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Elftes Kapitel.
Neue Erfahrungen

Mein fünfzehntes Jahr war das bedeutsamste meiner Knabenzeit. Aber von seinem wichtigsten Ereignis will ich euch später erzählen: Hier laßt mich eine unserer merkwürdigen Einrichtungen beschreiben, die des Dharma, die vor vierzig Jahren in Indien gang und gäbe war. Dharma ist ein Verfahren, das aus alten Zeiten überliefert ist, wo die Menschen einander ohne Beweisschriften oder Zeugen Geld liehen. Man kann sich vorstellen, wie schwer es war, die Schulden einzutreiben! Es gab kein Mittel, einen Schuldner zum Zahlen zu bringen, er wünschte es denn selbst; deshalb mußte der Gläubiger seine Zuflucht zu höchst sonderbaren Mitteln nehmen.

Unser nächster Nachbar in Mayavati war Kalu, der Krämer. Er war feist wie ein Ochse und gefährlich wie ein Wiesel. Aus allem, was er anrührte, schlug er Geld, aber je mehr Geld er hatte, um so geiziger wurde er. Er lieh von jedermann Geld und zahlte es erst nach sehr viel Zureden und Zwang zurück. Das Geld, das er sich lieh, benutzte er zu allen Arten von Spekulationen. Zum Beispiel beschwatzte er während der Dürre Purohit, den Priester, einen im übrigen armen Mann, ihm alles zu leihen, was er besaß, dreihundert Rupien 100 Dollar., und damit spekulierte er in Getreide und Futter.

Nach dem Rathayatra oder Dschagannath und den Dschanmastami-Feiern ging der Priester zu Kalu und forderte von ihm die Rückgabe seines Kapitals, aber Kalu starrte ihn aus seinem feisten Gesicht an und sagte: »Ihr irrt Euch, ich schulde Euch kein Geld.«

Purohit entgegnete: »Laßt mich Euren rührigen Geist auffrischen, der die Kunst der Vergeßlichkeit mit solcher Vollkommenheit übt! Letzten Mai, nach dem Neujahr Das Hindujahr beginnt etwa am 15. Mai, gerade wenn die Trockenheit endet und die Regenzeit anfängt., als die Dürre auf ihrem Höhepunkt war und das alte Jahr mit seiner Qual sein Ende erreicht hatte, lieht Ihr Euch in der Dunkelheit unter dem Banyanbaum auf der Gemeindetenne die dreihundert Rupien!«

Kalu kräuselte die Lippen, daß sie dick wurden wie eine Strohmatte, und sagte: »Ich will in meinem Buch nachsehen. Mein Gedächtnis ist schwach. Alle Geschäfte, die ich unternehme, trage ich in mein Buch ein … Seht, da findet sich keinerlei Eintragung nach dem ersten des Baisakh, dem ersten Monat des Jahres!«

Das empörte Purohit so, daß er mit Dharma drohte. »Wenn Ihr mir nicht heute bis zum Sonnenuntergang mein Geld bringt, werde ich von morgen früh an vor Eurer Haustür sitzen und ununterbrochen fasten, bis Ihr mir Eure rechtmäßige Schuld bezahlt habt. Morgen früh um sieben beginne ich mit Dharma, es sei denn, Ihr züchtiget Euer schlechtes Gedächtnis und erinnert Euch Eurer Verschuldung.«

Kalu züchtigte sein Gedächtnis nicht; er mochte sich an keine Schuld erinnern, weil das den Verzicht auf dreihundert kostbare Rupien mit sich gebracht hatte.

Am nächsten Morgen pünktlich um sieben Uhr erschien Purohit vor Kalus Tür und sprach ein kurzes Gebet: »Möge ich so leiden, daß es mich läutert! Möge mein Schmerz so rein sein, daß er den Stein wegwälzt, der den Zugang zu Bruder Kalus Gedächtnis versperrt. Friede und Liebe sei mit allen!«

Er saß da und fastete den ganzen Tag, aber nichts geschah. Kalu fuhr fort in seinem Laden zu kaufen und zu verkaufen, als ob es in Seh- oder Hörweite keinen Priester gäbe.

Den Tag darauf kam der Priester wieder und vollzog Dharma. Doch Kalu schenkte ihm keine Beachtung. Der Priester übergab die Geschäfte des Tempels einem anderen Brahmanen aus einem benachbarten Dorf, um Tag und Nacht vor Kalus Tür zu fasten. Dies zerstreute in jedermanns Sinn alle Zweifel darüber, daß Kalu dem Purohit Geld schulde, denn niemand – so dachten die meisten Leute im Dorf –, der nicht Geld ausgeliehen hätte, würde die Beschwerden solchen Fastens auf sich nehmen.

Der Priester, dessen Aufgabe darin bestand, eines Menschen geistige Entfaltung zu fördern, wünschte nicht nur sein Geld wiederzuerlangen, sondern die Seele des Krämers zu retten, die diese Sünde auf ihrem Weg zu Gott weit zurückwerfen würde. Er fühlte, er mußte sein Dharma absitzen, selbst wenn es ihm das Leben kostete.

Zwei Wochen vergingen, aber Kalu blieb ungerührt. Purohit wurde so schwach, daß er auf einer Bahre zu seiner Marterqual getragen werden mußte.

Jetzt ergriff das ganze Dorf Partei; ein Drittel für Kalu und die übrigen für den Priester. Die ersteren bestanden darauf, daß Kalu die Wahrheit spreche, und daß der Priester als ein unerfahrener Mann Unsinn rede; denn niemand wagte Purohit einer vorsätzlichen Lüge zu zeihen. Die Freunde Purohits hatten Kalu gern in die Acht getan, aber das war unmöglich, denn er war unser einziger Kramer und Wechsler, und so ging, da es kein Mittel gab, Kalu zur Vernunft zu bringen, der Streit fort. Purohit fastete weitere zehn Tage.

Aber am Vormittag des fünfundzwanzigsten Tages wurde die »Singa«, die Tempeltrompete, geblasen. Alle, die ihre Arbeit verlassen konnten, und so viele Knaben, als Erlaubnis dazu erhielten, liefen in den Tempel. Unterwegs sahen wir, daß der Laden des Krämers geschlossen war und kein Priester vor ihm fastete, was unsere Neugier so aufstachelte, daß wir nur um so schneller liefen. Wir gelangten in das obere Stockwerk des Tempels, und dort erblickten wir Kalu, der in Anwesenheit fast des ganzen Dorfes auf dem Boden kauerte, indes Tränentropfen ihm in Bächen die dicken faltigen Wangen hinabliefen. Da er ein vielseitiger Bursche war, weinte und sprach er gleichzeitig:

»O Brüder, wie soll ich euch den wundersamen Traum erzählen, den ich gehabt habe? Gott Selbst in der Gestalt eines Schäfers kam in der vorigen Nacht an mein Bett und zog mich an der Hand. Ich erhob mich im Schlaf, ganz bewußtlos, und folgte Ihm, wohin Er mich führte. Mein göttlicher Führer brachte mich die Treppe hinab in meinen Kassenraum, wo meine Rechnungsbücher aufbewahrt sind, und wies dort auf ein Buch. Wunder aller Wunder! kein Licht brannte, dennoch konnte ich sehen und in dem Buche lesen. Ich schlug die Seiten um, die umzuschlagen Er mich aufforderte, bis, höret und staunet! sich dort unter des Priesters Namen eine Eintragung über dreihundert Rupien fand. Das Buch entfiel meiner Hand. Ich bückte mich nach ihm, und als ich mich aufrichtete und um mich blickte, war mein Begleiter verschwunden. Das weckte mich aus dem Schlaf. War ich überrascht, mich auf den Beinen zu finden statt in meinem Bett? Nein, aber ich war betroffen, das Rechnungsbuch vom vorigen Jahr bei dieser Eintragung aufgeschlagen zu sehen, genau so, wie es in meinem Traum gewesen war. Kommt und lest selbst – lest den Namen des Priesters. Sünder, der ich bin, bin ich gekommen, Vergebung zu erflehen, nicht nur von Purohit, sondern von euch, meine Brüder und Schwestern. Sagt, daß ihr mir verzeiht!«

Wir alle blickten in das vorjährige Kontobuch und sahen auf der vorletzten Seite die Eintragung von Kalus Hand. Er saß vor uns und vergoß Wolkenbrüche von Tranen. Da blieb nichts zu tun, als ihm seine Sünde zu vergeben und sich zu freuen. Der erschöpfte Priester, den man auf einer Bahre zu und von Kalus Haustür getragen hatte, wurde nun die Treppe heraufgebracht. Er hob eine schwache Hand in der Bewegung des Verzeihens, was Kalu so rührte, daß er das Gesicht in den Armen vergrub. Jemand brachte ein Glas Mangosaft, womit der Priester sein Dharma-Fasten brach.

Selbst jetzt könnt ihr in jenen Teilen Indiens, in denen solche Plagen wie gerichtliche Verfahren und Rechtsgelehrte noch selten sind, einen Gläubiger vor der Tür seines Schuldners Dharma sitzen sehen. Nicht nur beim Schuldeneintreiben, auch bei manchen anderen Anlässen vollführen die betrogenen Hindus ähnliche Kasteiungen, um in des Übeltäters Seele das Bewußtsein seiner Schuld zu wecken. Es ist am wirksamsten, wenn es ohne Haß, Mißgunst und Habsucht betrieben wird.


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