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Es war Montag, und Wegerich und Lucretia betrachteten den Dienstag noch immer als den verhängnißvollen Termin, an welchem das Geschick der Letzteren endgültig entschieden werden sollte. Auch die Marquise wußte es nicht anders. Nur Gertrud, welche in Folge der vertraulichen Mittheilungen ihrer Gönnerin alle Fäden in Händen hielt, war gespannt, welchen Ausweg Splitter wählen würde, um das Verschieben der Trauung zu erklären. In der Stadt in einem Gasthofe ersten Ranges abgestiegen, verbrachte sie täglich mehrere Stunden bei der Marquise. Ihre Besuche verlegte sie in die Zeit, in welcher es ihr erleichtert war, ihre Persönlichkeit vor den übrigen Bewohnern des Karmeliterhofes zu verheimlichen. So war sie auch heute schon in aller Frühe gekommen. Die Marquise saß nach gewohnter Weise an ihrem Fenster. Ihre Aufmerksamkeit theilte sie ziemlich gleichmäßig zwischen einer Handarbeit, der Aussicht auf den im Sonnenschein erglänzenden Strom und Gertrud. Wenn sie die ihr Gegenübersitzende zuweilen länger betrachtete, glitt es wohl wie Stolz über ihr Antlitz, wie ein Ausdruck innerer Befriedigung über ihr Werk; doch nur flüchtig waren solche Regungen, und verhaltener Groll lugte wieder aus ihren dunkeln Augen.
»Rothweil würde unfehlbar sein Glück in Dir finden,« nahm sie nach einer längeren Pause die unterbrochene Unterhaltung wieder auf, »förmlich eifersüchtig überwachte ich ihn damals, und über den Eindruck, welchen er am letzten Tage von Dir empfing, täuschte ich mich nicht.«
»Ebenso fest bin ich vom Gegentheil überzeugt,« entgegnete Gertrud ruhig, »nie werde ich vergessen, wem ich zu endlosem Dank verpflichtet bin, allein mich auf Grund dessen zu einem Schritt entschließen, von welchem ich weiß, daß er mein und anderer Menschen Unglück herbeiführte – nein, Sie können es unmöglich von mir erwarten.«
»In Dir leben noch die Anschauungen des zügellosen Irrwischs –«
»Möchten sie nur in mir leben,« fiel Gertrud herbe und doch so selbstbewußt ein, daß die Marquise erstaunt die Hände mit der Arbeit in den Schooß sinken ließ, wie um sich durch einen langen Blick von der Wirklichkeit dessen zu überzeugen, was sie vernahm; »ja möchten sie nur leben,« wiederholte Gertrud entschiedener, »denn damals war ich nicht weniger glücklich, als heute; ich kannte nichts, als goldene Hoffnungen. Das Urtheil der Menschen kümmerte mich nicht; ich verlachte Jeden, dem meine Art nicht gefiel. Seitdem habe ich freilich Manches gelernt. Ich habe erfahren, daß ich mich bücken und beugen muß, um Erfolge zu erringen, daß ich auf jeden Schritt, auf jedes Wort achten muß, um nicht spöttischem Nasenrümpfen zu begegnen. Die Dankbarkeit gegen meine Wohlthäterin wird dadurch nicht vermindert; denn es giebt ja Minuten, in welchen ich meine, von Wolken getragen zu werden; Minuten, in welchen das Herz mir vor Freude schwillt, wenn Hunderte, sogar Tausende von Menschen mir zujubeln und ihren Beifall zu erkennen geben; aber fröhlicher, sorgloser trete ich jetzt wahrhaftig nicht in meinen Atlasschuhen auf die glatten Bretter, als damals mit den nackten Füßen in den Staub. Damals sprach ich, wie mir's gefiel, grade wie die Vögel, wenn ihnen leicht ums Herz ist. Jetzt dagegen habe ich mich daran gewöhnen müssen – und schwer genug ist's mir geworden, und manches mitleidige Lächeln hab' ich geerntet – jedes Wort zuvor zu überlegen, bevor ich es ausspreche, um nicht zu verrathen, daß ich auf einem Kehrichthaufen groß geworden. Und noch weit mehr: ich habe kennen gelernt, daß jeder betreßte Junker, jeder elende Wicht, der mit Goldstücken in der Tasche klingelt, sich für berechtigt hält, mit Geschmeide und Edelgestein um meine Gunst zu handeln. Einer solchen Gesellschaft kann ich mich wohl erwehren, es kostet mich ein Wort, einen Blick; aber etwas Anderes und Peinigenderes giebt es, wogegen ich kein Mittel kenne. Wie jene elende Gesellschaft über mich denkt, denken auch Andere, an deren Achtung mir wohl gelegen wäre. Nur eine Tänzerin, heißt es, wenn ich hin und wieder in guten Häusern die Ehre genieße, von Diesem oder Jenem der Aufmerksamkeit gewürdigt zu werden; nur eine Tänzerin, muß Jeder hören, dessen Bevorzugungen meiner Person vielleicht ernster gemeint sind und dem ich vielleicht mein Vertrauen schenken könnte. Nur eine Tänzerin, würde ich selber hören, wenn ich kaum glaubte, glücklich geworden zu sein. Nur eine Tänzerin, würde ich mir verbittert zurufen, wenn ich hier am Krankenlager eines Theuren säße, dort so gern beruhigend meine Hand auf ein fieberhaft klopfendes Herz legen oder gar nach überstandenem Todeskampfe die starren Augen zudrücken möchte.« Die Brauen düster zusammengeschoben blickte Gertrud vor sich nieder, als hätten die eben geschilderten Bilder sich vor ihrem Geiste verkörpert. Plötzlich sah sie mit einer heftigen Bewegung empor und gerade in das Antlitz der sie mit namenlosem Erstaunen beobachtenden Marquise, und das trotzige Lächeln des wilden Irrwischs trat auf ihre schwellenden Lippen, indem sie gleichsam herausfordernd fortfuhr:
»Nur eine Tänzerin, würde auch Herr Rothweil sagen, erführe er, daß man seine Verheirathung mit mir für wünschenswerth halte. Und solcher Möglichkeiten, sogar Wahrscheinlichkeiten soll ich gewärtig sein? Nein, nimmermehr geschieht das. Ich bin einmal Tänzerin und will es auch bleiben! Einsam will ich durchs Leben gehen, Triumphe will ich feiern, so lange sie mir geboten werden; berauschen will ich mich in dem mir gespendeten Beifall, so lange meine glatten Außenseiten vorhalten. Dann aber will ich einen geschützten Winkel aufsuchen, in welchem ich unerkannt und vergessen die Vergangenheit in Gedanken immer wieder durchleben kann. Das soll mein einziger Genuß sein. Vielleicht findet sich auch Jemand, und wär's nur ein Kind von der Straße, der mit einem Gefühl der Dankbarkeit – und die zu erzeugen ist keine schwere Aufgabe – mir selber dereinst die Augen zudrückt.«
So sprach Gertrud, der tolle Irrwisch, so sprach die viel verheißende gefeierte Künstlerin. Dabei glühten ihre schönen Augen in düsterer Begeisterung, während es sich um ihre frischen Lippen wie ein tiefer, mit herbem Spott gepaarter Leidenszug ausprägte.
Das Antlitz der Marquise, welche sie noch immer mit gleichsam starrem Erstaunen betrachtete, war unterdessen kälter und härter geworden. Die demselben aufgetragene Schminke verbarg, daß es sich entfärbte, als sie ihr eigenes Leben geschildert hörte. Was vor anderthalb Jahren noch in der jungen Brust des unsteten Irrwischs wild durcheinander wogte, die Widersprüche, welche sich in dem für die verschiedensten Eindrücke empfänglichen Gemüth geltend machten: sie begriff nicht, daß in dem verhältnißmäßig kurzen Zeitraume ein Gährungsprozeß stattgefunden haben könne, in welchem die einander feindlichen Elemente sich so vollständig von einander schieden.
»So jung, und doch so reich an bitteren Erfahrungen,« mochte sie denken. Sie räusperte sich leise, wie um ihre Stimme des letzten milden Klanges zu entkleiden, dann fragte sie eintönig:
»So hat Dein Herz zu Gunsten Rothweils gesprochen, bevor Du es selber ahntest?«
»Nein,« lautete die schnelle Antwort, und wie ein Blitz schoß es unter den schwarzen Brauen hervor, »er, der den Irrwisch barfuß im Straßenstaube umherlaufen sah, welchen derselbe Irrwisch wie ein Schmetterling umflatterte, im Uebermuth sogar küßte, er wäre der Letzte gewesen.«
Schärfer sah die Marquise in die zu ihr erhobenen Augen. Was sie in denselben suchte, sie fand es nicht. Wenn auch düster, so schauten sie doch unbefangen. Nach kurzem Sinnen fragte sie, ihre Worte etwas ernster betonend:
»Du hast Herrn Jerichow besucht?«
Wie ein Wetterschlag traf diese Frage Gertrud. Sie erbleichte tödtlich. Unsägliche Anstrengung kostete es sie, den auf sie gerichteten Blick zu ertragen.
»Ja,« antwortete sie indessen laut, »ich besuchte meinen alten Lehrer, dem ich so viel verdanke. Ich besuchte ihn, um mich auf ewig von ihm zu verabschieden. Er leidet an einer unheilbaren Krankheit.«
Die Marquise lehnte sich zurück und spähte auf den Strom hinaus. Sie wußte jetzt, welchen Ursachen sie das Zerschellen eines so lange gehegten Planes verdankte. Allein ohne weiteren Kampf wollte sie ihn immer noch nicht aufgeben.
»Seitdem ich Rothweil kennen lernte, war es meine Lieblingsidee, Dich mit ihm vereinigt zu sehen,« hob sie an, als Gertrud lebhaft einfiel:
»Und weshalb?«
Die Marquise, sonst gewohnt, sich zu beherrschen, erschrak bei dieser ungestümen Frage. Einige Sekunden dauerte es, bevor sie antwortete:
»Als ich einst das arme Fischerkind an mich zog, ging ich zunächst davon aus, demselben zum Dank für manche Stunde der Unterhaltung eine freundliche Zukunft anzubahnen. Mit unsäglicher Geduld bildete ich Dich zu einer Tänzerin ersten Ranges heran. Als ich später erkannte, in welcher unvorhergesehenen Weise sich Dein Charakter entwickelte, wünschte ich wieder, Dich dem obwohl glänzenden, jedoch nicht immer befriedigenden Loose des Bühnenlebens zu entziehen. Um in Deiner alten Sphäre glücklich zu werden hattest Du indessen bereits zu viel gelernt. Es blieb mir nur übrig, gerade Deine Kunstfertigkeit und die von der Natur Dir verliehenen Vorzüge als Mittel zu benutzen, um Dich Deinem Beruf zu entfremden. Bestimmtere Formen erhielt mein Plan nach meiner ersten Begegnung mit Rothweil. Nach dem Tode seines Onkels ist er in Verhältnisse geraten, welche ihm eine gewisse Unabhängigkeit sichern. Reichst Du ihm die Hand, so brichst Du nicht nur mit Deiner Vergangenheit, sondern es lächelt Dir auch eine sorgenfreie, heitere Zukunft.«
»Ich sehne mich nach keiner anderen Lage,« versetzte Gertrud, nunmehr argwöhnisch in der Marquise Augen spähend, »am wenigsten aber möchte ich Herrn Rothweil als eine Art Leiter zu einer solchen betrachten. Ihm liegt ebenso wenig daran, nur eine Tänzerin zu heirathen,« und sie lachte wieder spöttisch.
»So denkst Du jetzt,« wendete die Marquise ein, »so denkst Du in der Erinnerung an Eure erste Bekanntschaft. Weißt Du aber, daß jetzt, nachdem ein langer Zeitraum seitdem verstrich, nachdem eine, jeder, selbst der kühnsten Voraussetzung spottende Wandlung mir Dir und in Dir vorging, seine Empfindungen nicht ebenfalls einem Wechsel unterworfen sein werden? Weißt Du, daß bei Deinem Anblick sein Herz nicht laut aufjubelt?«
»Ich weiß, daß es nicht geschieht,« antwortete Gertrud zuversichtlich.
»Du bist ein Kind. Du wirst es wenigstens auf einen Versuch ankommen lassen.«
»Warum nicht?«
»Gut; so erwarte ich von Dir, daß einer Begegnung mit ihm Du nicht ausweichst; und zwar wünsche ich, daß Ihr Euch bei mir zum ersten Mal wieder begrüßt. Nur zu diesem Zweck habe ich Dich hierherbeschieden. Deine Willfährigkeit betrachte ich als einzigen Lohn dafür, daß ich Dich seit Deiner frühesten Kindheit gewissermaßen mit in mein eigenes Leben hineingezogen habe.«
»Alles thue ich, was Sie mir befehlen oder von mir wünschen,« versetzte Gertrud, und ihr Lächeln erhielt einen Anflug von Ueberlegenheit, »wo es auch sei, an keinem Ort der Welt habe ich Ursache, Herrn Rothweil auszuweichen. Möchte er nur bald kommen, wenigstens früh genug, um jenem elenden Menschen, dem Splitter, seine Beute abzujagen.«
»Was kümmern Dich Splitter und seine Verlobte? Haben sie beschlossen, sich zu heirathen, so besitzt kein Mensch das Recht, störend dazwischen zu treten.«
»Auch nicht, wenn es gilt, das Mädchen einem Verbrecher zu entreißen?«
»Aus Dir spricht der Rachedurst,« bemerkte die Marquise mit einem berechnenden Blick in die glanzvollen Augen, »ich glaubte, dazu ständest Du zu hoch.«
Gertrud zuckte die Achseln.
»Er hat Schlimmeres gethan, als ein unbescholtenes Mädchen mit Verleumdungen verfolgt,« antwortete sie geringschätzig.
»Du beziehst Dich auf das Unterschlagen der Briefe; wer weiß, er mag Ursache gefunden haben, die Correspondenz seiner Verlobten selbst in die Hand zu nehmen.«
Gertrud sah auf die Marquise, wie nach der Lösung eines Räthsels suchend.
»Verdient Lucretia sein Mißtrauen?« fragte sie scharf.
»Nicht sein Mißtrauen, wohl aber männlichen Rathes bedarf sie und männlicher Unterstützung,« erklärte die Marquise zögernd.
»Und deshalb setzt er sie dem Verdacht aus, das Geld unterschlagen zu haben?«
»Die Geldangelegenheit wird nach Rothweils Heimkehr ihre Aufklärung finden.«
»Läge es in meiner Gewalt, dann sollte er nimmermehr durch diese Heirath seiner Hinterlist die Krone aufsetzen. Und weshalb eilt er plötzlich so sehr?«
»Lucretia wird mit ihm einverstanden sein. Wäre sie es nicht, so hätte sie das Verhältniß längst gelöst.«
»Ich an ihrer Stelle hätte es freilich gelöst,« versetzte Gertrud, und ihre großen Augen sprühten förmlich, »ich hätte ihm die Thür gewiesen, hätte sogar meine Hand gegen den schamlosen Verleumder erhoben, wäre er einfältig genug gewesen, den Versuch zu wagen, seinen Willen zu dem meinigen zu machen. Freilich, Lucretia ist ein sanftes, zaghaftes Wesen. Gänzlich schutzlos und von allen Seiten beeinflußt und geknechtet, vor Allem aber der Willkür dieses Elenden preisgegeben, kann es nicht überraschen, wenn sie schließlich unterlag. O, es ist eine Geschichte, wie ich sie mehrfach veranschaulichte, wenn ich auf der Bühne von den Blicken eines Vampyrs, eines blutsaugenden Scheusals, zusammenschauerte und mich ihm zu eigen geben mußte. Aber wie auf der Bühne, ändert sich auch im Leben Manches –«
Es klopfte.
»Das ist Lucretia; kein Wort mehr davon,« befahl die Marquise strenge, und laut forderte sie zum Eintreten auf.
Als Lucretia in der Thür des Schlafzimmers erschien, hatte Gertrud ihren von Außen undurchdringlichen Schleier niedergezogen. Mit einer tiefen Verneigung empfahl sie sich. Durch leichtes Senken des Hauptes dankte sie auf Lucretia's Gruß, und nicht achtend deren sichtbaren Erstaunens, schritt sie an ihr vorbei ins Schlafzimmer. Sie selbst aber hatte durch das dichte Gewebe des Schleiers hindurch entdeckt, daß Leichenblässe Lucretia's Antlitz bedeckte und sie nur mit Mühe ihre Fassung bewahrte.
»Ich komme, um mich auf eine Stunde zu beurlauben,« sprach sie mit bebenden Lippen, jedoch so laut, daß Gertrud, die noch immer zögerte, sich zu entfernen, sie verstand, »Herr Splitter ist da; er besteht dringend darauf, daß ich die Einrichtung seiner neuen Wohnung in Augenschein nehmen soll.«
Bei diesen Worten erschrak Gertrud; sie säumte indessen, bis die Marquise ihre Einwilligung ertheilt hatte, dann trat sie auf den Flurgang hinaus. Deutlich unterschied sie Splitters Stimme, indem er zu Wegerich sprach, und wie von derselben gehetzt, eilte sie geräuschlos die Treppe hinunter. In der Hausthür blieb sie stehen und rathlos spähte sie über den Hof. Der Schein, durch welchen Splitter bekräftigte, daß er gesonnen sei, den Tag seiner Hochzeit zu verlegen, befand sich wohl in ihrer Hand, allein welchen Werth hatte derselbe, wenn an Stelle eines Aufschubes, die Trauung auf den heutigen Tag verlegt worden war? Da fiel ihr Blick auf den Rothkopf, der eben aus der Thür des Kelterhauses gemächlich nach einer neuen Auswahl von Hunden hinüberschritt. Wie ein Blitz leuchtete es in ihrem Geiste auf. Etwas vortretend, spähte sie nach den Fenstern des oberen Stockwerks hinauf. Alle waren leer. Auch auf der Kelterhausseite befand sich Niemand, der ihr vielleicht viel Aufmerksamkeit geschenkt hätte, und mit sicherer Haltung bewegte sie sich vom Hofe hinunter. Beinah in gleicher Höhe mit Wodei, der sie neugierig betrachtete, sprach sie mit gedämpfter Stimme, jedoch ohne ihre Bewegungen zu mäßigen oder ihr Antlitz ihm zuzukehren. »Rothkopf, wenn Du ein ehrlicher Mann bist, so gehe auf der Wasserseite des Hofes herum und erwarte mich zwischen Scheune und Gartenmauer.« Gleich darauf bog sie um die Ecke des Kelterhauses.
Wodei beschäftigte sich mit seinen Hunden, als hätte die tief verschleierte Fremde keine größere Theilnahme in ihm wachgerufen, als die Sperlinge, welche sich zwischen den zottigen, hageren Thieren ihr Bröcklein suchten. Nur sein Gesicht hatte sich vor Ueberraschung dunkler gefärbt. Erst nach einem Weilchen, als er glaubte, es wenig auffällig thun zu können, leistete er der geheimnißvollen Aufforderung Folge. Als er auf der bezeichneten Stelle eintraf, wartete Gertrud bereits auf ihn. Sie hatte den Schleier zurückgeschlagen. Ein eigenthümliches Lächeln der Befriedigung eilte über ihr Antlitz, als Wodei mit einem seltsamen Gemisch von Ehrerbietung und Vertraulichkeit seine Mütze zog.
»War's mir doch, als ob's keine Andere sein könnte,« sprach er, die schlanke Gestalt mit den Augen gleichsam verschlingend, »und dennoch, Gertrud – aber Sie sind ja 'ne vornehme Dame geworden.«
»Nun ja, Wodei, die Zeiten haben sich geändert,« fiel Gertrud ein, durch ihre Haltung bedachtsam die zwischen ihnen entstandene Kluft erweiternd, »aber davon sprechen wir später einmal. Ich habe Sie immer für einen rechtschaffenen Mann gehalten, dem's nur zuweilen an Arbeit fehlt; und daß ich mich nicht täuschte, sollen Sie jetzt beweisen. Vor allen Dingen erwarte ich, daß Sie Niemand verrathen, wen Sie hier gesehen haben.«
»Verlassen Sie sich auf mich,« antwortete der Rothkopf, welcher, je länger Gertrud sprach, um so erstaunter darein schaute.
»Gut, Wodei, ich traue Ihren Worten. Nun aber sollen Sie mir einen Dienst erweisen, für welchen ich Sie hoch bezahle, wenn nicht ein Anderer – ich meine den Herrn Rothweil selber – sich Ihnen in einer Weise erkenntlich zeigt, daß Sie den Hundehandel aufgeben können, um dafür in besserer Arbeit Ihr gutes tägliches Brod zu finden.«
»Heraus denn mit der Sprache,« polterte der Rothkopf in seiner Verwirrung, fügte aber höflicher hinzu: »wenn's gefällig ist. Was Sie mir auftragen, führe ich aus, und nicht um 'nen Lohn, sondern schon von wegen des Andenkens an alte Zeiten.«
»Um so besser, Wodei; doch auch die Anerkennung wird nicht ausbleiben. Nun hören Sie, viel Zeit zu Erklärungen habe ich nicht; Sie kennen den Herrn Splitter?«
»So gut wie jede Vogelscheuche in 'nem Erbsenfelde.«
»Wohlan. Dieser Splitter befindet sich bei dem Wegerich. Er will das Fräulein abholen, und ich müßte mich sehr täuschen, trüge er sich nicht mit der Absicht, unter irgend einem Vorwande auf der betreffenden Stelle des armen Mädchens Ueberraschung schändlich ausnutzend, sich mit ihm zusammensprechen zu lassen.«
»Hab' ich doch immer geahnt, daß die Sache nicht klar sei,« hob der Rothkopf an, als Gertrud schnell wieder einfiel:
»Nein sie ist nicht klar, doch lassen wir das heute, und kümmern Sie sich um weiter nichts, als was ich Ihnen anvertraue. Wenn also die Beiden den Hof verlassen – und sie können in jedem Augenblick da drüben auftauchen – so folgen Sie ihnen, natürlich in sicherer Entfernung, auf Schritt und Tritt nach. Machen sie nur einen Spaziergang, so haben Sie weiter nichts zu thun, als sie im Auge zu behalten. Treten sie dagegen bei einem Notar oder einem sonstigen Beamten ein, so folgen Sie ihnen bis an die Thür. Dort bleiben Sie stehen. Hören Sie, daß von einer Verheirathung die Rede ist, so treten Sie ruhig ein, und bevor eine bindende Handlung vollzogen wird, fordern Sie Fräulein Lucretia auf, sich sofort nach dem Karmeliterhofe zu begeben, wo Jemand, den sie lange nicht gesehen habe, sie erwarte. Wer es sei, sagen Sie nicht, verstehen Sie mich recht, und darauf kommt es auch nicht an. Nur daß sie davor bewahrt wird, die Frau dieses Splitter zu werden. Retten wir sie heute, so kostet es keine große Mühe, sie ganz vor dem traurigen Loose zu bewahren. Haben Sie mich genau verstanden, und kann ich auf Ihren guten Willen bauen? Vergessen Sie nicht, mißglückt mein Plan, so laden Sie eine große Verantwortlichkeit auf Ihre Schultern.«
»Mein Bestes will ich schon thun,« betheuerte Wodei mit dem Ausdruck der Aufrichtigkeit, »aber wie, wenn der Beamte mir die Thür zeigt.«
»Auch daran habe ich gedacht,« versetzte Gertrud, und sie gab Wodei den von Splitter ausgefertigten Schein, »sollte Fräulein Lucretia Ihnen nicht sogleich folgen, oder man gar Zwang anwenden wollen oder Ueberredungen – doch das wird nicht geschehen – so überreichen Sie dieses Papier dem Beamten, und der veranlaßt dann das Weitere. Ist es ihnen gelungen die Heirath zu hintertreiben, – und das muß geschehen, Wodei, Sie sind verantwortlich für die Folgen – so bitten sie das Fräulein den Rheinuferweg zu wählen. Will Splitter sie begleiten, so hindern sie ihn nicht. Sie aber halten sich in der Nähe.«
Sie trat etwas weiter hinter die Scheunenecke zurück, und Wodei's Aufmerksamkeit auf die an dem Gehöft vorbeiführende Straße hinauslenkend, fuhr sie ängstlich fort:
»Da gehen sie; wie ich ihn hasse, diesen Menschen. Wodei, thun Sie Ihre Schuldigkeit, hören Sie? Ich verlange es von Ihnen um unserer alten Bekanntschaft willen – ja, ja, Wodei, ich weiß, was Sie sagen wollen; aber fort jetzt, damit sie Ihnen nicht entschlüpfen, gehen Sie und zeigen Sie, daß Sie der Achtung guter Menschen werth sind –«
Der Rothkopf konnte nur zustimmend nicken. Mit den heiligsten Eiden hätte er Gertrud nicht mehr beruhigen können, als es jetzt durch die einfache Bewegung geschah. Ueberwältigend wirkte auf ihn die Veränderung ein, welche in Gertrud, seitdem er sie nicht sah, stattgefunden hatte. Was an besseren Regungen noch in dem versumpften Müßiggänger lebte, es kehrte sich plötzlich nach außen. Hätte Gertrud sein Leben verlangt, er würde nicht gezögert haben, es für sie hinzugeben.
Ein Weilchen blickte Gertrud ihm von der Scheunenecke aus nach, wie er seinen Weg zur Stadt verfolgte und sich allmälig dem vor ihm einherwandelnden Paare nährte; dann begab sie sich durch den wüsten Garten an den Strom hinab. Bald darauf saß sie hinter ihrem Großvater im Schatten der Weiden auf einer der grasigen Uferabspülungen. Nur wenige, aber herzliche Worte hatte sie mit dem alten Mann gewechselt, der von seinem Rasendamm aus die Blicke starr auf die Kreuzreifen des Netzes geheftet hielt. Was Gertrud eben noch so heftig bewegte, schien sie plötzlich vergessen zu haben. Sorglos sah sie stromaufwärts, stromabwärts. Die alte Irrwischnatur schien wieder erwacht zu sein; wie in den alten Zeiten, hielt sie einen langen Grashalm in den Händen. Langsam zog sie ihn bald von der einen, bald von der andern Seite zwischen ihren prachtvollen Vorderzähnen hindurch, daß er, wie von Wonne und Schmerz jämmerlich pfiff und kreischte. Der schwarze Sammethut mit dem dichten Schleier lag neben ihr auf dem Rasen. Ueppig quoll das goldblonde Haar aus seinen Fesseln. Sie hätte ihr schönes Haupt nur schütteln brauchen, um es in wilden Wellen schleierartig um sich her niederströmen zu machen.