Balduin Möllhausen
Der Schatz von Quivira
Balduin Möllhausen

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Zwölftes Kapitel.

Eine Kriegserklärung.

Vierzehn Tage waren verstrichen, vierzehn lange Tage, an welchen Perennis bald mit dem Notar verhandelte, bald auf dem Karmeliterhofe vorsprach, ein Stündchen bei dem düster verschlossenen Fischer saß oder sich an der Kampfeslust des graziösen Irrwisch ergötzte. Auf dem Karmeliterhofe betrachtete man ihn bereits als den neuen Grundherrn, wodurch von den Schultern des alten Wegerich eine schwere Last genommen zu sein schien. Lucretia hatte sich schnell genug in ihre neue Lage eingelebt. Mit ihrem herzigen Wesen ging sie in den häuslichen Verrichtungen Wegerich stets getreulich zur Hand, der seinerseits wieder in der Stadt Gelegenheit entdeckte, seiner lieblichen Hausgenossin Fertigkeit in feinen Handarbeiten zu verwerthen. Lucretia's Heiterkeit war daher wieder zurückgekehrt, zumal Sebaldus Splitter sich bedachtsam fern hielt, Perennis aber vorsichtig vermied, auch nur den Namen ihres Verlobten zu nennen, oder in seinen Gesprächen mit ihr die Aussichten für die Zukunft zu berühren. Es war wie das Aufathmen nach hartem Sturm, wenn die zerzauste Blüthe sich durch wilden Regen und warmen Sonnenschein neu gekräftigt fühlt.

So war auch der Tag gekommen, welcher Perennis die Entscheidung seiner Schwestern und deren Männer brachte, daß man der ungewissen Erbschaft ein Mal für alle Mal feierlich entsage. Damit war seine letzte schwache Hoffnung, ohne fremde Hülfe die Reise zu unternehmen, endgültig vernichtet. Nunmehr allein vor die schwierige Aufgabe gestellt, schrak er vor der Größe derselben und vor den ihm daraus erwachsenden Verantwortlichkeiten zurück, und der ganzen Ueberredungsgabe des Notars bedurfte es, daß er nicht dem Beispiel seiner Schwestern folgte. Mißmutig traf er in später Nachmittagsstunde auf dem Karmeliterhofe ein. Auf dem Flurgange trat ihm Gertrud entgegen. Sorglos theilte sie ihm mit, daß die Marquise ihn dringend zu sprechen wünsche. Gleich darauf wurde er von dieser in ihrem Wohnzimmer mit vornehmer Zurückhaltung willkommen geheißen und gebeten, ihr gegenüber Platz zu nehmen.

Bisher hatte er die Marquise nur aus der Ferne gesehen. Mit erhöhter Theilnahme betrachtete er daher die Gesichtszüge, von welchen er gehört hatte, daß sie an Kälte des Ausdrucks mit denen einer Marmorstatue wetteiferten. Doch die Schilderungen waren entweder übertrieben gewesen, oder ihre Stimmung hatte eine Wandlung erfahren; denn jene unnahbare Kälte beschränkte sich nur auf ihre aufrechte Haltung und eine gewisse herablassende Würde, wogegen die großen Augen milder schauten und in seinem Antlitz etwas zu suchen schienen.

»Ich habe um Ihren Besuch gebeten, Herr Rothweil,« eröffnete sie das Gespräch, »um mit Ihnen meine Zukunft zu berathen. Wie ich erfuhr, ruht das Geschick des Karmeliterhofes jetzt in Ihren Händen. Von Ihrer Entscheidung hängt es also ab, ob ich gezwungen bin, mich um eine andere Wohnung zu bemühen. Eine ähnliche, meinen Wünschen und Neigungen entsprechende Gelegenheit auszukundschaften, dürfte aber nicht leicht sein.«

»Die gerichtliche Uebernahme hat noch nicht stattgefunden,« versetzte Perennis höflich, »ich bin also außer Stande, mehr als vorläufige Verabredungen zu treffen. Wohl aber kann ich die bestimmte Zusage ertheilen, daß, in Anbetracht der obwaltenden Verhältnisse, eine Aenderung in nächster Zeit hier nicht beabsichtigt wird.«

»Von Wegerich hörte ich, daß eine größere Reise nothwendig sei,« sprach die Marquise anscheinend gleichmüthig, aber jeden unbewachten Augenblick benutzte sie, um in Perennis' Zügen nach Merkmalen seiner Regungen zu forschen.

»Leider machen die letztwilligen Verfügungen des Verstorbenen sie nothwendig,« gab dieser zu. »Ist Vermögen vorhanden und soll es seinen Erben zu Gute kommen, so kann mein persönliches Eingreifen in die Angelegenheit nicht umgangen werden. Ich vermuthe, daß es sich um die Verwerthung liegender Gründe handelt, und erkenne daher in des Verstorbenen Bedingung nur eine von freundlicher Fürsorge getragene Vorsicht.«

Die Marquise sah vor sich nieder. Ihre schwarzen Brauen runzelten sich leicht, und wie unbewußt verlieh sie ihren Gedanken Ausdruck:

»Sonderling vom Kopf bis zu den Füßen. Das sieht ihm ähnlich.«

»Sie kannten den Verstorbenen?« fragte Perennis befremdet.

Die Marquise richtete sich auf. Ihr Antlitz war ruhig. Ob sie die unabsichtliche Bemerkung bereute, der schärfste Beobachter hätte es nicht aus demselben herausgelesen.

»Wo sollte ich ihn kennen gelernt haben?« fragte sie kalt: »oder verdient etwa ein Mann, der ohne Angabe seines Zieles in die Welt hinauszieht, sein Eigenthum in der Heimat zerfallen, dessen Verwalter beinah verhungern läßt, sogar die Lage seines zeitigen Wohnsitzes streng verheimlicht, ich wiederhole, verdient ein solcher Mann nicht den Namen eines Sonderlings? Und steht die von Ihnen erwähnte Bedingung nicht im Einklänge mit allem Vorhergegangenen?«

»Ich leugne es nicht,« antwortete Perennis, »doch wird dadurch nichts an der Sachlage geändert.«

»Wann gedenken Sie abzureisen?«

»Es hängt von Umständen ab, welche zu lenken ich nicht die Macht besitze.«

»Es fehlt Ihnen das Reisegeld– o, Herr Rothweil, ich spreche damit keinen Tadel aus– war doch nichts natürlicher, als daß Wegerich, vom besten Willen für Sie beseelt, mich von Allem in Kenntnis setzte, sogar meinen Rath wünschte. Und er hätte in der That nichts Besseres thun können. Eine Frau in meinen Jahren wechselt nicht gern ihren Wohnsitz, und um das zu vermeiden, bin ich gern bereit, erhebliche Opfer zu bringen, im Fall der Noth sogar die Hypotheken anzukaufen.«

»Ich wiederhole, gnädige Frau: So lange ich auch nur noch einen Schein von Anrecht an diesem Hof besitze, bleiben Sie ungestört.«

»Das genügt nicht, nein, Ihr Wort in Ehren, allein das genügt nicht. Ich muß Gewißheit haben, und die gewinne ich am Sichersten, indem ich Ihnen einen Vorschuß auf meine Miethe leiste, sagen wir etwa fünfhundert Thaler, mehr gebrauchen Sie kaum, und drüben finden Sie wohl mehr.«

»Ein großmüthiges Anerbieten,« erwiderte Perennis erstaunt, »demselben gegenüber steht indessen die Möglichkeit, daß ich unterwegs sterbe und die von meinem persönlichen Erscheinen abhängige Hinterlassenschaft in Nichts zerfließt.«

»Sterben Sie, so trifft der Verlust mich in meinem Alter nicht allzu schwer,« versetzte die Marquise, »ich mag den Vorschuß ja abwohnen, doch entscheiden Sie sich, ob Sie von meinem Anerbieten Gebrauch machen oder nicht. Ich dränge zu nichts, was Ihnen vielleicht peinlich, allein zu bedenken gebe ich Ihnen, daß Sie jedem Andern gegenüber genau in derselben, sogar in einer noch ungünstigeren Lage sind.«

»Noch ein Umstand bleibt zu erwägen,« wendete Perennis wieder ein, »es ist nicht unwahrscheinlich, daß der Werth der Hinterlassenschaft weit hinter den Kosten der Reise zurückbleibt.

»Fürchten Sie das nicht,« erklärte die Marquise überzeugend, und hätte Perennis schärfer beobachtet, so würde ihm schwerlich entgangen sein, daß es bei diesen Worten wie ein Blitz schwer zu zähmender Leidenschaftlichkeit aus ihren Augen zuckte, »nein, das befürchten Sie nicht. Ich hielt mich, nachdem Wegerich meinen Rath erbeten hatte, für berechtigt, meine Blicke in die letzten Briefe seines Herrn zu werfen, und da empfing ich den Eindruck, daß er sehr günstig gestellt gewesen sein muß. Genug, ich bin nicht nur bereit, den Vorschluß zu leisten, sondern betrachte auch die Annahme desselben als eine mir erwiesene große Gefälligkeit. Wohin sollte ich mich wenden, um einen auch nur annähernd ähnlichen, abgeschiedenen, meinen Gewohnheiten entsprechenden Winkel zu entdecken.«

»Nach einer solchen Auslegung wird es mir allerdings erleichtert, von Ihrer Güte Gebrauch zu machen,« versetzte Perennis nunmehr freier, »die einzige Sicherheit, welche ich zu bieten habe, ist freilich nur mein ernster Wille– wie auch immer die abenteuerliche Fahrt endigen mag,– neben der Zurückzahlung des Darlehns, Ihnen den Aufenthalt auf dem Karmeliterhofe auf viele Jahre hinaus zu verbürgen.«

Die Marquise lächelte erzwungen. Es war ein Lächeln der Lippen, während die Augen starr schauten. Im Geiste schien sie sich an jedem anderen Ort, nur nicht Perennis gegenüber zu befinden.

»Wünschen Sie das Geld sofort?« sprach sie träumerisch, als Perennis, indem er sich erhob, lebhaft einfiel:

»Nicht jetzt, nein, jetzt nicht. Bin ich erst zur Reise gerüstet, so ist es früh genug, Sie an Ihr großmüthiges Versprechen zu erinnern.«

»Nicht so großmüthig, wie es Ihnen vielleicht erscheint,« versetzte die Marquise. Nachlässig sah sie zur Seite. Sie fühlte das Bedürfnis, die schmalen Lippen, wie ihre Energie stählend, fest aufeinander zu pressen und aus ihren dunkeln Augen abermals einen Blick in's Leere zu senden. Es war einer jener Blicke, von welchen es zweifelhaft, ob sie harmloses Wetterleuchten oder ein Unheil drohender Strahl. Als sie sich Perennis wieder zukehrte, spielte mattes Lächeln um ihren Mund. »Keineswegs großmüthig,« wiederholte sie, »ich möchte das von Ihnen verstanden wissen, um jedem Dank auszuweichen. Stellen Sie in den Vordergrund, daß bestimmte Zwecke mich leiten, und Ihre letzten Bedenken werden schwinden.« Wiederum das matte Lächeln, und ehrerbietig grüßend empfahl sich Perennis.

Auf dem Flurgange trat Lucretia ihm entgegen. Trotz des dürftigen Lichtes des hereinbrechenden Abends, welches durch die Vorhänge der Glasthür noch gedämpft wurde, erkannte er sie. Von seiner Anwesenheit im Hause unterrichtet, hatte sie ihn erwartet, und kaum schloß die Thür sich hinter ihm, als sie mit herzlicher Vertraulichkeit ihm beide Hände reichte.

»Wegerich ist nicht zu Hause,« sprach sie leise, »er mag bald eintreffen, kann auch länger fortbleiben. Er weiß, zu welchem Zweck die Marquise um Ihren Besuch bat, gewiß erführe er gern den Erfolg der Verhandlungen.«

»So wollen wir ins Freie hinausgehen,« antwortete Perennis, dem freundlichen Mädchen den Arm bietend, »sollte ich den Alten heute nicht mehr sprechen, so versetze ich Sie in die Lage, ihm genauen Bericht zu erstatten. Kommen Sie, Lucretia, wer weiß, ob es mir noch öfter beschieden ist, wie an dem heutigen Abend, die Rechte eines treuen Verwandten für mich in Anspruch zu nehmen, denn voraussichtlich bin ich nach vierzehn Tragen weit von hier.«

»So ist die Reise beschlossen?« fragte Lucretia mit einem so rührenden Ausdruck der Besorgniß und des Bedauerns, daß Perennis unwillkürlich ihren Arm fester an sich drückte.

»Fest beschlossen,« antwortete er wie mit Widerstreben, »und darin liegt das ganze Resultat meiner Unterredung mit der Marquise; ja, ich muß fort; unabweislich sind die Verpflichtungen gegen Todte wie gegen Lebende, welche auf mich übertragen wurden.«

Sie waren hinausgetreten. So lange sie sich im Bereiche der in abendlicher Ruhe vor ihren Thüren sitzenden Leute befanden, die alle höflich grüßten, schwiegen sie. Erst als sie außerhalb des Hofes sich in der Richtung nach der Stadt langsam einherbewegten, nahm Perennis das Gespräch wieder auf.

»Innige Freude gewährt es mir,« hob er an, »wenigstens eine Seele hier zu wissen, welche mich ungern scheiden sieht und mit den Empfindungen verwandtschaftlicher Anhänglichkeit des späteren Wiedersehens gedenkt. Es stählt meinen Muth der Gedanke, daß die Weltreise, welcher mich zu unterziehen ich im Begriff stehe, auch für Sie von günstigen Erfolgen begleitet sein wird.«

»Nichts weiter erbitte und erwarte ich, als ungestört in meinem jetzigen Asyl leben zu können,« antwortete Lucretia zutraulich, »selbst die Menschen, welche mir als Gesindel geschildert wurden, flößen mir nicht länger Scheu ein. Ich hoffe zuversichtlich, sie zu bewegen, durch Anlage kleiner Gemüsefelder ihre Verhältnisse etwas sorgenfreier zu gestalten. Die armen Leute, es bedarf bei Ihnen nur der Anleitung, und sie zeigen sich gefügig, wie Kinder.«

»Eine ebenso schöne, wie dankbare Aufgabe, zu welcher ich Ihnen von Herzen Glück wünsche. Wies ich indessen auf Ihre Zukunft hin, so dachte ich weiter hinaus. Ich muß nothgedrungen eine Angelegenheit berühren, von welcher ich nicht weiß, ob Sie gern auf ein Gespräch über dieselbe mit mir eingehen. Zuvor klage ich mich an, in den Besitz eines Geheimnisses, und zwar zufällig und ohne mein Dazuthun gekommen zu sein, um welches, außer Ihnen, nur noch eine einzige Person weiß.«

»Ein Geheimniß?« fragte Lucretia unschuldig. Sie erschrak und fügte verwirrt hinzu: »ich verstehe jetzt, ach, sprechen Sie nicht von ihm, tadeln Sie ihn auch nicht. Er ist gewiß von dem aufrichtigsten und besten Willen für mich erfüllt, freilich, seitdem er aus dem Verhältniß eines Lehrers und Hausfreundes meiner Eltern in das,– ich bringe es ja nicht über die Lippen– fürchte ich ihn ein wenig. Er behauptet zwar, es könne nicht anders sein, ich würde mich an Alles gewöhnen, allein das mag sehr, sehr lange dauern; am liebsten denke ich gar nicht daran.«

»Um so gebotener erscheint es, gemeinschaftlich mit unbefangenem Blick Ihre Lage zu prüfen,« versetzte Perennis, unendlich milde durch das ihm entgegengetragene offene Vertrauen berührt, »bin ich doch Ihr einziger Verwandter, und als solcher doppelt berufen, wo nur immer möglich, mit treuem Rath Ihnen zur Seite zu stehen, Sie zu beschützen.«

»Bedarf ich denn weiteren Schutzes?« fragte Lucretia ängstlich, »und ich glaubte, so ruhig sein zu dürfen; denn das, was Herr Splitter wünscht– o, es werden, nein, es müssen noch sehr viele Jahre hingehen, bevor ich– ich erklärte es ihm selber, und ich weiß, er achtet meinen Willen«– sie stockte. Perennis fühlte, daß sie, wie aus Furcht vor einem Phantom, sich fester an ihn anschmiegte.

»Der Gedanke an das Verhältnis mit Ihrem Verlobten beängstigt Sie,« nahm Perennis einfallend das Wort, »das aber ist am wenigsten eine Bürgschaft für Ihren Seelenfrieden. Ist doch möglich, daß Sie, allein und schutzlos in der Welt dastehend, ohne den Rath einer Mutter oder mütterlichen Freundin, bisher kein Verständnis für das besaßen, was von Ihnen gefordert wurde. Jetzt hingegen sind sie da angelangt, wo Sie Ihr Herz fragen müssen: Sagt das Ihnen, daß Sie sich übereilten, daß Sie sich über Ihre Empfindungen täuschten, ahnungslos den aus der Kindheit mit herübergenommenen Einflüssen zu sehr nachgaben, dann ist es Ihre Pflicht, ein Verhältniß zu lösen, welches Sie elend zu machen droht, in einem solchen Falle aber am wenigsten geeignet wäre, das Glück desjenigen zu begründen, dem sie sich verlobten.«

»Er war schon mein Freund, als ich noch ein Kind,« erklärte Lucretia nach kurzem Sinnen, »freilich, seitdem ist es anders geworden. Mir ist, als könnte ich nicht mehr mit demselben offenen Vertrauen zu ihm emporschauen, wie in früheren Tagen. Seine Augen blicken nicht mehr wie sonst, fremdartig klingen die Worte, die er an mich richtet.« »Was hindert Sie, die alten Zeiten zurückzurufen? Ihm zu sagen, daß es wieder so sein solle, wie früher? Verdient er aber die Achtung, welche Sie ihm zollen, so wird er keinen Augenblick zaudern, Ihnen die Freiheit zurückzugeben.«

»Mein Versprechen zurückzunehmen?« fragte Lucretia zaghaft, »nein, ich kann es nicht.«

»Auch nicht, wenn Sie zu der Ueberzeugung gelangen, daß Ihre Vereinsamung, ich darf sagen: Ihre Unerfahrenheit bis zu einem gewissen Grade mißbraucht wurde?«

»Er trieb keinen Mißbrauch, nein, ich kann es nicht glauben. Er meinte nur, daß ich erwachsen sei und unsere Freundschaft einen andern Charakter erhalten müsse, wenn unser Verkehr nicht abgebrochen werden solle, und dann, nun ja, er wies darauf hin, daß ich mich ihm verloben müsse; er sprach so ehrlich, so treu, und ich ging darauf ein.« »Darf ich fragen, wie Sie jetzt mit ihm stehen?«

»Aus mancherlei Gründen bat ich ihn, dem Karmeliterhofe fern zu bleiben. Ich erklärte ihm, daß es wohl vieler Jahre bedürfe, um mich mit meiner neuen Lage vertraut zu machen, und das ist– mein Trost.«

»Erlauben Sie, daß ich diese Angelegenheit zwischen ihm und mir zur Erörterung bringe? Daß ich ihn darauf aufmerksam mache, wie wenig glückverheißend eine Verbindung–«

»Nein, nein,« bat Lucretia bestürzt, »ich möchte ihm nicht wehe thun, möchte ihn nicht betrüben, er baut so fest auf mein Wort, ich kann nicht anders; und er stört mich ja hier nicht, ich machte es ihm zur Bedingung, nur im äußersten Nothfalle mich auf dem Karmeliterhofe aufzusuchen.«

»Gut denn,« versetzte Perennis ernst, und es schnitt ihm durch die Seele, das arme Mädchen immer mehr als das Opfer hinterlistiger Ueberredung und der eigenen Gewissenhaftigkeit betrachten zu müssen, »ich habe kein Recht, mich noch tiefer in Ihr Vertrauen einzudrängen. Aber einen Rath muß ich Ihnen ertheilen, und es geschieht aus tief besorgtem Herzen: Wie auch immer die Verhältnisse sich gestalten, in welche Lage Sie versetzt werden mögen: Den letzten entscheidenden Schritt, nach welchem jede Umkehr unmöglich, vermeiden Sie bis zu dem Tage, an welchem ich hierher zurückkehre. Es sei fern von mir, Sie anders stimmen zu wollen, wenn Sie wähnen, ihrem Glück entgegen zu gehen; allein Sie aufzufordern, sich zuvor zu prüfen, das ist meine Pflicht. Gewöhnliche Theilnahme, welche nur so lange lebt, wie das Auge ins Auge schaut, ist es nicht, was mich mit Besorgniß erfüllt, was, wenn ich erst in der Ferne weile, die schwärzesten Befürchtungen in mir rege halten wird. Ich wiederhole daher noch einmal dringend: Mißtrauen Sie allen Menschen; räumen Sie keinem Einfluß, auch nicht einem aus frühester Kindheit herstammenden, eine entscheidende Gewalt über sich ein. Lassen Sie Alles so auf sich beruhen, wie es heute steht. Ein Mehr verweigern Sie standhaft. Kehre ich dann zurück, gleichviel mit welchem Erfolge, und Sie erklären mir, Ihrem Verwandten und treuesten Freunde, daß Sie von der Erfüllung eines im fast zu jugendlichen Alter gegebenen Versprechens eine glückliche Zukunft, eine von herben Erinnerungen freie Zufriedenheit der Seele erwarten, dann, meine theure Lucretia, bin ich der Erste, der Ihnen seine herzlichsten und eifrigsten Wünsche entgegenträgt, und mehr noch: der den Gatten Ihrer Wahl als einen willkommenen Verwandten begrüßt, alles in seinen Kräften Stehende aufbietet, Ihre Zukunft freundlicher, sorgenfreier zu gestalten.«

Lucretia antwortete nicht. Ob ein Vergleich zwischen den Vorstellungen Splitters und den Rathschlägen des Freundes an ihrer Seit ihren Geist beschäftigte, wer hätte es errathen! Was wußte das heitere, anspruchslose kindliche Gemüth von Empfindungen, welche das Herz zum Herzen gesellen? Was von Sehnen und Bangen nach Demjenigen, welcher seine Stellung als väterlicher Freund in unedler Weise ausnutzte und ihr auch nach dieser Richtung hin als ihr scharf urtheilender, um ihre Wohlfahrt besorgter Lehrer erschien? Blindlings hatte das arglose Herz geglaubt, daß es in kindlicher Anhänglichkeit und Dankbarkeit Alles besitze, was erforderlich, um gemeinsam mit ihm durchs Leben zu wandeln. Sie ahnte nicht, daß ihr instinktartiges Sehnen, jenen ihre Zukunft endgültig abschließenden Schritt in unbestimmte, sogar unberechenbare Ferne hinauszuschieben, eine Probe, welche Splitters Vorstellungen Lügen strafte; noch weniger, daß in dem wachsenden Vertrauen zu Perennis eine neue Bürgschaft keimte, daß sie bisher getäuscht worden, in ihrer gänzlichen Rathlosigkeit sie sich selbst täuschte.

»Sie rathen mir das, was ich selbst am meisten wünsche,« antwortete sie träumerisch, »nämlich erst dann mein Versprechen zu erfüllen, wenn ich–« sie stockte, fügte aber schnell gefaßt hinzu: »nachdem erst eine Reihe von Jahren vergangen. Einmal werde ich freilich den Schritt thun müssen, obwohl der Gedanke daran mich mit Bangigkeit erfüllt, aber sicher nicht früher, als bis Sie zurückgekehrt sind. Stehe ich doch so allein in der Welt; Sie sind mir Mutter und Vater, Sie sind mir Alles; und was auch an mich herantreten mag, allen Anforderungen werde ich damit begegnen, daß ich ohne Ihre Zustimmung keine Entscheidung treffen darf.«

»Daran halten Sie fest« versetzte Perennis, und das Herz blutete ihm in der Voraussicht, das holde und bisher noch so wenig selbstständige Mädchen bis zu einem gewissen Grade der Willkür eines offenbar ehrlosen und kalt berechnenden Charakters überlassen zu müssen; »seien Sie aber auch eingedenk, daß Sie im vollen Besitz eines freien Willens, keine Macht der Erde Sie zu etwas zwingen darf, was Ihnen widerstrebt, nicht im Einklänge steht mit den Regungen Ihres Herzens.«

»Wie Sie mich trösten und beruhigen,« entgegnete Lucretia tief aufseufzend, und mit kindlicher Unbefangenheit ergriff sie Perennis' Hand, dieselbe zärtlich zwischen ihren beiden drückend, »mir ist, als sei ich jetzt gerüstet, allen nur denkbaren Widerwärtigkeiten zu begegnen.«

In ihr Gespräch vertieft, hatten sie einen weiten Weg zurückgelegt. Der Karmeliterhof mit seinen wenigen matten Lichtern war längst hinter ihnen in Nacht versunken. Andere Lichter, die Vorstadt bezeichnend, tauchten vor ihnen auf.

»Es wird Zeit zur Umkehr,« hob Perennis nach einer kurzen Pause an, und der Ton seiner Stimme gab die wehmüthigen Betrachtungen wieder, welche durch Lucretia's vertrauensvolles Geständniß wachgerufen worden waren, »Wegerich scheinen wir nicht begegnen zu sollen.«

»Oder er kehrte auf dem Rheinufer heim,« versetzte Lucretia einfallend, und sie blieb stehen, um den Rückweg einzuschlagen, »wie die Zeit entfloh; wer wird mich auf solchen freundlichen Spaziergängen begleiten, wenn Sie erst fern sind? Ich fürchte, sie werden mir ganz versagt bleiben.«

»Bis zu meiner Heimkehr muß Wegerich genügen,« antwortete Perennis heiter, wie um zu verheimlichen, daß er mit Bedacht jede Mahnung an Splitter vermied, »und wie bald ist ein Jahr dahin, und welche Freude, wäre meine Ankunft das Signal, den Karmeliterhof aus seiner Asche neu erstehen zu lassen.«

Und wiederum legten sie eine größere Strecke schweigend zurück. Beide schienen zu träumen, sich rücksichtslos den Betrachtungen hinzugeben, welche gewissermaßen eine Fortsetzung ihres Gesprächs. Von den abgesondert liegenden Höfen, auch von dem Karmeliterhofe drang das Bellen der Hunde herüber. Heimatlich klang es, heimatlich wie das Wispern der großen, grünen Heuschrecken, welche hier und dort von der auf ihrer rechten Seite sich ausdehnenden Hecke und den hinter derselben sich erhebenden Bäumen, ihre endlosen Triller niedersandten. Sie beachteten nicht das gedankenlose Bellen der Hunde, nicht das einfältige Geschwätz der Grillen. Sie beachteten nicht, daß auf einer besonders schattigen Stelle der Hecke es im Laub und zwischen den Zweigen geheimnißvoll knisterte. In welcher Beziehung hätte es zu ihnen stehen können? Und doch verstärkte sich das Rauschen, sobald sie aus Hörweite getreten waren, und dem Schatten entwanden sich zwei Gestalten, welche schon, als sie den Hof verließen, ihnen von der Gartenmauer aus argwöhnisch nachspähten, dann in sicherer Entfernung folgten, und sie demnächst in ihrem Versteck wieder an sich vorübergehen ließen. Von den zwischen den beiden jungen Leuten gewechselten Worten, hatten die beiden Lauscher kein einziges verstanden; aber daß sie so vertraulich Arm in Arm gingen, reichte hin, daß der eine mit den Zähnen knirschte und kaum noch auf die Bemerkung seines Begleiters achtete.

»Er bringt sie nach Hause,« bemerkte der rothköpfige Wodei, »und liegt Ihnen d'ran, sie zu sprechen, so kann ich sie herausrufen.«

»Nein, heute nicht mehr,« antwortete Splitter mit verhaltenem Grimm, »wer weiß, sie möchte es ablehnen; die Luft ist schon kühl. Nein, ein ander Mal. Sagen Sie nicht, daß ich hier gewesen bin. Es möchte sie betrüben, erführe sie, ihr Verlobter habe vergeblich die Gelegenheit zu einer kurzen Zusammenkunft gesucht.«

»Ihre Verlobte?« fragte der Rothkopf, das mit Berechnung hingeworfene Wort schnell auffassend.

»Schon seit Jahren. Ich erstaune, daß es nicht längst auf dem Karmeliterhofe bekannt geworden. Herr Rothweil scheint es ebenfalls nicht zu wissen oder vielmehr nicht wissen zu wollen; er würde sich sonst bedenken, den guten Ruf seiner jungen Verwandten leichtfertig aufs Spiel zu stellen.«

»Sie selbst hat es ihm nicht gesagt?« fragte Wodei lauernd.

»Weil ich davon abrieth. Ich habe meine Gründe dafür. Das arme Kind kann sich derartiger Zudringlichkeiten wohl nicht gut erwehren. Verwandte glauben nämlich, sich mehr herausnehmen zu dürfen, als andere Menschen, und deshalb müssen wir solche Zusammenkünfte hindern. Sehen mögen sie sich so viel sie wollen, allein in einer Weise, daß böse Zungen keine Gelegenheit zu nachtheiligen Ausschmückungen finden. Sie wissen, ich verlange keinen Schritt umsonst. Sollten Sie erfahren, daß Herr Rothweil auf dem Hofe ankehrt, so behalten Sie ihn scharf im Auge. Nimmermehr darf ich dulden, daß ein unschuldiges junges Mädchen den Launen des ersten besten leichtsinnigen Mannes geopfert wird. Doch ich will mich nach Hause begeben. Was sollte ich noch auf dem Karmeliterhofe? Sie aber beeilen sich, die Beiden einzuholen und, wenn möglich, nach dem Hofe hinauf zu begleiten.«

Zähneknirschend und ohne eine Erwiderung abzuwarten, schlug er die Richtung nach der Stadt ein. Wodei lachte vor sich hin, indem er gemächlich dem Hofe zuschritt.

»Zerreißt der sich um sie,« sprach er in Gedanken, »und wenn sie ihn nicht will, sondern 'nen Andern, so helfen ihm keine zehn Schildwachen. Verdammt; zwischen ihm und dem neuen Herrn kann ihr die Wahl nicht schwer werden; und 'n gutherziges Ding ist's obenein, mit den lachenden Augen und den freundlichen Worten.«

Gesenkten Hauptes verfolgte Splitter seinen Weg heimwärts. Im Bewußtsein der eigenen Ohnmacht, knirschte er immer wieder mit den Zähnen. Nie in seinem Leben sehnte er sich mehr nach Reichthum, als gerade in dieser Stunde. Und wäre er im Besitz einer nur mäßigen Summe gewesen, mit Freuden hätte er sie hingegeben, um Perennis die Reise zu ermöglichen und ihn damit aus seinem Wege zu schaffen. Denn war der erst fort, so hatte er freies Spiel, konnte er den Einfluß auf Lucretia wieder befestigen, welcher durch das Dazwischentreten des muthmaßlichen Erben augenscheinlich so schwer erschüttert worden war.

»Er ist noch nicht Erbe,« entwand es sich den fest aufeinander ruhenden Zähnen, »der Tod kann ihn auf seiner Fahrt ereilen, dann aber tritt sie in seine Rechte ein, sie und derjenige, dem sie angehört, und so gut, wie er allein, finden wir zu zweien den Weg ebenfalls.«

Sein Lispeln ging in feindseliges Lachen über. Mitten in demselben brach er ab. Er meinte, Schritte hinter sich vernommen zu haben. Bestürzt blieb er stehen. Es schwebte ihm vor, daß Perennis seine Eile beschleunigt habe, um ihn einzuholen. An ein Ausweichen war nicht mehr zu denken. Der Versuch dazu mußte auffälliger erscheinen, als wenn er ihn unbeachtet vorüberließ. Vielleicht wurde er gar nicht erkannt und auf den möglichen Gruß brauchte er, um seine Stimme zu verheimlichen, nicht zu antworten.

So schwirrten seine Gedanken durcheinander, als die ihm schnell folgende Gestalt sich von der Dunkelheit trennte.

»Guten Abend, Herr Sebaldus Splitter!« ertönte Gertruds helle Stimme.

Von einer Fremden, zumal von dem Irrwisch, beim vollen Namen angerufen zu werden, erweckte Besorgniß in ihm. Entsann er sich doch nicht, dem wilden, spottlustigen Mädchen jemals näher getreten zu sein. Nicht einmal dessen Namen kannte er.

»Guten Abend,« antwortete er daher zurückweisend. Er wollte seinen Weg allein fortsetzen, als Gertrud an seine Seite trat.

Nach einer flüchtigen Unterredung mit Wodei, welchem sie auf ihrer Heimkehr von der Marquise begegnete, befand sie sich offenbar in der muthwilligsten Laune; denn ihre Bewegungen nach denen Splitters abmessend, sprach sie mit beißendem Spott:

»Weshalb besuchten Sie Ihren Schatz heute nicht?«

»Ich verstehe Sie nicht?« erwiderte Splitter ergrimmt über die unerhörte Zudringlichkeit.

»So will ich es Ihnen sagen,« fuhr Gertrud sorglos fort, »weil ein Anderer Ihnen zuvorkam, und Sie sich mit dem Andern nicht messen können. Es ist erstaunlich, was ich Alles weiß, Herr Sebaldus Splitter, aber ich brauche nur ein Auge hinzuschlagen, und was ich nicht sehe, errathe ich.«

»Dann kümmern Sie sich um Dinge, die Sie näher angehen.«

»Sie möchten mich los sein, Herr Sebaldus Splitter, und gerade das kümmert mich nicht. Was ich reden will, rede ich, ohne Sie um Erlaubniß zu fragen. Besucht Jemand seinen Schatz, so kommt er am hellen Tage und nicht des Nachts, um ihn zu belauschen.«

»Wer sagt das? Sie sind eine unverschämte Person.«

»So? Meinen Sie? Das Schimpfwort soll Ihnen leid werden. Wären Sie höflicher gewesen, hätte ich einen guten Rath für Sie gehabt. Jetzt aber seien Sie auf Ihrer Hut. Sie haben mir den Krieg angesagt, und dafür sollen Sie den Irrwisch fürchten lernen.«

»Ihr unverlangter Rath wäre gewesen?«

»Es mit mir so zu machen, wie der Herr Rothweil mit Ihrer schönen Braut. Ich wäre ein geeigneterer Schatz für Sie gewesen; ich hätte mich nicht lange knechten lassen; dagegen wären Sie mein getreuer Diener geworden. Gute Nacht, Herr Sebaldus Splitter! Träumen Sie von dem wilden Fischermädchen, von der barfüßigen Rheinnixe, von dem verrufenen Irrwisch!« Hell lachte sie in die Nacht hinaus, indem sie von ihm fortschritt. Dann sich noch einmal umkehrend: »Ich hasse Sie, Herr Sebaldus Splitter! Sie haben einen schleichenden Gang und Eidechsenaugen! Herr Rothweil ist dagegen mein Freund, und für das Mädchen lasse ich mein Leben! Gute Nacht, Herr Sebaldus Splitter! Ei, welch schöner Name! Ueber's Jahr frage ich bei Ihnen an, ob ich eine Unverschämte bin!« und leichtfüßig einhereilend, verschwand sie in der Dunkelheit.

Splitter war keiner Erwiderung fähig. Stumm und in sich gekehrt verfolgte er seinen Weg. Vergeblich suchte er zu ergründen, auf welche Weise Gertrud so genaue Kunde über sein Verhältniß zu Lucretia erhalten hatte. »Für eine im Schlamm der Sittenlosigkeit zur Reife gelangte Person giebt es noch Mittel, sie unschädlich zu machen,« sprach er , wie um sich dadurch zu ermuthigen, vor sich hin. Haß und Wuth verzehrten ihn, indem er auf dem gewundenen Pfade in den alten Festungsgraben hinabstieg, um auf der andern Seite desselben seinen Weg zwischen den ersten Häusern der Vorstadt fortzusetzen.


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