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Da eine Geschichte einen Anfang haben muß wie der Faden bei der Baumwolle in des Spinners Hand, laßt mich zuerst von meiner Familie und meinem Heim sprechen.
Ich wurde sozusagen als Waise geboren. Außer einer alten Tante, die mich in meiner frühen Kindheit erzog, konnte ich niemand mein eigen nennen. Man hat mir erzählt, daß meine Eltern beide während einer Typhusepidemie starben, als ich wenige Monate alt war. Damals nahm Kuri, die alte verwitwete Schwester meines Vaters, mich zu sich. Sie zog mich in meines Vaters Hause, im Dorf Mayavati auf.
Meine früheste Erinnerung an unser Dorf und Heim hängt mit einem unerfreulichen Vorfall zusammen. Eines späten Nachmittags waren wir zu einer Gemeindeversammlung gegangen, um über einige Angelegenheiten zu beraten, die das Dorf beunruhigten. Wann immer ein Verbrechen, ein Streit oder eine verdrießliche Begebenheit vorkam, wurde der Pandschayat Pandscha: Angelsächsische volksberatende Versammlung. Pandschajat: pandscha (fünf), ayat (bejahrte Volksvertreter), Hindu-Rat der Fünf. des Dorfes einberufen, um Gegenmaßnahmen zu überlegen und vorzuschlagen. An diesem besonderen Nachmittag stand ein Verbrechen zur Verhandlung, deshalb waren die Vertreter des Dorfes zusammenberufen worden. Da meine Tante Kuri zu den ältesten Bürgern zählte und außerdem das Haupt unseres Hauses war, hatte sie auf einen Sitz im Pandschayat Anspruch. Und weil an jenem Nachmittag alle Diener fortgegangen waren und sie mich nicht allein zu Hause lassen konnte, nahm sie mich mit. Damals war ich wenig über fünf Jahre alt.
Die Versammlung wurde auf der Gemeindetenne abgehalten. Jedes Dorf in Indien hat eine gemeinsame Tenne, auf der in der Erntezeit das Getreide der Gemeinde gedroschen wird. Sie wird als mehr oder weniger heilig betrachtet; denn hier wird das Korn von der Spreu geschieden, und Nahrung, das Weihegeschenk der Mutter Erde, wird Männern und Frauen, ihren Erstgeborenen, zuteil. Der Boden der Tenne besteht aus einer mächtigen Steinplatte von ungefähr zehn Fuß Durchmesser. In ihrer Mitte befindet sich ein langes, tiefes Loch. Dorthinein treibt man zur Erntezeit einen Bambuspfahl, grün wie ein Papagei. An ihm wird eine etwa sechs Fuß lange geglättete Bambusstange befestigt, die als Joch dient. Dann werden zwei oder drei Ochsen darunter gespannt. Nachdem alles vorbereitet ist, wird die frisch gemähte Ernte auf den Boden gestreut, und die Ochsen gehen immerzu im Kreis, wobei sie mit ihren Tritten den Reis und Weizen vom Halm trennen. Später sondern sie auf die gleiche Weise das Korn von der Spreu. Arbeiten die Lasttiere nicht, so besorgen statt dessen Menschen den Drusch mit den altmodischen Dreschflegeln.
Doch ich will zu meiner Geschichte zurückkehren. Es war ein Frühlingsnachmittag, von dem ich sprach. Die Tenne war den ganzen Winter hindurch nicht benützt worden. In dem Loch in der Mitte stak kein Bambuspfahl, und wie wir dicht um es herumsaßen, lag es da und starrte uns an wie das böse Auge eines blinden Ungeheuers.
Da der Sonnenuntergang nahe war, eröffnete Purohit, unser Dorfpriester, die Versammlung mit dem alten Gebet:
»Möge Einsicht unsere Bemühungen durchdringen.
Mögen wir niemals streiten.
Möge Gott Wohlgefallen an uns finden.«
Hierauf folgte eine kurze Meditation. Ich, der zum Meditieren noch zu jung war, betrachtete die Gesichter des halben Dutzends alter Leute rings um mich. Mit Ausnahme von Kuri, meiner Tante, waren es lauter Männer, alle sehr betagt und würdig. Sie aber, das Haupt unseres Hauses, schien, obwohl sie sogar älter war als die Männer, jünger und kräftiger. Nun blickte ich hinauf in das Geäst des heiligen Feigenbaumes, unter dem wir saßen. Ein starker Ast breitete seine Zweige wie einen Baldachin über uns; das Licht des Sonnenunterganges rann in scharlachroten Adern an ihm entlang. Weit weg gurrte eine Turteltaube, und Mauersegler flogen zwitschernd durch den Himmel. Hoch über ihnen, nach Norden fliegend, zogen Reiher – eine greifbare Spur im ungreifbaren Blau. Ich hätte gern gewußt, wie hoch sie waren – doppelt so hoch wie ein Berg, oder dreimal?
Von ich weiß nicht welcher Neugier getrieben, senkte ich wieder den Blick, um die Gesichter der Menschen um mich her zu durchforschen; da ich aber merkte, daß ihre Meditation beendet war, wandte ich die Augen ab und heftete sie auf das Loch in der Tenne. Bald kam es mir so vor, als ob sich dort etwas bewegte. Wie schwarzes Wasser stieg es über den Rand. Im selben Augenblick erkannte ich es – der Kopf einer Kobra! Ich schrie: »Schlange, Schlange!« Die Versammlung, die gerade mit ihrer Meditation fertig war, wurde von einem so jähen Schrecken erfaßt, daß die meisten, ehe sie wußten, was sie taten, aufsprangen und wegrannten. Wenige dachten daran, daß es gefährlich ist, vor einer aufgescheuchten Giftschlange davonzulaufen. Sie hatte schon den Kopf in die Höhe gereckt und schwankte von einer Seite zur anderen, wobei ihre Zunge eilig die Luft leckte. Sie war in meiner nächsten Nähe. Meine Tante, die alles mit einem Blick erfaßt hatte, und der alte Priester waren die beiden einzigen des Ausschusses, die nicht geflohen waren. »Sitz still wie ein Stein«, befahl meine Tante. Das war nicht leicht für einen fünfjährigen Burschen, aber ich tat mein möglichstes.
Ihr wißt, weshalb man sich vor einer Schlange nicht bewegen soll. Ihre Augen sitzen da, wo beim Menschen die Ohren sind – an den Seiten des Kopfes, und sie kann sie nicht so auf einen Punkt einstellen, wie wir unsere Augen einstellen. Wenn eine Schlange den Kopf hebt, kann sie etwas, das sich bewegt, sehen; befindet man sich also einer gereizten Schlange gegenüber, so bleibt man am besten regungslos. Ich machte es so. Aber ein erschrockenes Tier erholt sich nicht schnell. Die Natter vor mir bildete keine Ausnahme. Sie fuhr fort, von einer Seite nach der anderen zu schwanken und ihre Zunge wie das Ende eines Riemens durch die Luft zu schnellen.
Der Priester sagte zu meiner Tante: »Mein Rohrstock liegt zwei Fuß hinter mir. Wenn ich den erreiche, kann ich sie niederschlagen. Ich will ganz langsam rückwärts auf ihn zugehen, aber verhaltet ihr euch derweil still wie Grabsteine.«
Ich konnte hören, wie er sich bewegte, so leise, wie ein Mann ein Gewand von seinem Körper streift. Aber gerade als er seinen Stock erreicht und ihn ergriffen hatte, schoß die Schlange vorwärts wie ein schwarzer Blitz und grub ihre Zähne in Kuris Fuß. Ich schrie vor Schreck, während der Priester wieder und wieder mit seinem Stock nach dem scheußlichen Gesellen hieb. Endlich erschlug er ihn. Meine Tante, die unbeweglich dagestanden hatte, setzte sich plötzlich nieder, als sei sie dem Tode nah. Der Priester riß seine Tunika auf und brachte ein Messer zum Vorschein. Geschwind schnitt er ihr den kleinen Zeh ab, in dessen Spitze die Schlange gebissen hatte. Heftig fing Blut zu fließen an. Dann legte er den Mund an die verwundete Stelle, sog einen Mundvoll Blut heraus und spie es von sich. Nie hatte ich solche Geistesgegenwart gesehen wie die dieses Priesters. Nun riß er ein ganz kleines Stück von seiner Tunika ab und verband damit Kuris Fuß. Inzwischen hatte sich das ganze Dorf mit Laternen, Stangen und Mistgabeln um uns versammelt. Die Götter allein mochten wissen, was sie mit den Mistgabeln anfangen wollten.
An diesem Abend brachten wir meine Tante, nachdem ihre Wunde von dem Dorfarzt ausgebrannt worden war, in unserem Hause zu Bett. Den nächsten Tag hatte sie leichtes Fieber, das war alles. Ohne des Priesters geschickte Hilfe wäre sie binnen wenigen Stunden tot gewesen.
Nach diesem gemeinsamen Abenteuer fing der Priester an, mir seine Aufmerksamkeit zuzuwenden. Er wurde mein erster Lehrer, und ohne ihn würde ich nicht halb so viel von den Geheimnissen des Dschungels wissen.