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Hauptbahnhof München. Herrgottsfrühe. Der Lindauer Schnellzug steht schon unter Dampf. Mit meiner ehrlich erworbenen Fahrkarte will ich durch die Sperre.
»Sie, erlaub'n S', Herr',« sagt jemand neben mir und tupft an die Hausknechtsmütze »Roter Hahn«.
Aha, denke ich mir, er hält mich für einen Angekommenen und will mir den »Roten Hahn« empfehlen.
»Sie, erlaub'n S', Herr!« wiederholt er dringlicher.
»Nichts erlaube ich,« sage ich, »ich habe hohe Zeit!«
»I aa, Herr – entschuldigen S'; 's Stiefelputzen!«
»Entschuldigen? Das Stiefelputzen entschuldigen?« sage ich, launig werdend, »wie macht man das?«
»'s Stiefelputzen ham S' halt vergessen, Herr.«
»Bedaure, ich putze keine Stiefel, kann also auch das Stiefelputzen nicht vergessen.«
»Ja, aber 's Zahl'n dafür, Herr.«
»Ich habe nichts für Stiefelputzen zu bezahlen.«
»Erlaub'n S', da werden S' Ihnen irr'n – 's mindeste is halt a Zwaanzgerl, Herr – entschuldigen S'.«
173 »Sie scheinen mich für jemand anderen zu halten. Ich habe bei mir zu Hause übernachtet. Nicht im Roten Hahn.«
Er schwankte einen Augenblick. Aber gleich siegte das Mißtrauen:
»Entschuldigen S', Herr, aber dös sag'n alle, die wo's Stiefelputzen schuldig bleib'n.«
»Zum Henker!« sage ich, jetzt wirklich ärgerlich werdend, »Sie haben meine Stiefel nicht geputzt.«
Wieder schwankte er. Dann tat er den kritischen Blick des Fachmanns auf meine Stiefel.
»Sie können mir nix vormachen, Herr – ich kenn's doch noch.«
»Was kennen Sie?«
»Eahnerne Stiefel, Herr.«
Ich war empört. Ich gab ihm keine Antwort mehr. Erhobenen Hauptes ging ich durch die Sperre. Soo, da war ja noch ein schöner Fensterplatz in einem Abteil. Ich richtete mich häuslich ein. Ich begann die Stiefelgeschichte innerlich zu überwinden. Ich machte das Fenster auf und legte mich behaglich in die Brüstung.
»Sie, erlaub'n S', Herr!«
Wahrhaftig, der unerbittliche »Rote Hahn« stand auf dem Bahnsteig und drehte erinnernd an der Rotehahnmütze. Ich sah durch den zudringlichen Roten Hahn, wie man durch Glas sieht. Aber der Rote Hahn wich nicht.
»Entschuldigen S', Herr, 's Stiefelputzen!«
»Zum Donner, lassen Sie mich in Ruhe. Ich bin nicht der, für den Sie mich halten.«
»Erlaub'n S', Herr, aber dös kennen mir schon.«
174 Aus den Fenstern nebenan sahen Leute. Sie begannen sich für meinen Stiefelfall zu interessieren. Eine Dame lächelte. Ein Handlungsreisender lachte voll Verständnis. Die Sache wurde böse.
»Sie, erlaub'n S', wenn S' mich nicht bezahl'n fürs Stiefelputzen, nacha weiß i schon, was i tu.«
»Tun Sie meinetwegen, was Sie wollen. Sie – Sie Roter Hahn.«
»Entschuldigen S', aber ich sag' Ihnen nur soviel, Sie werd'n's berei'n, wenn S' net dös Zwaanzgerl fürs Stiefelputzen –«
»Na, zahlen Sie's eben in Gottes Namen,« sagte der Geschäftsreisende vom Nebenfenster her gütlich, zuredend, »man kommt nun mal um die Trinkgeldgeschichte nicht herum.«
»Aber erlauben Sie, wenn ich doch gar nicht derjenige bin, der –«
»Nein, wie ich das finde,« sagte am andern Fenster ein kleines Mädchen zu der lächelnden Dame.
»Erlaub'n S', Herr, 's Stiefelputzen,« wiederholte der Rote Hahn draußen eintönig und unermüdlich.
»Das kann man ja nicht länger mit ansehen,« sagte der Reisende und zog seine Geldbörse, »wenn Sie den Mann für seine Arbeit nicht bezahlen, so werde ich –«
Die Aussicht, mit diesen Leuten bis nach Lindau unter dem Verdacht der Trinkgeldschinderei fahren zu müssen, übermannte mich.
»Verflucht nochmal!« rief ich, zwanzig Pfennige aus der Westentasche fingernd, »es ist ja Unsinn – aber da haben Sie in Gottesnamen Ihre zwanzig Pfennig.«
175 Es war die höchste Zeit. Der Zug hatte schon angezogen. Da flog plötzlich noch ein Handtäschchen durch das Fenster auf meinen Sitz. Die gleichmütige Stimme des Roten Hahns scholl hinterher:
»Soo, Herr, nacha will ich Ihnen also auch Ihre Handtasch'n wiedergeb'n, die wo S' im Roten Hahn lieg'n lass'n ham.«
Der ganze Wagen lachte. Schadenfroh gingen die Blicke zwischen mir und der Handtasche hin und her. Einer Handtasche, die ich nie gesehen hatte. Ich war aufgeregt. Ich wendete mich erklärend an die Fahrtgenossen:
»Ich versichere Ihnen, meine Herrschaften, diese Handtasche ist mir völlig fremd.«
Das Abteil lächelte. Ich steigerte meine Beteuerung: »Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, ich habe mit dieser Handtasche nie etwas zu tun gehabt.«
Das Abteil lächelte unentwegt. An der anderen Ecke schnaufte gemütlich ein Dicker:
»So, so?« schnaufte er ungläubig. »Sie kennen also die Handtasch'n gar net. Warum hab'n S' denn nacha des Zwanzgerl zahlt, ha?«
Triumphierend blickte er im Kreise herum. Etwa so: »Seht ihr, so fängt man die Hotelgauner, die wo sich vom Trinkgeld drücken möchten.«
»Zum Donner auch!« schrie ich, »sie gehört mir wirklich nicht – sie kann mir gestohlen werden und –«
Ah, da stand der Zugführer in der Tür. Das war mein Retter.
»Herr Zugführer,« sagte ich mit Würde, »da hat jemand aus Versehen eine fremde Handtasche 176 durch das Fenster geworfen. Nehmen Sie sie an sich und übergeben Sie sie dem Fundbüro.«
So, das war doch ein offenbarer Beweis meiner Unschuld. Ich atmete auf. Der Zugführer zog mit der Tasche ab. Meine Ehre war gerettet. Ich konnte dem Abteil wieder frei ins Auge sehen. Die Reise bis Lindau verlief einsilbig. Dort mußten wir auf verschiedene Anschlüsse warten. Es wurde mir langweilig. Ich ging vor den andern aus dem Wartesaal. Im Hinausgehen hörte ich den Dicken zu dem Geschäftsreisenden über den Tisch flüstern:
»Wiss'n S', wo der jetzt hingeht? Auf's Fundbüro geht er und holt sich seine Handtasch'n wieder, der Trinkgeldschinder.« 177