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Vierzehntes Kapitel.
Der Tigerbändiger aus dem Zirkus

Bevor es zu schneien anfing, verließen wir unser Haus der Nähe von Ladakh und traten unsere Reise nach Srinagar an, das eine sehr schöne Stadt ist. Das Tal von Kaschmir in der Nähe von Srinagar erscheint wie ein Kelch der Schönheit. Es ist daher kaum ein Wunder, daß Dichter die Hauptstadt Kaschmirs Nagar oder Stadt der Schri – Schönheit – nennen.

Wir kamen dort gerade nach Dasahara oder Neujahr an. Ich muß erklären, woher es kommt, daß wir Hindus mehrere Neujahrstage haben, die jeweils sechs Monate auseinanderliegen. Genau genommen feiert Indien vier Jahresanfänge. Da ist der christliche Kalender, der in der Mitte des Winters beginnt; dann hat der mohammedanische Almanach seine eigene Art, das Jahresende zu bestimmen, und alle Hindus halten zwei Zeitrechnungen aufrecht: Saka und Sambat, jene läßt das Jahr im Frühling beginnen und diese im Herbst. Wir Hindus lieben Feste so sehr, daß wir nicht nur unsere beiden Neujahrstage feiern, sondern uns auch den Christen und Mohammedanern bei der Feier der ihrigen anschließen.

Es war jedoch nach unserem eigenen Dasahara, Herbstneujahr, daß wir in Srinagar ankamen, gerade zur rechten Zeit, um das Dipavali-Fest mitzumachen, das zehn Tage später liegt.

Jedermann weiß, daß die Straßen in der Hauptstadt von Kaschmir zur Hälfte aus Wasserstraßen bestehen, deren Wagen Boote und Barken sind. Vom Rande des Dal-Sees bis in das Herz der Stadt fließen die Ströme aus und ein wie silberne Wege und verlieren sich zwischen hölzernen Hütten und großen Steinhäusern. Es ist sehr verblüffend, mit einem Boot vor einem Haus anzukommen und es bei seiner anderen Tür auf einem Elefanten zu verlassen.

Stellt euch den zwiefachen Glanz der Stadt am Dipavali-Abend vor! Den ganzen Tag hatten die Weber keine Schals gewebt, der Elfenbeinschnitzer hatte seine Werkstatt verlassen, selbst die Hausierer fehlten auf den Straßen und Flüssen. Im Gegensatz zu den meisten von Mohammedanern beherrschten Gebieten Indiens war es hier den Hindufrauen erlaubt, mit unverhülltem Gesicht in der Gesellschaft ihrer männlichen Angehörigen umherzugehen. Den ganzen Tag verbrachte die Stadt in Müßiggang und Vergnügen. Ehe die Sonne unterging, strömte der königliche Zug von Scharen von Elefanten aus den Toren des Palastes. In dem violetten Dämmerlicht schritten sie unter mit goldenen Blättergewinden geschmückten Bogen dahin, feierlich die Rüssel im Gruß gegen die Balkone erhebend, von denen Männer und Frauen in roten, gelben, türkisblauen, safranfarbenen, weißen, purpurnen und bernsteingelben Saris sie grüßten. Auf beiden Seiten der Straßen gab es beturbante Köpfe, Moslems in Grün und Weiß, und Hindus in Lavendel, Gelb, Lila und Ocker. Jetzt kam, den Maharadscha von Kaschmir auf dem Rücken tragend, der letzte Elefant in Sicht: die Stoßzähne in goldenen Scheiden, den Kopf mit Perlen bedeckt und Rücken und Flanken eingehüllt in eine goldene Decke, an der das Abendlicht herunterfloß. Eine Kavalkade weißer Pferde mit weißgekleideten Reitern folgte dem Zug. Sobald sie vorübergeritten waren und bevor es völlig dunkel wurde, bewegte sich die Menge dem Wasser zu. Dort warteten, mit künstlichen Blumen und mit Fahnen geschmückt, Barken und Boote. Als ihre Eigentümer ihre Plätze eingenommen hatten, glitten alle Barken auf das dunkle Wasser hinaus und zündeten ihre Lampen an, und die Bootsleute begannen zu singen.

Unsere eigenen Bootsleute sangen nicht nur, sie hatten auch Schnüre winziger Glöckchen um die Ruder befestigt; deshalb goß jeder ihrer Schläge Musik auf das Wasser. So trieben wir Stunde auf Stunde unter dem Sternenhimmel dahin.

Am nächsten Tag trafen wir auf einem der öffentlichen Plätze der Stadt den Zirkus, den wir vor sechs Wochen in Delhi gesehen hatten. Neugierig zu erfahren, was aus dem Tigerbändiger geworden wäre, erkundigten wir uns nach ihm. Ich muß gestehen, daß ich mehr als überrascht war, ihn am Nachmittag eine Vorführung geben zu sehen.

Nachdem die Vorstellung zu Ende war, trafen wir mit ihm zusammen und forderten ihn auf, eine Bootfahrt mit uns zu machen. Damit begann etwas Entscheidendes in meinem Leben, wenn ich das auch im Augenblick noch nicht voraussah. Im Boot erzählte der Tigerbändiger uns seine Geschichte. Er hatte ein langes, pferdeähnliches Gesicht, dessen Ausdruck nie wechselte, ganz gleich wovon er sprach. Es war ihm keinerlei Schönheit eigen, wenn sie nicht in seinen Augen lag, die, gütig und schwermütig, auch denen eines Pferdes glichen. Irgendwie argwöhnte er sofort, daß ich ihn betrachtete und seinen Charakter abschätzte. Und er sagte zu meiner größten Verwirrung: »Mein junger Examinator, weißt du nicht, daß ein Mensch, der jahrelang mit Tieren umgeht, schließlich anfängt, ihnen ähnlich zu sehen? Ich habe von früher Kindheit an unter Pferden, Kamelen, Leoparden und Tigern gelebt. Mein Vater war ein Santal-Häuptling, den der Radscha der Zentralprovinz liebte. Obgleich wir frei waren von jedem Makel der Zivilisation, pflegte der Radscha doch, weil er uns gern mochte, viele seiner noch nicht zugerittenen Pferde bei uns im Dschungel zu lassen, damit wir sie zuritten und dressierten. Ich glaube, ich lernte unter den Bauch von Rita, der arabischen Stute, zu kriechen, lange ehe ich auf dem Fußboden unserer Behausung herumkrabbelte. Siehst du die Narbe auf meinem Nacken? Dorthin trat Ritas kleines Fohlen, als ich achtzehn Monate alt war. Ich kroch unter seiner Mutter herum, als der vierzehn Tage alte Bursche herbeikam, sich Milch zu holen. Glücklicherweise riß er mir mit seinem Huf nur die Haut auf, sonst säße ich nicht hier und erzählte davon.

Ich glaube, ich saß auf Rita am allerersten Tage, an dem meine Mutter wünschte, daß ich mich aufsetzte. Ich glaube, ich bin auf einem Pferderücken geboren. Noch jetzt kann ich auf dem wildesten Pferd sitzen, ganz gleich in welcher Stellung – mit dem Gesicht nach dem Schwanz oder nach dem Kopf – ohne herunterzufallen.

Damals beschäftigte sich unsere Familie damit, junge Leoparden für den Dschadu Ghor (zoologischen Garten) zu fangen und aufzuziehen. Ich habe Leoparden so gekannt, wie du junge Kätzchen kennst. Als ich zwanzig war, stieß mein Vater mich aus dem Hause, wie ein Vogel sein flügges Junges verstößt. Mit meinen zwei Bären, die ich gefangen und abgerichtet hatte, wandte ich mich der nächsten Stadt zu. Ich zeigte den Leuten Bärentänze: › Thoomook, Thoomook, Nachre bhakul – Tanze, tanze, o mein Bär‹. Dann geriet ich in einer Stadt, in der ich Vorführungen gab, in einen Zirkus. Sein Besitzer verwendete mich dazu, in seiner eigenen Gesellschaft aufzutreten. So wurde ich, statt ganz für mich Bären zu führen, zum Teil einer großen Schaustellung. Ein Jahr darauf starb eines Tages unser Tigervorführer. Ich mußte mit seinen Tieren und mit meinen eigenen in zwei verschiedenen Nummern auftreten. Später verkaufte ich meine Bären und trat nur noch mit den Katzen auf. Ich bin jetzt nahezu zwanzig Jahre mit diesen Katzen zusammen. Sie werden alt und sehr reizbar.«

Ein paar Augenblicke, nachdem er zu sprechen aufgehört hatte, fragte ich ihn: »Habt Ihr Eure Furcht vor jenen Tigern überwunden, seit wir Euch zuletzt sahen?«

»Du hast ein Gedächtnis wie ein Wucherer, mein Sohn«, brach er spöttisch aus. »Um dir die Wahrheit zu sagen: Ich muß dir dafür danken, daß du mir an jenem Tage geraten hast, mich von der Furcht zu reinigen. Nachdem du mich gewarnt hattest, tat ich, was ich früher hatte tun sollen: ich hörte auf zu trinken und wusch meinen Tigern die Augen aus.«

»Wir können nicht folgen!« rief meine Tante.

»Der Grund, aus dem meine Tiger mich haßten, war, daß ich mich dem Trunk ergeben hatte. Der Geruch von Grog reizte sie, und ich meinerseits fing an mich zu fürchten. Je mehr ich mich fürchtete, um so mehr trank ich. Als du mich das erstemal sahst, lebte ich von Alkohol; aber sobald du mich gewarnt hattest, hörte ich auf zu trinken. Ich sprengte das Gerücht aus, ich sei krank. Für einen Monat ging ich mit meinen Tieren fort zu meinen Angehörigen in den Wäldern. Dort entdeckten wir, daß einer der Tiger am Erblinden war; seine Augen taten ihm furchtbar weh, so oft er ins Licht sah. Armer Bursche, er haßte es, bei Tag oder Nacht Vorführungen zu geben. Wir alle suchten und fanden endlich das Augenkraut, dessen Saft die Häutchen und die Schmerzen von den Augen der Menschen und Tiere wegwäscht. In vierzehn Tagen war er von seinen Qualen befreit und knurrte nie mehr jeden an, der in seine Nähe kam. – Mein Sohn, weshalb wirst du nicht Tierbändiger?« fragte er mich geradeheraus. Die Frage überraschte mich. »Du verstehst dich auf Tiere. Warum nicht für sie leben und sie lieben? Unsere stummen Brüder sind gezwungen, mit zu vielen Narren und grausamen Leuten zusammen zu leben. Komm, schließe dich den einsichtigen Reihen der Beschützer der Tiere an«, schloß er.

Ehe wir ihm Lebewohl sagten, gab er mir seine ständige Adresse: »Eines Tages hast du vielleicht Lust, zu mir zu kommen. Hebe die Adresse auf.« Mit diesen Worten stieg er aus unserem Boot und verschwand in die Stadt Srinagar.

Am nächsten Tag verließen wir Kaschmir, um nach Rawal Pindi und nach Hause zu reisen.


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