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Der Komiker wurde alt.
Er selbst merkte es nicht. Wenn man an dreißig Jahre Komik macht, verfließen alle Zeitbegriffe. Ein Witz ist alt und ein Witz ist jung. Aber der Komiker, der den Witz vor das Publikum zu bringen hat, hat immer jung zu sein und jung zu bleiben. Das ist Vorschrift im Vertrag. Kein Wunder also, daß der Komiker nicht merkte, wie er alt wurde.
Aber das Publikum merkte es. Das Publikum, das er seit dreißig Jahren unterhielt mit seinen Späßen. Das ihm einmal zugejubelt hatte. Wie war es damals gleich in Wien? Getost hatten sie, heruntergeholt vom Brettl hatten sie ihn. Auf die Schultern hatten sie ihn gehoben. Im Saale herumgetragen hatten sie ihn. Ja, ja, das war damals.
Und dann kamen die Jahre, wo das Publikum manierlicher wurde – ja, ja, manierlicher, sagte der alte Komiker, wenn er davon erzählte – und wo es sich damit begnügte, ihm da droben zuzuschmunzeln.
Und endlich kam die Zeit, wo der alte Komiker um ein dünnes Händeklatschen kämpfen mußte. Wo seine Witze ins Publikum hinunterstiegen und mit aufgehobenen Händen bettelten: »Ein Beifallszeichen, bitte, nur ein kleines, bitte, bitte . . .«
So baten seine Witze. Der Komiker bat nicht. Der blieb der alte. Der war überzeugt, nie waren 167 seine Sachen besser, als gerade jetzt. Und nur das Publikum war es, das sich verändert hatte. Ja, ja, das Publikum, nicht er. Dies nimmersatte Publikum, dem er so an siebzehntausend Witze vorgeschmissen hatte und an tausend Lieder. Wo waren die geblieben? Die mußten da drunten in Fetzen um die alten Stuhlbeine hängen oder in den Ritzen des Fußbodens oder in den alten Kleidern des Publikums, die beim Trödler hingen, wenn sie nicht in der Lumpenmühle inzwischen Papier geworden waren, auf das man neue Witze schrieb und neue Lieder.
Das Publikum? Aber das Publikum, diese glatte Einheit, gab es gar nicht. Das war doch jeden Abend eine andere trübe oder klare Quelle, die der Strom des Lebens in die Bänke vor dem Brettl spülte. Und gestern hatte die Welle schon gar nicht mehr gegluckst. Spärlich rann sie zwischen Stühlen, Tischen und über eine Weile würde sie versickern . . .
Nein, sie würde nicht versickern. Der alte Komiker hatte vorgesorgt. Der alte Komiker hatte schon vor Wochen eine Anzeige erlassen:
Bekannter Kabarettkünstler sucht zugkräftigen Schlager
von bekanntem Schriftsteller zu erwerben.
Das war das erstemal, daß etwas Vorgetragenes nicht von ihm selbst sein sollte. Es kamen eine Menge Angebote. Darunter auch eine blitzende Glosse von einem bedeutenden Schriftsteller. Aber der verlangte eine Menge Geld. Der alte Komiker hatte sich besonnen. Und schließlich war er auf die Sparkasse gegangen und hatte sich die ersparten Groschen geholt . . .
168 Und heute abends würde er die blitzende Glosse vortragen. Wie Zeus den flammenden Strahl, würde er sie ins Publikum schleudern. Da würde sie zünden. Die träggewordene Masse des jetzigen Publikums würde sie aufpeitschen. Ein Gedröhne bräche los. Die Stühle würden sie umwerfen, wieder heranstürmen würden sie ans Podium, wie damals. »Auf die Schultern!« würde einer rufen, würden viele rufen.
Mächtig schlug des alten Komikers Brust, wenn er daran dachte. Und er mußte lächeln, wie er jetzt knapp vor seiner Nummer hinter den Kulissen wartete, – wahrhaftig, er hatte wieder das Lampenfieber, das er zum letzten Male vor – vor – wann war es doch – richtig, das er zum letzten Male vor fünfundzwanzig Jahren hatte und seitdem nicht mehr. So was verliert sich mit der Zeit und der Routine. Was war das? Klatschen? Ach so, die Soubrette hatte ihre Nummer fertig.
Da capo?
Er hörte schärfer hin, verstand die Worte. Wieder starkes Klatschen? Ach ja, so süß versteckte Zötchen zogen immer. Er fuhr sich mit der Hand über die alte Stirn. Gott sei Dank, Zoten hat er nie gerissen, all die dreißig Jahre her . . .
»He, Herr Alois, Ihre Nummer, – geschwind!«
Der Herr Direktor hatte es geflüstert. Mechanisch stand der alte Komiker auf. Weiß der Teufel, das Lampenfieber war immer noch da.
»– und vergessen Sie nicht, Herr Alois, von Ihrem heutigen Erfolg hängt es ab, ob ich den 169 Vertrag auf ein weiteres Jahr verlängern kann. Tun Sie Ihr Bestes und . . .«
Der alte Komiker stand an der Rampe und sah ins Publikum. Mit dem alten leeren Schauspielerblick sah er ins Publikum. Keine menschlichen Gesichter unterschied er. Er sah nicht die von behäbiger Neugier umsäumten Tische. Er sah die Studenten nicht und die Kommis, und nicht die andern, die für ihr Eintrittsgeld auch was Ordentliches zum Lachen haben wollten, einen gestrichenen Kartoffelscheffel voll Gelächter für fünfundzwanzig Pfennig Eintrittsgeld.
Das alles sah er nicht. Er bildete sich ein, das da drunten sei ein Acker voller Krautköpfe.
Und der alte Komiker begann mit einem leichten Theaterdonner, einem Späßchen vom vergangenen Tag. Aber der Krautacker blieb starr und ungerührt.
Da griff der alte Komiker in seine beste Zeit zurück und holte ein altes tüchtiges Couplet hervor. Er schmetterte es mit ganzer Kraft hinaus. Ganz wie damals, dachte er, ganz wie damals, als er die Erfolge hatte. Aber was war das? Das Krautfeld blieb starr. Kein einziger Kopf hatte sich gerührt.
Der alte Komiker biß die Zähne zusammen. Wartet, ich komme euch, dachte er. Jetzt setz ich euch was vor, was mich – was mich fast mein ganzes Sparguthaben gekostet hat. Etwas von einem berühmten Dichter, verehrtes Publikum: ihr werdet schauen . . .
Und er ließ die geistfunkelnden Sterne der marmorscharf herausgearbeiteten Glosse wie ein sprühendes Feuerwerk ins Publikum.
170 So – jetzt noch eine blendende Raketengarbe von Witz und Geist zum Schluß – uff . . . Er wartete . . . – Nichts.
Er wartete weiter mit angehaltenem Atem.
Nichts. Ganz ruhig blieb das Krautfeld. Nur in der vordersten Reihe sah er zwei Köpfe sich zueinander neigen, sah Linien menschlicher Gesichter. Und in den Zügen dieser beiden Köpfe las er plötzlich wie durch einen Nebel:
»Er tut uns leid, der alte Komiker . . .«
Da geschah es, daß eine fürchterliche Bitterkeit in ihm den dreißig Jahre alten Schlangenkopf hob und aus ihm herauszischte. Was diese Schlange zischte, war ihm kaum bewußt.
Nur dunkel empfand er, daß es eine schneidend satirische Klage war. Eine Klage, die sich auf seiner stegreifgewohnten Zunge von selbst in merkwürdige Reime goß. Die Klage des alten Komikers auf ein dreißigjähriges Mühen. Eine gesträubte Anklage gegen das Publikum. Und die Widerhaken dieser flammenden Reime fuhren ins Publikum wie die jäh geworfenen Schnüre von hundert Angelgerten. Und siehe da, die Widerhaken verfitzten sich in das Krautfeld, saßen fest. Und wie jetzt der alte Komiker daran zog, um sie wieder zurück zu haben, da fingen diese Krautköpfe zu wackeln an. Wie toll wackelten sie hin und her. Ganze Reihen schwankten. Und ein Lärm war und ein Rufen.
Und als jetzt der letzte Reim verklang, in einer heiseren Komikerstimme unterging, da sprangen wahrhaftig diese Köpfe auf. Gegen das Podium rollten sie vor. Unmäßig viele Hände streckten sich 171 aus den Krautkronen in die Höhe und klatschten, klatschten . . .
»Bravo! bravo! Da capo! da capo!« hörte er es durch den Nebel branden.
Und jetzt kamen wahrhaftig eine ganze Reihe Köpfe an seine alten Füße heran, und es kam ihm vor, als ob diese Köpfe Studentenzwicker auf den grünen Blättern hätten.
»Auf die Schultern . . .!« hörten seine alten Ohren rufen. Und dann hörte er dicht neben sich die klare Stimme seines Direktors:
»Herr Alois, ich gratuliere Ihnen – das war das beste satirische Stück, was ich jemals hörte – Herr Alois, ich verlängere Ihren Kontrakt um . . .« 172