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Das München meiner Kindheit war keine Weltstadt. Beim Zentralbahnhof war grüne Wiese. Wir holten unsre Morgenmilch von einer Kuh beim Karlstor. Beim Kathreiner in der Burgstraße kaufte man den Hering einzeln. Jetzt ist es ein Welthaus. Den Münchner, der statt »Kramer« zum ersten Male »Ko–lo–ni–al–wa–ren–händ–ler« sagte, hab' ich noch gekannt. Man tuschelte von ihm, er sei ein verkleideter »Preuß'«, und der Mund sei ihm bei jenem Wort bis zu den Ohren ausgerissen.
Meine eigne Lehrzeit fiel in diesen Übergang. Bis dahin war ein Münchner Kaufmann das, was München selber war, urbehaglich und ein wenig spießig. Man hatte seine alte feste Kundschaft, von den Vätern bis zurück zu Wallenstein und Gustav Adolf treu ererbt. Unbekannt war noch die rücksichtslose Konkurrenz. Man handelte um zu leben. Man lebte nicht, um zu handeln. Gewinne über den bescheidnen Wohlstand hinaus waren unbegehrt. Höbe so ein alter Münchner den massiven Kopf aus seinem Grabe hinterm Sendlingertor und blickte auf die Rafferei von heute – »Wozu?« schüttelte er sich die alte Münchner Erde aus den Brauen, »wozu? mehr als zu einem satten Magen, mehr als zu einem Bett, worin man ruhig schläft, kann's keiner 221 bringen, aus mehr als einem Maßkrug keiner trinken – Kathi, noch a Halbe.«
Reste dieser »antiquierten« Weltanschauung halten sich noch heute mühsam zwischen Autojagd und Telephongeklingel. Der betriebszerfetzte Fremde aus Berlin erschnuppert sie am Bahnhof in der Münchner Luft und murmelt: »Wär' ich wieder Mensch . . .« »Wär'« war noch zu meiner Lehrzeit »war«, gewisse Redeweise statt des Konjunktivs.
Der Kramer von Wurmannsquick brauchte damals noch nicht von einem geriebenen Reisenden, zwei Nasenlängen vor der Konkurrenz, mit Bestellungen eingeseift zu werden. Er sprach noch selber bei uns vor (vor dem Oktoberfest, weil das Sprechen nach dem Oktoberfeste manchmal Schwierigkeiten hatte): »An Zucker kennt i wieder braucha, ja, an gsteßnen – wüvüll? ja mei', was halt recht is, ös wißt es ja a so – und an Kaffee aa – was? Kwa–li–tät? – is dös scho wieder a neie Sorten? – der letzte war halt aus Brasili, glaub i – den schickts mir wieder, gell?« Ich schob ihm die neueste Kaffeepreisliste mit den vierzig Preisen hin. Er schob sie wieder zurück: »Preis'? ja mei', was halt recht is – ös wißts es ja a so – i hab koa Zeit, i muaß jetzt aufs Oktoberfest.«
Der Kunde von damals war mehr als ein Kunde. Er war ein Freund. Er hatte einen Platz auf Pagina 347 des Kontokorrents und einen nichtnumerierten Platz im Herzen der Firma. Er bekam zu Weihnachten keine kaltschnauzige Kontoaufstellung, sondern ein Geschenk, ein Paket Nürnberger Lebkuchen oder eine Flasche süßen Griechenwein oder – 222
»Liper Kadremer Nachfolger,« schrieb der Kramer aus Lauxeldorf auf einer Postkarte, »wennst mir heier auf die Weihnachten wider was schenken willst, und weil der Samos vom letzten Jar gar so pappert war, und mei Maxl a feschte neie Hosen brauchet, und das Muster von der letzten Hosen, die fast net zun umbringen war, papp ich auf die Karten nauf, und elf Jar wär er halt, der Maxl, und dank schön, dein treier Freund Murrmann aus Lauxeldorf.«
So hat sie wörtlich gelautet, diese Karte, ich habe sie heute noch, samt dem aufgepappten Stoffmuster, ich hatte sie mir ausbedungen, als ich Gehilfe wurde. Sie ist ein Dokument, beredter als dreiundzwanzig Bände der Königlichen Hof- und Staatsbibliothek aus jener Zeit. Und ich selbst habe damals per procura unsrer Firma jene Elfjahrehose für den Maxl bei einem Schneider in der Ickstattstraße bestellen dürfen. Und nicht sehr viel später einen Kranz, einen Immergrünkranz der Firma für den verstorbenen Vater dieses Maxls. So immergrün war damals das Verhältnis einer Münchner Firma zu ihren Kunden, und ist es noch viele Jahre geblieben, nachdem das erste Tausend Kunden längst überschritten war. Nachdem der Kramer aus Unterschopfheim uns zur Zeit des ersten Telephons besucht hatte, das damals noch einen großen Kasten mit vielen Elementen brauchte, und durch das wir unsern Kunden mit seinem Vetter nach Starnberg reden ließen. »Was, in Starnberg soll er sein, der Bampfinger? Nana, mei Liaber, mi kriagst fei net dra, in dem Kastl da drunten steckt er, der Bampfinger, laßt's ihn außa, sag i, außa!«
224 Kaum ein Schienenstrang stach damals in das südliche Bayern. Aus Tölz und Miesbach kamen die Botenfuhrwerke. Beim Soller im Tal, beim Oberottl in der Sendlingerstraße stellten sie mit großem Peitschenknallen ein. Dorthin mußten wir die Waren bringen, die sich dann Tag und Nacht räderknarrend auf die Berge zu bewegten. Auch die neumodischen Waren. So eine Ware war der chinesische Tee. Jahrelang bearbeiteten wir die zähen Gebirgskramer mit Lobpreisungen und Gebrauchsanweisungen. Vergeblich. Wir gaben's schließlich auf und ließen uns am Stadtkonsum genügen. Für diesen ließen wir auch auf die Reklame-Zahnstocher drucken: »Marco Polo Tee«. Ein Bündelchen davon mußte aber doch den Weg in die Berge gefunden haben, wie eine Karte auswies: »Also ich muhs euch sagen, weils ir mir gar keine Ruhe mehr gelassen habts, so hab ichs halt mit dem neumodischen Gsöff einmal probiert, und die langen Blatteln, die wo fast wie Holz ausschaun, fünf Minuten gsotten, aber es tut mir leid, es hat so fad geschmeckt, und dann hats meine Frau noch eine viertel Stund länger kocht, und was wahr ist ist wahr, so an Tee, der wo wie Abspülwasser schmeckt, den kennts selber saufen, daß ihrs wißt.«
Heute ist das anders. Das letzte Bergdorf ist durch den Laden seines Krämers mit der ganzen weiten Welt verbunden, hat mittels Souchon Tees den wohlerworbnen Anteil an dem fernen Land der Mitte, mittels eines Dutzends Kaffeesorten ist es an die brasilianische Sonne herangerückt, greift mittels Zimt hinaus nach Indien, durch den Pfeffer nach Malakka, und ist – wie heißt 225 man's gleich – großzügig, schrecklich großzügig geworden. Dank der mächtigsten Großmacht, dank Seiner Majestät, dem Kapital.
Dieses Kapital hat damals auch in wenig Jahren aus dem geruhsamen Münchner Handel eine gewaltige Maschine gemacht, eine siegreiche, eine stampfende.
Siegreich: Ich weiß noch gut, wie das neue Kalkulationsbuch angelegt wurde. Wie ich auf ein zehntels Pfennig kalkulieren mußte, um die Konkurrenz zu schlagen. Wie der Stolz des schwellenden Umsatzes in die geblähten Nüstern unsres letzten Lehrlings fuhr. Wie nach einer großen Konjunkturausnutzung unser Prokurist den zerarbeiteten Kopf aus der Statistik hob: »Ein hundertstel des deutschen Zuckerkonsums ging in diesem Jahr durch unsre Hände, meine Herren!« Wie vom Norden her ein neuer Arbeitsrhythmus in den Münchner Handel einzog, der, erst voller Mißmut abgelehnt, uns schließlich doch die höchste Achtung abrang. Wollten sie nicht an die Wand gedrückt werden, hieß es Schritt halten für die Münchner. Und sie hielten Schritt. München, hieß es vorher, sei die Stadt, in der der Wahlspruch gelte: »Verschiebe nie auf morgen, was du übermorgen ebenso gut tun kannst.« Jetzt ließ man sich im zähen Fleiß und raschem Wagemut weder von Berlin noch Hamburg in den Schatten stellen.
Noch freilich ließ man sich von Hamburg ehrerbietig sagen, was und wie und wo man kaufen müsse. Bis einer unsrer Prinzipale von der Wasserkante heimkam und erklärte, daß sich Hamburg ehrerbietig aus London sagen ließe, was 226 und wie und wo man kaufen müsse. Und daß das Gerücht gehe, die Londoner machten es nicht anders in der Richtung nach Amerika. Man hörte ihm mit Unbehagen und geheimer Sehnsucht zu: Was er damit sagen wolle? zwinkerte man. – »Sagen?« gab er froh zurück und krempelte die Ärmel hoch, »sagen nichts, aber tun.« Und griff durch Hamburg und London ohne Mittelsmann nach Santos durch. Ich weiß es noch wie heute, mit welchem Schwung ich die erste brasilianische Mark-Tratte für eine direkte Kaffeesendung von Santos nach München in das Memorial eingetragen habe. Jetzt erst wurde meine Vaterstadt an die große Welt da draußen angeknüpft, und durch meine Handlungsgehilfenhand straffte sich soeben eines der bescheidenen Fädchen, die das Schicksal einer Stadt bedeuten – plusterte sich in mir der Kolonialstolz auf. An jenem Tage sah ich Kaffeestauden in der Burgstraße wachsen, hingen Kakaoschoten vom Rathaus herab, knallten Früchtekapseln auf an ungezählten Baumwollstauden auf dem Marienplatz.
Natürlich blieb's nicht eitel Sonnenschein. Die Großeinfuhr verlangte Großkonsum. Der Fluch des Kapitals brach an: Übersättigung und Krise. Mit trostlos leeren Auftragszetteln kamen die ausgeschwärmten Reisenden zurück. Entlassungen und Öde in den vollgestopften Lagern. Jetzt gilt es, Münchner Kaufmann: Wirst du verzweifelnd, tatlos dir die Haare raufen oder –? Kommt da eines Tages unser jüngster Volontär – der letzte Lehrling war ja ich gewesen – mit der goldenen Kravattennadel und dem silbernen Spazierstock ins Kontor gelaufen: An Stelle des entlassnen 227 Fuhrknechts stünde unser Prinzipal selbst am Wagen, hemdsärmlig, und lade schwere Säcke – jetzt sei's klar, die Firma schmisse um. – »Rindvieh!« sagte unser alter Endres, »mit solchen Prinzipalen ist sie aufgerichtet auch im größten Dreck!«
Zwanzig Jahre später hatte ich als Sachverständiger vor Gericht in einem Bankrottfall, wo die Bücher fehlten, auszusagen, ob der Prinzipal dies schuldhaft unterlassen habe. Als Kleinkaufmann war er nämlich schuldlos freizusprechen. Ich berichte also, ihm zu helfen, daß ich zusah, wie er selbst auf seine Wägen auflud. Fährt der Mensch von der Anklagebank wie ein Puter hoch: Es sei infam, ihn so herabzusetzen! schrie er und – wurde eingelocht.
Die Krise wurde tiefer. Der Bilanztag nahte. Ich addierte die Erfolgkosten wieder und wieder. Der Rohgewinn zerschmolz. Verluste grinsten. Ein sorgenvoller Prinzipalskopf beugte sich herab: »Sagen Sie mal, könnten Sie sich nicht um hunderttausend Mark zu unsren Ungunsten geirrt haben?« – »Ich mag irren, Herr Kommerzienrat, die doppelte Buchführung nicht!« Dann ein schwerer Auftritt im Privatkontor, daß die Glasscheiben zitterten. Bittere Vorwürfe zwischen den Prinzipalen: Die Aufnahme des neuen Artikels wäre hirnverbrannt gewesen, der gäbe dem Geschäft den Rest, und für diese gottverdammte moderne Reklame sei zehnmal mehr als nötig ausgegeben – »Zehnmal zu wenig,« sagte ruhig der andere, brachte neues Kapital zusammen, multiplizierte das Reklamekonto mit zehn und – stieß ins Freie. Neuer größerer Aufschwung 228 folgte. Die Firma wurde groß und größer. Bei mehr als einem Anlaß kam sie an die Spitze.
Der deutsche Zuckertag kam nach München. Man schickte mich zu Possart: Ob er nicht zu Ehren der hier versammelten Zuckerleute ein besondres Stück – »Hrrem« drehte sich der damals allmächtige Mime auf seinem knarrenden Direktionsstuhl in donnerndem Pathos gegen mich, »sagen Sie dem Herrn Kommerzienrat, ich habe in meinem langen Leben viele Programme aufgestellt, aber zu einem Programm für Zuckerleute habe ich's noch nicht gebracht!« Das war nicht ganz richtig. Heute, wo er lange tot ist, darf man's schon gestehen: Seine ganze Kunst war Zucker.
Das ist nun dreißig Jahre her. Der Münchner »koloniale« Handel hat nicht stillgestanden. Es ist noch manchem Wellenberge manches Wellental gefolgt, und zuletzt das dunkelste der Täler: der verlorene Krieg. Aber ich lasse mir's als alter Kaufmann nicht nehmen: Verlorene Schlachten sind die Wiege neuer Siege auch für den Lebensmittelkaufmann. Wenn nicht alles täuscht: er ist schon unterwegs dazu. In München und im ganzen Reich.