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Montag brachte Hans das Aufsatzthema heim: »Der Krieg, eine Geißel der Menschheit.« »Konzept am Sonnabend einzuliefern,« hatte der Lehrer gesagt. »Schreibt diesmal frei, ganz aus euch selbst heraus.«
»Herrgott, ist bis zum Sonnabend lang,« dachte Hans und schlug die Geißel in den Wind. In den Wind geschlagene Geißeln knallen irgendwann. Beim Hans am Freitag. Es war ein Gewissensknall. Die Familie knallte mit. »Der arme Bub,« sagte die Mutter, »von heut auf morgen einen ganzen Aufsatz.« »Gott,« sagte Vater, »ich habe zu manchem verzwickten Geschäftsbrief nicht mal so viel Zeit.«
»Ja, ja,« sagte Tante Lotte nachdenklich, »der Aufsatz, eine Geißel der Menschheit.« – »Na, mit 'm bißchen Grips und 'm Schuß Inspiration läuft auch der schwerste Aufsatz,« sagte Onkel Franz. »Setz dich nur mal dran, Hans.«
Hans setzte sich von Freitag nachmittag vier Uhr bis acht Uhr dran: »Der Krieg, eine Geißel der Menschheit – Der Krieg, eine Geißel der Menschheit – Der Krieg, eine Geißel der Menschheit – Der Krieg, eine Geißel der – Mutter, weißt du keinen schönen Satz?« – »Einen schönen Satz über den gräßlichen Krieg, Hans?« – »Er meint einen stilistisch schönen Satz,« sagte Tante Lotte. Und dann klopften Mutter und Tante an 47 Onkels Zimmer: »Onkel, der Bub braucht einen schönen Satz.« – Ach was, mit 'm bißchen Grips und 'm Schuß Inspiration –« »Schuß? Er braucht halt ein wenig Vorschuß, der arme Bub' – wenn ich denke: von heut auf morgen eine ganze Geißel –«
Das war um 6¼. Um ½7 wälzte Onkel Franz das zwölfte Buch. »Einen schönen Satz,« murmelte er. »Schreib mal diesen Satz auf Seite 63, Junge.« Und folgsam schrieb Hans in sein Konzeptheft: »Die materiellen, intellektuellen und moralischen Konsequenzen eines Krieges leuchten wie ungeheure Fanale des Leidens durch die Geschichte.« »Kannst ihn mal der Tante zeigen, Junge.«
Hans zeigte ihn der Tante. Sie kam sofort herüber: »Ein schöner Satz, Onkel Franz, ein wirklich wunderschöner Satz.« – »Na, nicht so schlimm, mit 'm bißchen Grips und 'm Schuß Inspiration – und nun machst du einfach in dem Stile weiter, Junge.«
Hans machte bis um sieben Uhr weiter, ohne mit dem zweiten Satz fertig zu werden. »Onkel Franz, bitte noch einen schönen Satz.« – »Jetzt kann dir mal die Tante helfen, Junge.« – »Tante, bitte noch einen schönen Satz.« Tante Lotte blätterte schon seit einer Viertelstunde in ihren alten Albums. »Schreib mal das da,« sagte sie errötend. Und folgsam schrieb Hans in sein Konzeptheft: »Der rosenfingrige Eros kämpft siegreich gegen dräuende Wolken, morgenrotes Blut fließt in Strömen: Krieg überall.« »Kannst ihn mal der Mutter zeigen, Junge,« sagte Tante Lotte.
Hans zeigte ihn der Mutter. Gleich kam sie 48 aus der Küche. »Ein wundervoller Satz, Tante Lotte,« sagte sie. – »Jetzt einen Satz von dir, Mutter,« bat Hans. – »Aber Hans, ich mach' das Abendessen fertig, ich kann keine schönen Sätze kochen.« – »Aber Mutter, irgend einen Satz wirst du doch –« Da schlug die Mutter im Kochbuch nach: »Den vielleicht, Hans?« Und folgsam schrieb der Hans in sein Konzeptheft: »Die durch den Krieg hervorgerufene Knappheit zwingt auch die kriegsfeindliche Hausfrau zur Beschneidung der lukullischen Bedürfnisse ihrer Familie.« Tante Lotte meinte zwar, der Satz sei ein wenig nüchtern. »Bis auf ›lukullisch‹,« sagte Onkel Franz.
Dann kam der Vater an die Reihe, der vom Geschäft heimkam. Er machte eine Miene, als diktiere er dem Buchhalter: »Im Besitze Ihres sehr geehrten . . .« Aber dann steckte er die Hände in die Hosentaschen und sagte auf- und abgehend:
»Schreib mal, Junge: ›Die möglichen Kriegsfolgen lassen es rätlich erscheinen, die Konjunktur in Rechnung zu stellen und vorher zu eskomptieren.‹«
Darauf fiel dem Onkel wieder ein Satz ein. Dann wieder Tante Lotte und der Mutter, so daß Hans noch mehrere Male reihum schöne Sätze ins Konzeptbuch schreiben konnte. Und eine Stunde nach dem Abendessen war es Onkel Franz gelungen, aus einem großen Kriegsbuch vom letzten Siebziger Krieg noch einen kunstvoll aufgebauten Schluß herauszuklauben. Worauf sich Hans schlafen legte. Nicht ohne daß er es noch durch die Tür sagen hörte: »Der arme Bub': von 49 einem Tage auf den andern solchen schweren Aufsatz . . .« Damit schlief er befriedigt ein.
Aber im Traum ging's ihm nicht gut. Er war im Himmel, mitten in einer Volksversammlung. Petrus saß am Pult und sagte: »So und jetzt erzähl mal einer nach dem andern, was er im Krieg erlebt hat.« Einer trat vor: »Mir ist mein Sohn gefallen . . .« Es war ein erschütternder Bericht in einfachen Worten. »Der nächste,« sagte Petrus. Jemand trat vor: »Ich bin gefallen in der Sommeschlacht . . .« Stoßweise, wie das Volk spricht, erzählte er die Schrecken seiner Schlacht. »Der nächste,« sagte Petrus. Jemand trat vor: »Was ich mir ein Leben lang ersparte, hat der Krieg verbrannt . . .« Mit einer fernen Stimme erzählte er den Russeneinfall seines Dorfes. Noch viele rief der Petrus auf. Sie standen auf und sprachen schlicht und setzten sich. Und jedesmal ging dem Hans ein Rieseln übers Rückgrat.
Das ging vom dritten Wirbel in der Wirbelsäule aus. Dort sitzt die Wahrhaftigkeit.
»Hans, was hast du im Krieg erlebt?« –
»Einen – einen Aufsatz,« stotterte Hans. – »Lies mal!« Und Hans schlug sein Konzeptbuch auf und las: »Die materiellen, intellektuellen und moralischen Konsequenzen des Krieges leuchten wie riesige Fanale . . .« Und er trommelte alle schönen Sätze herunter. Und hinter dem schönen Schlußsatz sagte er stolz: »Was sagen Sie nun, Herr Petrus?«
»Pass' mal auf, Hans,« sagte Petrus und schob einen Vorhang auf die Seite. Der Krieg ward sichtbar. Er war aus Marmor. Schrecklich 50 war er anzuschauen in seiner unbändigen Wild- und Nacktheit. »Gib mal dein Konzeptheft, Hans.« Einzeln riß Petrus die Blätter heraus und steckte sie mit Nadeln an die Statue. Dort verwandelten sie sich in ein Kleid. Und es war aus lauter bunten, zerrissenen Lumpen zusammengesetzt. Unsäglich erbärmlich hing das alles unter dem entsetzlich erhabenen Gesicht des Krieges herab. Und Hans wurde rot im Traum und schämte sich und wachte auf. Schon war es hell.
Er schaute auf die Uhr. Vier Uhr morgens. Schnell in die Kleider. Noch schneller an den Arbeitstisch. Her mit dem Heft. Heraus mit Aufsatzseiten. Eine neue Seite angefangen. Ha, wie die Feder flog. Nicht einen Augenblick brauchte sie sich zu besinnen. Sie schrieb die Volksversammlung von heute nacht, ohne Aufputz, schlicht, in kurzen Sätzen, stoßweise, wie das Volk spricht . . .
Als Hans an diesem Morgen in die Schule ging, kam der Balthasar gerannt: »Du Hans, ich habe keinen Aufsatz, laß mich deinen abschreiben!«
»Aber Balthasar, das geht doch nicht.«
»Du bist ein netter Kamerad, na warte, ich werd' mir's merken.«
Hans wurde heiß. Schon öffnete er den Ranzen, schon griff er nach dem Heft, auf einmal schoß es ihm warm vom dritten Rückgratswirbel, dem Sitze der Wahrhaftigkeit, über das Gesicht.
»Nein, Balthasar,« sagte er fest. Aber da hatte der Balthasar roh hineingegriffen und war davongerannt. Eine Handvoll Blätter schwang er lachend in der Luft. Laut las er unterm Laufen: »Der Krieg, eine Geißel der Menschheit. Die 51 materiellen, intellektuellen und moralischen Konsequenzen des Krieges leuchten wie riesige Fanale –«
»Aber Balthasar, das sind ja – das ist ja –«
»Kenn ich schon – möchtest mir's wieder abluchsen – da wird nichts draus – in der Religionsstund schreib' ich's ab.«
Und während in den ersten Bänken der Katechismus abgefragt wurde, schrieb der Balthasar in der letzten Bank aus Raschelblättern ab und ab. Eben war er fertig, als der Aufsatzlehrer eintrat: »Konzepthefte einsammeln!«
Eine Woche verging. Hans war recht still. Stiller als die Seinigen zu Hause. Alle Augenblicke stellte ihn dort jemand auf der Treppe, im Korridor, im Zimmer: »Nun, Hans, ist dein Aufsatz zurückgegeben?« fragte Mutter. – »Na, Hans,« sagte Onkel Franz, »und der Aufsatz?« – »Hans, hast du deine Eins schon abgekriegt im Aufsatz?« sagte Tante Lotte. »Hannes, Hannes,« sagte am zuversichtlichsten der Vater, »diesmal hat er dich wohl übern Schellenkönig gelobt, dein Aufsatzlehrer, he?«
»Die Aufsatzhefte werden erst am nächsten Sonnabend zurückgegeben,« sagte Hans leise. Fast geduckt ging er weiter. Sie sahen ihm nach:
»Ich weiß nicht, was der Junge hat,« sagten sie kopfschüttelnd, »wenn uns jemand so geholfen hätte mit den schönsten Sätzen, als wir in die Schule gingen . . .«
Da war der Sonnabend da. Und da lag der Stoß Aufsatzhefte am Katheder, so hoch, daß des Lehrers Angesicht darüber kaum zu sehen war.
»Zunächst die beste Arbeit,« sagte der Lehrer, ernst ein Heft in seinen Händen wägend, »Hans, 52 das war deine beste Arbeit. Ganz warm ist mir dabei geworden. Hört mal . . .«
Mäuschenstill hörte die Klasse Hansens Aufsatz an. Nur der lange Balthasar in der letzten Bank rutschte etwas hin und her.
»Hans, bei dieser Nummer magst du bleiben. Note eins. Wie einem das wohltut, wenn man all den andern aufgeblasenen Sums – zum Beispiel den da – hört mal: ›Die materiellen, intellektuellen und moralischen Konsequenzen des Krieges leuchten wie riesige Fanale‹ und so weiter und so weiter. Sag' mal, Balthasar, wo hast du dir denn diesen abgestandenen Schmarr'n zusammengestohlen?«
»Von – von – vom Hans!«
»Na, das ist denn doch! – Hans kann solches aufgepapptes Zeug überhaupt nicht schreiben. Hans, dieser Aufsatz soll von dir sein?«
»Nein, Herr Lehrer.«
Zu Hause sah man es ihm an. Sie umdrängten ihn: »Na, Hans, der Aufsatz ist zurück?« Hans nickte selig. »Und du hast den Vogel abgeschossen, Hans?« Hans nickte seliger. »Na, kein Wunder, lieber Hans – aber danken hättest du uns wenigstens 'n bißchen können . . .«
Auf dem nächsten Schulweg warnte den Hans ein Kamerad: »Du, nimm dich vor dem Balthasar in acht. Er sagt, du hättest ihn mit dem letzten Aufsatz schauderhaft hereingelegt. Und er will dich ebenso verhauen.«
Da straffte sich dem Hans etwas im vierten Rückgratswirbel, wo der Mut sitzt, gleich hinter der Wahrhaftigkeit: »Soll nur kommen!« 53