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Achtes Kapitel.
Die Menschen und die Dürre

Die Hitze fuhr fort von Tag zu Tag zuzunehmen. Unser Fluß Avati trocknete rasch aus und wurde so schmal, daß er nicht breit genug war für »den Sprung eines Knaben«. Dschungeltiere liefen am frühen Morgen und am späten Nachmittag an unserem Dorf vorüber, völlig unbekümmert um die Gegenwart der Menschen und aller Schmerzen und Wunden vergessend, die sie sich gegenseitig zugefügt hatten. Leoparden konnte man ein paar hundert Meter vor einer Antilopenherde einhergehen sehen. Wildschweine und Wölfe führten einander auf ihrer Reise nach Osten, als seien sie Glieder der gleichen Familie. Hin und wieder hielten Büffel ihre Mittagsruhe auf der Dorftenne unter dem kühlenden Dach des Banyanbaumes. Es ist allgemein bekannt, daß verschiedene Tierarten angesichts einer gemeinsamen Gefahr so handeln, als seien sie Angehörige der gleichen Familie. Ob Waldbrand, Überschwemmung oder Dürre, sie bieten ihm nicht einzeln, sondern als Gruppe Trotz. Nicht nur tun sich Elefanten mit den fliehenden Wieseln zusammen, sondern Panther helfen den wilden Büffeln, und Reiher zeigen Sperlingen, auf die sie in gewöhnlichen Zeiten Jagd machen, den Weg.

Doch jetzt wollen wir uns den Geschicken der Menschen unter der harten Hand der Dürre zuwenden. Die Tiere hatten weder Heim noch Habe, deshalb war es für sie leicht, um des Futters willen auszuwandern. Aber der Mensch, an seinen Acker gefesselt und an seine Werkstatt gebunden, wie vermöchte er einen allgemeinen Auszug zu bewerkstelligen? Wer unter normalen Verhältnissen am gesichertsten schien, war jetzt unter der Last seiner zahlreichen Besitztümer und dem Gifthauch der Hitze am hilflosesten. Er konnte nicht fortgehen und konnte auch nicht bleiben, um der Zerstörung durch die Witterung zuzusehen.

Nach sechs Wochen sah ein Teil unseres Viehs wie Gerippe aus. Pferde, die, ehe die Hitze einsetzte, um die Wette liefen, schleppten jetzt ihre abgezehrten Körper kraftlos von Weide zu Weide, wo sie auf einer weiten Fläche aus Sand und braunen, toten, harten Stoppeln nach vereinzelten Grashalmen suchten. Jeden Tag ging die Sonne als ein feuriger Ball auf und versank wie eine glühende blutrote Scheibe.

Menschen hörten langsam auf menschlich zu sein. Die rasch austrocknende Wasserrinne des Avati enthielt Wasser genug für uns, daß wir es becherweise schöpfen und die Krüge des Dorfes damit füllen konnten. Man brauchte viel Zeit, um ein paar Gallonen Trinkwasser zu schöpfen. Was das Waschen anlangt – das kam gar nicht in Frage.

Unser eigener Hof war am härtesten getroffen; denn er lag am weitesten vom Fluß entfernt und erwies sich als am schwierigsten zu versorgen. Deshalb ließen wir unser Vieh frei umherlaufen. Den ganzen Tag von unserem Stier, dem stärksten des Dorfes, geführt, lief es, wohin es mochte. Unser Tagelöhner aß an unserem Tisch und teilte einmal täglich unseren Curryreis mit uns. Als Getränk waren jedem zwei Glas Wasser bewilligt – das war alles. Als stärkster Eindruck senkte sich in meine Seele, daß, während die Tiere des Dschungels in einer festzusammengefügten, wohldisziplinierten Schar vorgingen, die zivilisierten Menschen das Gegenteil taten. Nach Wochen gemeinsamer Bemühungen, denen es nicht gelang, unser Dorf aus seiner mißlichen Lage zu ziehen, fing jede Familie an, ohne Rücksicht auf ihren Nachbarn zu handeln. Das beschwor natürlich Unheil herauf. So wanderten zum Beispiel unsere Kühe in eine Richtung und die unseres Nachbarn in eine andere, und wilde Tiere, die zufällig an unserem Dorf vorüberkamen, fingen an Jagd auf sie zu machen. Hätten alle Hirten ihr Vieh auf der gleichen Stelle laufen lassen und wären beieinander geblieben, so hätten sie Alarm schlagen und die Räuber verscheuchen können. Aber ein einzelner Hirt, der unter einem Baum lag, vermochte nicht einmal einen Fuchs zu schrecken, der seit Wochen hungrig war. Es war eine seltsame Tatsache: Die ausziehenden Raubtiere fügten ihren ungezähmten Mitflüchtlingen selten ein Leid zu, wo immer sie aber eine Kuh, ein Pferd oder einen Esel trafen, die mit dem Geruch des Haustieres behaftet waren, töteten sie sie ohne Zögern. Das Schreckliche dabei war der Mangel an Geschicklichkeit und Initiative auf seiten der gezähmten Lasttiere. Gewöhnt an die Sicherheit des Dorfes und daran, vom Menschen geführt und angetrieben zu werden, waren sie nicht so fähig und selbstvertrauend wie wilde Rinder oder ungezähmte Nilgais. Die Reichweite ihres Nasensinnes, wie wir es nennen, war gering; sie konnten einen nahenden Tiger auf eine nicht halb so große Entfernung riechen wie die, aus der die Nase einer durchschnittlichen wilden Kuh ihn ausmachen konnte. Sie waren durch die Zivilisation verdorben. Alle ihre Sinne waren stumpf geworden.

 

Eines Tages brachte ich an Stelle unseres Tagelöhners selbst unsere Kühe etwa drei Meilen stromaufwärts auf die Weide, wo ein großer See lag, in den der Fluß einmündete. Wir brachen gegen vier Uhr morgens auf, um an unser Ziel zu gelangen, bevor die Hitze des Tages übermäßig wurde. Meine sich schwerfällig fortbewegende Herde kam nicht zu spät dort an. Die Sonne war schon aufgegangen und machte die ganze Gegend vor Trockenheit bersten. Man konnte fast hören, wie die geschlossenen Lippen der Erde beständig von den Strahlen der Sonne ausgetrocknet wurden, bis sie endlich, unfähig diese Qual länger zu ertragen, sich krachend öffneten. Kein Menschenmund vermöchte so viel Schmerz auszudrücken. Jene weit geöffneten, furchtbar verzerrten Lippen der Mutter Erde werde ich, solange ich lebe, niemals von den Tafeln meiner Erinnerung auslöschen können. Die Zeichen der Qual vermehrten sich, als wir uns dem Seeufer näherten. Ach, es war mehr Ufer als See. In einem von Unkraut überwucherten, ausgedörrten, weiten Schlammkessel, der etwa neunhundert Meter breit war, lag ein ungefähr zweihundert Meter langer Wasserstreifen von hundert Meter Durchmesser. Aber es gab dort, den Göttern sei Dank, abgesehen von dem, was wilde Elefanten und Büffel auf dem Durchzug gefressen hatten, eine Menge Lotos und Lilienstengel für das Vieh. Meine Kühe fielen darüber her wie Heuschrecken über ein üppiges Kornfeld.

Gegen drei Uhr nachmittags machten wir uns auf den Heimweg, in der Hoffnung, unseren Marsch in drei Stunden zu beenden.

Kurz vor Sonnenuntergang wurde die Herde von einem jungen Leoparden beschlichen. Aber nur der große Stier, der sie anführte, merkte es. Lange vor meinen bejammernswerten Tieren konnte ich das Nahen des Leoparden wahrnehmen. Ich sah etwas, das auf einem ein paar hundert Fuß entfernten, mit unserem Wege gleichlaufenden Pfad, bald vor, bald zurück, beständig Staub aufwirbelte. Der Boden war dort, wo es sich bewegte, so staubig, daß selbst der Tritt einer Katze eine Wand von Staub hinter sich aufsteigen ließ. Das Vorwärts- und Rückwartsziehen jenes Staubschleiers überzeugte mich davon, daß es nichts anderes sein konnte; denn ein Mensch wäre nur in einer Richtung gegangen und nicht auf dem gleichen Wege vor und zurück. Ich trieb mein Vieh darauf zu, denn ich war sicher, daß ihre Nasen auf ein paar Meter Entfernung den Feind wittern würden. Aber ihre Nüstern meldeten ihnen nichts, und als der Leopard uns kommen sah, verschwand er in das nahe Gehölz, oder er hatte sich vielleicht dicht an den Boden gekauert. Wir gingen weiter und weiter, und noch immer war kein Anzeichen von irgendeiner Katze vorhanden, aber plötzlich brüllte die ganze Herde auf, und alle zugleich blieben stehen wie eine einzige Kuh. Endlich hatten sie den Geruch seiner Anwesenheit wahrgenommen, und die Herde ging geschlossen auf ihn los. Doch er war so hungrig, daß er trotzdem auf sie zulief und sie angriff. Ein Strahl grünlichen Goldes stieg in die Luft, wurde dunkel wie eine schwarze Perle und fiel nieder … Aber meine Tiere rannten schon davon. Hätten sie ihm bloß gemeinsam die Stirn geboten! Der Leopard fiel auf den Boden. Im aufsteigenden Staub sah ich eine pfeilschnelle Kugel aus stumpfem Gold an mir vorüberstürzen, dem Gedonner der stiebenden Hufe folgend. Dann hörte ich ein gellendes Heulen, und das wurde wieder von einem Knurren übertönt.

Jetzt war die Reihe zu laufen an mir; denn ich mußte den Staubwall ausnutzen, um, bevor er zusammensank, aus der Nachbarschaft des zornigen Leoparden fortzugelangen. Aber ich war kaum weit gekommen, als ich ein fürchterliches Brüllen hörte, wie wenn ein Dutzend Stiere gleichzeitig brüllten, dann einen durchdringenden Schmerzensschrei des Leoparden. Mehr Staub stieg auf, blendete mich und verbarg die Kämpfenden meinen Blicken. Ich brauchte jedoch nicht lange zu warten; denn an mir vorüber stürzte ein rasender Stier, die Flanken lauter Blut und den Kopf von einem roten Schein umgeben. Mit einem erneuten Triumphgeheul fiel er zwölf Meter von mir entfernt nieder. Wiederum verbarg der Staub ihn wie ein Wall vor meinen Blicken.

Als jene Wolke sich gelegt hatte, ging ich zu dem Leoparden hin; er lag im Sterben, und seine granatroten Augen flehten mich an, ihn von seinem Elend zu erlösen. Der Stier hatte ihn aufgeschlitzt, und langsam erlosch das Leben in seinen Augen. Ich wandte mich wieder dem Stier zu. Sein Höcker, sein Hals und seine Nase waren zerfetzt. Er war sofort verendet. Schon schwärmten Fliegen, von denen man in jenen Tagen der Dürre sehr wenige gesehen hatte, wie aus dem Nichts über ihn her.

Als ich nach Hause eilte, um festzustellen, was aus unserem übrigen Vieh geworden war, staunte ich über die Raserei unseres Bullen, der seit Tagen schlecht ernährt gewesen war. Ich versuchte mir vorzustellen, was sich zugetragen hatte. Unser Preis-Stier, der Vater der kleinen Goma, mußte dem hungrigen Leoparden in der Staubwolke entgegengetreten sein, und infolge des dichten Staubes hatte der Leopard sein Ziel verfehlt. Gleichwohl hatte er zugeschnappt und die Halsader des Stiers verhängnisvoll geritzt, als dieser ihn mit seinen Hörnern durchbohrte, und als er auf seinem Rücken lag, hatte er in seiner Verzweiflung in die Luft gekrallt, wobei er von ungefähr die Nüstern des Stiers zerfleischte.

Indem ich so überlegte, erreichte ich mein Haus und fand, daß alle Tiere außer dem einen wohlbehalten in den Stall gelangt waren. Dann berichtete ich meiner Tante, was vorgefallen war, und in ihrer Freude, mich unversehrt und lebendig zu Hause zu sehen, vergaß sie ihren Kummer über den tapferen Stier, der seinen Leib hingegeben hatte, um uns alle zu retten.

An diesem Abend ging ich zu einer Zusammenkunft sämtlicher Dorfeinwohner im Tempel unter der Leitung Purohits. Die ganze Gemeinde war von panischem Schrecken erfüllt. Hunger und Feuersbrünste wurden von jedem Sprecher vorausgesagt. Und da allein Regen, und in diesem Falle sehr starker Regen, ein gräßliches Unheil abwenden konnte, forderte man den Priester dringend auf, einen Tag des Gebets und des Opfers anzuordnen.

Als die Reihe zu sprechen an meine Tante kam, sagte sie: »O ehrenwerte Versammelte, seht ihr nicht, daß wir unrein sind in unseren Gedanken und unserer Rede? Seht ihr nicht, daß unsere Sinne angsterfüllt sind, unsere Herzen schwer von Argwohn und unsere Seelen unverankert? Weshalb sind wir so ruder- und steuerlos? Weil wir es zugelassen haben, daß wir uns fürchten. Darum muß ich bitten, daß wir so lange beten und fasten, wie es uns möglich ist, damit wir unsere Gedanken und Gefühle läutern und unser Dasein von allen Schlacken reinigen. Wenn wir äußerste Demut erlangen, sind wir gewiß, den Unendlichen zu uns herabzurufen. Laßt uns deshalb so demütig sein, daß wir seine Segnungen auf uns zu ziehen vermögen, auf daß der leere Kelch gefüllt werde.« Eine Pause folgte. Sichtlich war die ehrenwerte Versammlung derselben Ansicht wie meine Tante.

Schließlich faßte der Priester die Erwägungen des Abends zusammen: »Das Wasser, das ruhig ist, spiegelt den vollen Mond. Aber wenn der Wind weht in der Nacht, ist die Oberfläche des Sees zerrissen und zerfurcht, und statt des einen Mondes sehen die Menschen tausend silberne Bruchstücke im Wasser und wissen nicht, ob sie ein Blendwerk erblicken oder etwas Wirkliches. Dem Weiher gleich ist das Menschenherz; wenn es zerfurcht ist von Angst und ausgedörrt von Argwohn, kann es Gott nicht Sein vollkommenes Bild zurückgeben, wenn Er hineinsieht. Einer Seele Fähigkeit, zu geben, begrenzt ihr Vermögen, zu empfangen. Deshalb, o meine Brüder, gehet heim und betet! Fastet, solange ihr vermögt, aber betet, bis der sengende Atem der Hingabe austrocknet den Sumpf der Angst. Schauet Gott in allen Dingen mit dem Auge eures Geistes, bis Gottes Erbarmen aus ihm hervorbricht. Hari Om, tat sat Om!«

Die Versammelten saßen eine Weile in schweigendem Nachsinnen über die Botschaft des Priesters und gingen dann still nach Hause. Die Nacht war sternenhell, und der Himmel war hart und gnadenlos wie polierter Stahl. Nirgends eine Wolke – nicht einmal eine so kleine wie ein Kolibri. Kuri sprach zu sich: »Da ist nicht der geringste Schatten eines Anzeichens, daß es regnen könnte. Der Himmel weiß einfach nicht, wo er eine Wolke hernehmen soll. – Mein Sohn, kannst du vierundzwanzig Stunden fasten?«

Ich, der ich mich nicht auf eine rasche Antwort vorbereitet hatte, erwiderte lahm: »Vierundzwanzig Stunden?«

»Ja, jeder muß ein Opfer bringen«, entgegnete sie. »Das beste Opfer ist, auf das Stillen unseres Hungers zu verzichten. Keine Speise, kein Trank, keine Furcht, kein Leid. Deine Begierde und dein Geist werden beide geläutert werden. Nicht an Speise denken, nicht an Hungersnot denken, aber denken an Gottes unendlichen Segen. Kannst du das vierundzwanzig Stunden lang tun?«

Ich gab keine Antwort. Der Gedanke des Fastens war mir nicht neu, aber wahrend aller Stunden des Wachens ununterbrochen zu fasten und zu beten, war nicht leicht. So versprach ich meiner Tante an diesem Abend nichts.

Es war eine schreckliche Nacht. Der heiße Wind blies heftig und trieb die Temperatur höher und immer höher. An Schlaf war nicht zu denken, und allmählich wurde der Staub in der Luft so dick, daß jeder sich eine Schicht Leinen auf Augen und Mund legen mußte, um die Lungen davor zu bewahren, durch eingeatmeten Staub verstopft zu werden. Kuri und ich lagen auf dem Rücken auf dem Dach und beobachteten den Aufruhr aus Wind und Schmutz. Durch die Leinenschicht auf unseren Augen und den in der Luft wirbelnden Staub gesehen, leuchteten die Sterne wie kleine rote Kerzenendchen, voller Bosheit und Grausamkeit. Wie die bösen Augen eines grimmen Menschenfressers belauerten sie uns. Während der Stunden nach Mitternacht wuchs der Wind zu einer solchen Stärke an, daß wir hinunterrennen und in unseren Zimmern vor dem heranwehenden Staub, der unsere Gesichter wie mit Nadeln stach, Schutz suchen mußten.

Kaum hatten wir uns hinter unseren Fensterläden verschanzt, als wir ein schreckliches Schlagen gegen unsere Haustür hörten. Wir gingen hin und versuchten angestrengt sie zu öffnen, aber sie hatte sich festgeklemmt. Wieder schlug jemand laut dagegen. Es war unheimlich. Endlich gelang es uns, durch gewaltiges Drücken die Tür auf und nach außen zu schleudern, wohin alle indischen Türen sich öffnen. Vor uns stand, eine Laterne in der Hand, ein Mann, und augenblicklich wehte ein heftiger Windstoß ihn ins Haus hinein. Zu dritt zogen wir die Türflügel wieder zurück und verriegelten sie fest. Was für einen Kampf das kostete! Der Mann, der die Laterne auf den Boden gestellt hatte, wickelte nun eine Elle Stoff nach der andern von seinem Gesicht und Kopf ab. Es war der Priester! Als habe sich nichts Merkwürdiges ereignet, sagte er ruhig: »Ich bin in jedem Haus gewesen. Eures ist das letzte. Sie beten alle in ihren Häusern. Wollt auch ihr aufbleiben und beten? Ich will mich euch anschließen.«

Ohne alle Förmlichkeiten setzten wir uns im Hausflur nieder, im Kreis um seine brennende Laterne. Purohit gab uns das Thema unserer Andachtsübung:

»Es gibt keine Angst.
Es gibt keinen Argwohn.
Es gibt kein Entsetzen.

O du Schwert des Mutes, brich hervor aus uns und zertrümmere die Berge vor uns! Brich hervor, brich hervor, brich hervor! Ströme, o Regen! Wehe, o Wind! Kommt, o Wolken, ihr weißen Stiere auf eurer blauen Weide! Friede und Fülle – Friede und Fülle – Friede und Fülle – ergießet euer strömendes Erbarmen über alles. Vater und Mutter des Weltalls! Frieden, Frieden, Frieden!«

So meditierten wir, während draußen der Wind mit wildem Wehklagen raste. Nach Tagesanbruch ließ das Unwetter nach. Menschen und Tiere kamen aus Häusern und Ställen hervor. Eine neue Welt grüßte uns. Die Erde schien gereinigt und gefegt, der Himmel, der wie eine Kupferplatte brannte, wurde blau und sah nun staubentwölkt aus. Wir drei Menschenkinder ließen das Vieh tun, wie ihm gefiel, und gingen in den Tempel. Hierhin begaben sich auch die übrigen Dorfeinwohner zum Beten und Fasten. Da jeder das Vorhaben des Tages kannte, sprach der Priester wenig: »Viele beten zu Hause. Ihr hier Versammelten betet ebenso von ganzem Herzen – sicherlich wird es zum Ohr des Unendlichen Erbarmens dringen. Ich werde den Gong schlagen. Meditiert vorher und nachher.« Er brachte aus dem inneren Schrein einen großen Gong hervor und schlug ihn stark und lange. Das furchtbare Aufschlagen des Metallhammers auf die Metallscheibe war unerträglicher als das heisere Brüllen des Unwetters in der Nacht. Aber es war notwendig; denn mit jedem Schlag seines Hammers verschloß er die Sinne seiner Gemeinde. Ton auf Ton drang wie stählerne Pfropfen in uns ein, die das Einströmen aller Eindrücke von außen in Seele und Geist aufhielten. Deshalb schlagen die Priester im Tempel manchmal eine halbe Stunde lang Gongs und Becken, bis ihre Gemeinden beruhigt genug sind, um zu meditieren.

Noch etwas anderes fiel mir in dem Getöse dieses besonderen Morgens auf. Der Schlag des Hammers war heftig, häufig und hell. Da also die Töne nicht sanft herniederflossen wie Bächlein in die Erde, wurden sie emporgetrieben bis über die Wolken und bis in den innersten Himmel gepeitscht. Diesem hohen, schrillenden, fliegenden Zug der messingnen Schreie könnte kein Gott widerstehen, dachte ich. Endlich hörte der Priester auf, und Schweigen senkte sich wie ein Mantel über uns alle. Die ganze Gemeinde war zu einer einzigen andächtigen Masse erstarrt.

Es mag unwahrscheinlich klingen, daß, als ich meine Augen öffnete, die Sonne zum Zenit emporgestiegen war. Ich konnte nicht glauben, daß ich so lange gebetet hatte. Ich begann meiner selbst bewußt zu werden. – Werde ich euch erklären können, was ich meine? Dies war das erstemal in meinem Leben, daß ich durch die Aufrichtigkeit meines Gebetes so weit gebracht wurde, daß ich keinen Hunger verspürte und, was noch überraschender war, keinen Durst, dessen wir alle uns immer qualvoll bewußt gewesen waren, seit die Dürre eingesetzt hatte. Mein erster Eindruck beim Wiedererlangen des Bewußtseins von der Welt war die Wahrnehmung der Zeit. Dann blickte ich um mich und sah die Gesichter von Männern und Frauen. Mit geschlossenen Augen saßen sie noch in Meditation versunken.

Während der nächsten dreißig Minuten kamen sie alle aus abgrundtiefem Schweigen herauf. Jedes Augenpaar trug den Glanz der Tapferkeit. Wir sind gereinigt und geheilt. Der Priester, der im Heiligtum meditiert hatte, kam zu uns heraus und sprach: »Ihr habt ein Aufgeben eures Selbst erfahren. Jetzt, da ihr klein seid, wird Gott in euch groß sein.« Er ermahnte uns: »Kehret heim, in Demut gehüllt. Beobachtet den ganzen Tag Schweigen. Sprecht nicht von dem, was ihr gefühlt und gesehen habt, denn Worte zerstören. Sammelt euer Vieh heute abend frühzeitig in eure Ställe. Trefft alle notwendigen Vorsichtsmaßregeln für den kommenden Wolkenbruch.«

Es schien, als ob alles, was er sagte, schwer sei von Wahrhaftigkeit. Keinen Zweifel gab es an seinem Gebot. Einzeln gingen die Dorfbewohner schweigend heim. Als Kuri und ich im Begriff waren fortzugehen, hielt der Priester sie zurück, indem er sagte: »Willst du dem Knaben erlauben, den Tag hier zu verbringen?« – Nachdem sie mit dem Kopf genickt hatte, zum Zeichen, daß ich bleiben dürfe, machte meine Tante sich allein auf den Weg. Der Priester sagte: »Bete mit mir, mein Sohn, solange du vermagst.«

Wir beteten eine Weile laut:

»O Vater des Weltalls, gib uns Regen!
O Mutter des Weltalls, gib uns Regen!
Reinige uns von Angst, Argwohn und Entsetzen!
Heile uns vom Haß:
Gib uns, wessen wir bedürfen!
Wie das eine Feuer, das aus vielen Arten von Holz springt,
Wie die eine Luft, die von allen geatmet wird,
Wie die eine Sonne, die die Welt bescheint,
Unbefleckt ist von den Mängeln, auf die sie scheint;
Wie das eine Wesen,
Das in ihnen wohnt, dennoch unbefleckt bleibt von vielen Wesen;
Brich hervor, brich hervor;
Reinige, heile und erhalte
Alle deine Söhne – Vögel, Tiere und Menschen!«

Diesmal war es schwer, im Gebet zu versinken. Der Priester betrat nach einiger Zeit die innere Welt, aber ich vermochte es nicht. Ich war zu sehr durch die Hitze gepeinigt und zu durstig. Ich hatte das Gefühl, als ob meine Zunge geschwollen wäre und mein Mund mit Baumwolle angefüllt. Ich versuchte zu meditieren, doch ich sprach mein Gebet mechanisch und ohne innere Beteiligung. Schließlich war ich noch keine fünfzehn Jahre alt; es war eine harte Aufgabe, die ich mir gestellt hatte, doch es gab kein Zurück. Es war, wie wenn man im Wald einen Tiger trifft, man muß ihm mutig entgegentreten. Aber noch nicht ganz so – ich öffnete die Augen und sah den Priester an. Er war weit fort von den Tatsächlichkeiten dieser Welt. Stirn und Augen waren ruhig wie der Tod, und seine offenen Handflächen lagen wie Herbstblätter in seinem Schoß. Wenn ein Mensch so im Gebet versunken ist, sagen wir »er hat sein Selbst aufgegeben« und freuen uns; denn ehe nicht dieses kleine Selbst vergessen oder als Opfer dargebracht ist, kann Gottes Selbst, das in uns allen ist, nicht hervorbrechen.

Ich weiß nicht, wieviel Zeit ich darauf verwandte, auf diese Weise nachzudenken und den Priester zu beobachten. Endlich schien etwas aus seinem Innern hervorzutreten und mich zu berühren; ein Gefühl der Freude durchrann mich, und er öffnete die Augen. Es waren keine Augen, sondern Höhlen voll stillen Feuers.

Er sprach: »Wir wollen den Rest des Nachmittags damit zubringen Gott zu lobsingen.« Als wir endigten, war es nahezu fünf Uhr. Beide gingen wir hinaus und sahen nach dem Himmel. Nirgends ein Anzeichen für Regen. »Geh jetzt heim,« sagte Purohit, »es ist im Anzug. Die Weihe, die dieses Dorf geschaffen hat, muß Gottes Erbarmen herabziehen. Es gibt keinen Zweifel in meinem Herzen.«

Gegen Sonnenuntergang zog in der Südostecke des Himmels eine Wolke auf. Die Luft über uns wurde so still, daß selbst die wenigen Insekten, die nicht an der Dürre zugrunde gegangen waren, zu zirpen aufhörten. Die Vögel, Krähen und Milane, stellten ihren Flug ein. Die Kühe und Pferde liefen von weit entfernten Weideplätzen heim. Die Dorfhunde fingen plötzlich zu heulen und zu winseln an. Die Menschen hatten das Gefühl, als ob das winzige Luftteilchen, das sie atmeten, ihnen bald genommen werde. Noch einmal heulten die Hunde gellend auf, rannten dann davon und verbargen sich. Stille begann wie ein saugender Vampir das ganze Leben aus der Erde selbst herauszuziehen, und man konnte fühlen, wie sie gleich einem Kinde dieser unsichtbaren Macht mit hilflosen Händen wehrte. Dann erhob sich ein jähes Stöhnen, als ob sie am Ersticken sei, und ein Blitzstrahl schoß hervor und ringelte sich um den weit entfernten Wolkenkamm. Ein neues Stöhnen – nein, es war ein langes Seufzen, nun wieder eine Weile Stille. Von neuem dieses Aussaugen allen Lebens … aber nicht für lange. Wie das schrille Zwitschern einer Schar von Mauerseglern erhob sich im Südosten ein Getöse, das überging in das Dröhnen eines langen Taues an einem geschwellten Segel, dies wiederum wuchs an zu dem volltönenden Laut großer Schwingen, die die Luft schlagen. Die Leute schrien: »Der Sturm, der Sturm!« Als habe die Wolke auf dieses Zeichen gewartet, stieg sie und fegte größer und größer werdend aufwärts. Wie schwarze Pferde, vom Vater Himmel geboren, brachen die Wolken plötzlich hervor und jagten daher. In weiteren zehn Minuten zogen Staub, Gewölk und Blitz sich dahinwälzend, einander umschlingend, brausend über unsere Köpfe hinweg und weiter zum Himalaya. Menschen und Tiere schrien und brüllten Danksagungen, als endlich die ersten Regentropfen die ersterbende Erde trafen.

Es ist seitdem viel Zeit verflossen, viele Jahre sind vergangen. Selbst heute noch antworte ich, wenn Menschen in meinem Hörbereich sagen, daß im Gebet keine Kraft liegt: »Betet ihr immerzu, dann ist keine Kraft im Gebet. Aber wenn ihr bei der schrecklichsten Gefahr betet, nicht für euch selbst, sondern für die ganze Welt, dann wird euer Gebet, wenn es vom Opfer eures Selbst begleitet ist, gewißlich erhört werden von dem Selbst Gottes.«

Eine Woche nachdem der Regen gekommen war, verwandelte sich die ganze Erde in einen Festzug aus wallenden, jauchzenden, flammenden Fackeln von Grün. Das ist die Kraft des Gebets.


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