicht zurück. Er schien ganz überzeugt, daß er allein sei. Jetzt machte er in der Mitte des Dschungels kehrt und ging im Bogen in die Richtung unseres Dorfes. Als er eine bestimmte Stelle erreicht hatte, stieg er auf einen Baum und blieb dort. Wir folgten seinem Beispiel und brachten uns auf einem anderen Baum in Sicherheit. Kaum war eine halbe Stunde vergangen, als die gewöhnlichen Tigergeräusche einsetzten; tapp, knacks, tapp; kein Zweifel, eine große Katze schritt über trockenes Laub. Noch ein paar Augenblicke, und unter Tschamars Baum stand ein Tiger. Dann wandte er sich im Bogen dem Dorf zu; an dem Gebrüll des Untiers konnten wir die Richtung erkennen, in der es gegangen war. Wir folgten dem Tiger in der Meinung, daß er ein Menschentiger sei. Ich glaubte, daß der Mann sich durch einen Kunstgriff schlauer Zauberei in ein Tier verwandelt hätte. Deshalb fiel es uns nicht im Traum ein, Tschamars Baum zu beobachten, nachdem der Tiger sich nach dem Dorf aufgemacht hatte. Selbst der alte Priester glaubte jetzt halb an die Verwandlung.

Wir stiegen von unserem Sitz hinunter und gingen zum Tempel, um dort die Nacht zu verbringen. Am nächsten Morgen fehlte, wie wir vorausgesetzt hatten, wieder eine Kuh, diesmal war es die Kalus, des Händlers; seine einzige Kuh war in genau derselben Weise getötet worden wie unsere Goma. Das Überraschendste dabei war, daß auf dem Pfad, der die Spuren des Tigers aufwies, menschliche Fußabdrücke zu erkennen waren.

Kalu, ein geldliebender Kaufmann, verlor über den Tod seiner Kuh die Geduld und beinahe den Verstand; deshalb eilte er zu Tschamars Haus und beschuldigte ihn öffentlich, der Mörder zu sein. »Du bist«, schrie er, »ein Tigermensch! Du bringst bei Nacht die Kühe um, um dir damit den Vorteil zu verschaffen, sie am Tag zu schinden und die Haut zu erschnappen. Du machst Geld auf Kosten der Gemeinde! Du zahlst uns nicht einen Pfennig! Im Gegenteil, wir zahlen dir dafür, daß du den faulenden Kadaver von unserer Tür wegschaffst, und du machst einen doppelten Gewinn! Bei Nacht bist du ein Tigermensch und bei Tage ein Flickschuster! Fluch über dich! Mögen die Götter deinen Magen mit flüssigem Blei verbrennen!«

Der Flickschuster heulte vor Wut. Er nannte den Händler einen Lügner und einen Halsabschneider von einem Geldverleiher. »Mögen die Götter«, jammerte er, »dir den Bauch aufschneiden und dein Inneres mit ewigem Brand füllen. Du lügst. Ich bin kein Scher. Ich bin ein Mensch.«

Aber das Ende des Zwistes war, daß niemand in die Nähe des Schusters ging. Das ganze Dorf tat ihn in die Acht. Dank seines öffentlichen Streites mit dem Händler ging Tschamar jetzt niemals des Nachts aus. Die ganze Gemeinde beobachtete ihn so scharf, daß man ihn nie wieder in die Nähe des Waldes gehen sah. Das war sehr schade; denn es verhinderte uns an der Entdeckung der wahren Natur der Wer-Tiger-Legende. Unter der Voraussetzung, daß er durch irgendeinen Zauber wirklich die Beschaffenheit eines Scher annehmen konnte, war es unklug, ihn zu beleidigen. Es wäre weit besser gewesen, von ihm, koste es was es wolle, das Geheimnis seiner Macht zu lernen.

Ehe der nächste Vollmond gekommen war, hatte Tschamars Ächtung das Leben in unserem Dorf so unerträglich für ihn gemacht, daß er und seine ganze Familie es gegen einen anderen Ort vertauschten. Niemand weiß, wohin er zog und welches Gewerbe er ergriff. Aber kam der Tiger nicht mehr, nachdem Kalu den Flickschuster öffentlich beschuldigt hatte, ein Wer-Tiger zu sein? Nein. Zwei weitere Kühe wurden auf die gleiche Weise getötet wie zuvor, jedoch mit diesem wesentlichen Unterschied: es waren keine menschlichen Fußabdrücke auf der Spur des Tigers. Dann hörte plötzlich auch das auf. Selbst bis auf den heutigen Tag kann niemand jene Wer-Tiger-Angelegenheit zu meiner Zufriedenheit erklären. Dies war der einzige Fall seiner Art, der mir in meinem ganzen Leben begegnete. Seit jener Zeit habe ich immer gehofft, noch einen Ort zu finden, wo so etwas geschehen war, um dem Geheimnis bis zu seiner eigentlichen Quelle nachspüren zu können. Ach! Gott hat mir meine Bitte nie gewährt.


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