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»Also hier wohnte der Onkel,« brach Perennis nach einer längeren Pause das Schweigen, und mit Theilnahme betrachtete er den mit Büchern und Heften bedeckten Schreibtisch. Ein ledergepolsterter Armstuhl stand vor demselben, als hätte sich eben erst Jemand von der Arbeit erhoben.
»Hier wohnte er und leider nur zu kurze Zeit,« bestätigte Wegerich. »Seinem Wunsch gemäß bleibt Alles in alter Ordnung. Wer hätte damals geahnt, daß unsere Trennung eine so lange werden würde!«
»Sie rechnen noch immer auf seine Heimkehr?«
»Zuversichtlich, denn dieses ist ein Magnet, der ihn nach sich zieht, und lägen der Jahre fünfzig zwischen heute und dem Tage seiner Abreise,« und Wegerich zeigte auf die an den Wänden befestigten Tragbretter, auf welchen römische Krüge, Thonlampen, Thränenfläschchen und mit Grünspan überzogene metallene Geräthe und Reste von solchen, sorgfältig geordnet nebeneinander standen und lagen.
»Und doch trennte er sich davon,« bemerkte Perennis träumerisch.
»Es wurde ihm schwer genug,« erwiderte Wegerich, »aber er mußte hinaus in die Welt, um sich zu zerstreuen, sich mit ganzer Seele auf das zu werfen, was noch allein im Stande, seinen Geist zu fesseln.«
»Wohin wendete er sich?«
»Er packte eines Tages seinen Koffer, ertheilte mir einige Rathschläge und dampfte mit nächster Gelegenheit den Rhein hinunter. Sein letztes Wort an mich war. ,Erhalten Sie mir den Karmeliterhof und sparen Sie keine Mittel; nach achtzehn Monaten bin ich zurück.' Ich maße mir allerdings kein Urtheil über ihn an – das wäre undankbar – allein woher sollte ich Mittel nehmen, nachdem er, um Reisegeld zu beschaffen, den Hof sammt Zubehör bis auf das letzte Sandkorn verpfändete? Ich versuchte es wohl mit dem Ertrage des Gemüsegartens, stand aber davon ab, weil die Arbeitskräfte fehlten. In meiner Noth sah ich keinen anderen Ausweg, als in den leeren Gebäuden kleine Wohnungen einzurichten und zu vermiethen. Die angenehmste Nachbarschaft ist dadurch nicht herbeigezogen worden, dagegen befinde ich mich in der Lage, jedes Mal die fälligen Hypothekenzinsen zu entrichten und für den eigenen Bedarf eine Kleinigkeit zu erübrigen.«
»Und diese langen Jahre hindurch sind Sie nicht müde geworden, gegen das sich stets erneuernde Mißgeschick anzukämpfen?«
Wegerich sah erstaunt auf Perennis. Dann eilte ein schwermütiges Lächeln über seine verwitterten, pergamentartigen Züge.
»Was hätte ich thun sollen?« fragte er kindlich einfach, »von hier fortgehen und das Vertrauen des Herrn Rothweil täuschen? Und wer hätte einen Mann in meinen Jahren noch in seinen Dienst nehmen mögen.«
»Klagten Sie ihm nicht Ihre Noth?«
»Wohin hätte ich meine Briefe senden sollen? Außerdem hoffte ich von Tag zu Tag auf seine Heimkehr.«
»Sie wissen also nicht, wo er sich befindet?« fragte Perennis ungläubig.
»Ich weiß nur, daß er sich in Amerika aufhält, und Amerika ist groß.«
»So empfangen Sie wenigstens Nachricht von ihm?«
»Von Zeit zu Zeit, und dann tragen die verschiedenen Briefe den Stempel von Poststationen, die Hunderte von Meilen weit auseinanderliegen. Bald heißt es Kansas, bald St. Louis, bald Texas oder Kalifornien, und kein einziges Mal vermerkte er, wie es sonst Sitte, im Briefe selbst Ort und Datum. Ich möchte mir kein Urtheil über ihn erlauben, und von Herzen gönne ich ihm die Erholung nach den herben Tagen, aber mir erscheint, als wolle er mit Bedacht die letzte Möglichkeit abschneiden, Nachrichten von hier zu empfangen. Vielleicht scheut er gerade die Schilderungen der hiesigen Verhältnisse am meisten.«
»Wie schreibt er? Spricht Zufriedenheit aus seinen Briefen? Ich gedenke nämlich der Möglichkeit, daß er sich zurücksehnt, ihm aber die Mittel zur Heimreise fehlen,« versetzte Perennis träumerisch.
Wegerich schnellte mit einem Lächeln der Ueberlegenheit ein Stäubchen von seinem Rockärmel.
»Herr Rothweil in Noth?« fragte er ungläubig, »im Gegenteil,« fügte er sogleich hinzu, »seine äußere Lage würde ihm am wenigsten die Heimkehr erschweren. Bis jetzt schrieb er in jedem Briefe, daß er Schätze auf Schätze häufe; beziehe ich das aber auf die vielleicht aufgefundenen Alterthümer, so klingt dagegen unzweideutig, wenn es heißt: ,Geizen Sie nicht, scheuen Sie kein Mittel, mir den Karmeliterhof zu erhalten. Mich beschäftigt ein Unternehmen, durch welches ich in die Lage versetzt werde, zehn Karmeliterhöfe vom Fundament aus neu aufzubauen und die Gärten wieder in ein Paradies zu verwandeln.‹«
»Das schrieb er?«
»Schon vor Jahren.«
»Und das vielversprechende Unternehmen gelangte nicht zum Abschluß?«
»Bis vor etwa fünfzehn Monaten nicht, so lange ist es her, als ich die letzte Nachricht erhielt – aber gerade in diesem Briefe bemerkte er ausdrücklich: ›wer hätte je geahnt, daß die von vielen Seiten verlachte Liebhaberei mich noch einmal zum reichen Manne machen würde! Ich brauche nur noch die Hand auszustrecken, um in den Besitz eines fürstlichen Vermögens zu gelangen.‹«
»Seitdem hörten Sie nichts mehr von ihm?«
»Nichts mehr. Sein langes Schweigen ist indessen nicht befremdlich. Wer weiß, sein Unternehmen mag längst Erfolg gekrönt haben, er selber sich aber auf dem Heimwege befinden. In jeder Stunde kann er eintreffen.«
Perennis sah grübelnd vor sich nieder. Die Mittheilungen des alten Mannes klangen zu märchenhaft, um nicht den Verdacht einer von Seiten seines Onkels mit den wohlwollendsten Absichten ausgeführten Täuschung wachzurufen. Auch die Möglichkeit seines Todes schwebte ihm vor, doch vermied er, dieselbe anzudeuten. Als er nach einer Weile emporsah, fiel sein Blick auf eine dichtverhangene Thür.
»Ein guter Schutz gegen winterliche Kälte,« sprach er wie beiläufig, indem er auf den mit verblichenem grünem Fries überzogenen Holzrahmen zeigte.
»Es soll dadurch nur der Schall gedämpft werden,« ging Wegerich sogleich auf die neue Unterhaltung ein. »Eine ähnliche Vorrichtung wurde auf der anderen Seite getroffen, ein Werk der Bewohnerin der angrenzenden Räume, um sich gegen Störungen, vielleicht auch gegen Lauscher geschützt zu wissen. Eine merkwürdige Dame, sogar unheimlich; allein sie zahlt eine hohe Miethe, so daß ihr Verweilen auf dem Karmeliterhofe eine Lebensfrage für mich geworden ist.«
»Das Fischermädchen, welches mit uns kam, sprach von einer Marquise?«
»Das ist dieselbe Dame. Mehrere Jahre nach der Abreise Ihres Herrn Onkels traf sie eines Tages hier ein. Sie suchte eine ländlich abgeschiedene Wohnung, und da einigten wir uns schnell. Sie ist gewiß sehr vornehm, auffällig erscheint dagegen, daß sie, trotz des zunehmenden Verfalls ihrer Umgebung, und trotz des oft sehr geräuschvollen Gesindels auf dem Hofe, sich heimisch hier fühlt. Zu ihren Spaziergängen wählt sie stets Wege, auf welchen sie am wenigsten der Begegnung mit anderen Menschen ausgesetzt ist.«
»Ihr Geist ist vielleicht gestört?«
»Anfänglich fürchtete ich dergleichen; doch bald genug überzeugte ich mich vom Gegentheil. Ich bedaure sie oft mit ihrem Hange zur Einsamkeit. So lange sie hier wohnt, erlebte ich nie, daß Jemand sie besuchte. Höchstens Dieser oder Jener aus der Stadt, der für ihre Lebensbedürfnisse sorgte.«
»Und das wilde Fischermädchen?« versetzte Perennis gespannt.
»Der Irrwisch,« antwortete Wegerich, ja von dem läßt sie sich bedienen schon an die neun oder zehn Jahre. Sie fand bereits Wohlgefallen an dem Mädchen, als es kaum über den Tisch zu sehen vermochte. Stundenlang behält sie es bei sich, und was die Beiden treiben, mag Gott wissen.«
»Vielleicht unterrichtet sie es?«
»Ich wüßte nicht, worin; denn heute ist die Gertrud noch genau solch schadenfroher Irrwisch, wie an dem Tage, an welchem sie zum ersten Mal auf dem Hofe erschien und mit dem ernsthaftesten Gesicht von der Welt fragte, ob der Teufel Erbsen auf meinem Gesicht gedroschen habe.«
»Ihr Großvater betreibt die Fischerei. Ich lernte ihn kennen, bevor wir nach dem Hofe heraufkamen.«
»Auch er erfreut sich der Gunst der Frau Marquise, und außer ihm wohl kein Mensch mehr. Stundenlang sitzt sie bei ihm am Wasser, ohne daß ein Wort zwischen ihnen gewechselt würde. Einer ist immer noch finsterer, als der Andere.«
Perennis hatte sich erhoben, und war an das Giebelfenster getreten. Vor ihm senkte sich der grüne Abhang, der Tummelplatz seiner ersten Kinderjahre, dem Rheinufer zu. Doch wo waren die schönen Tannen und Ahornbäume geblieben, welche damals den schattigen Hintergrund bildeten? Wo die Rüstern und Kastanien, welche sich mit Akazien zu malerischen Gruppen einigten? Nur noch elendes hartes Gras, reich durchschossen mit Unkraut, war sichtbar, und wirre Dickichte, entsprossen den Wurzeln jener stattlichen Bäume, welche nun schon vor langen Jahren sich vor der unbarmherzigen Axt neigten, um zu Brennholz geschlagen zu werden. Seine Blicke suchten eine kahle Fläche, überdacht von zwei kräftigen Kastanien. Sinnend betrachtete er die kleine Stätte. Vor seinem geistigen Auge erstand eine Ligusterlaube, welche die beiden Bäume verband. Inmitten der Laube erhob sich ein Tisch von feinem Sandstein. Eine junge Mutter saß vor demselben, umringt von frohen Kindern. Ja, da saßen sie Alle wieder, auch diejenigen, welche sammt der Mutter längst die Erde deckte. Doch nein, einer fehlte, der älteste, der flachsköpfige Taugenichts mit den Gliedern, die einer Bulldogge zur Ehre gereicht hätten. Wo war er, sein eignes Ich im Flügelkleide? Die Blätter der Kastanien rauschten vor einem abirrenden Luftzuge, verschwunden war die Wehmuth erzeugende Vision. Schutt und Moder überall; Unkraut und wildwuchernde Wasserreiser und verwitterte Pfannenziegel, durch Stürme und Regengüsse dem morschen Dach entführt, um nicht wieder ersetzt zu werden. Wie sehnte er sich nach dem Anblick der ihm vom Zufall in den Weg geführten jungen Verwandten! Hastig kehrte er sich um. Neben dem Schreibtisch stand Wegerich, ihn mit unverkennbarer Wehmuth betrachtend.
»Unser Schützling wartet,« redete er ihn an, und wie sich der weichen Stimmung schämend, trat er an ihm vorbei auf die Thür zu. Als er öffnete, lachte sein Herz beim Anblick Lucretia's. Der Tisch war für drei Personen gedeckt. Alle Schubfächer und Winkel hatte sie durchforscht, um es zu ermöglichen. Ihr gutes Antlitz glühte vor Eifer und Stolz. Sie erröthete noch tiefer, als sie in Perennis' bewundernde Augen schaute. Um seinem Blick auszuweichen, sah sie an ihm vorbei auf den alten Mann. Freundlich nickte sie ihm zu, sobald sie entdeckte, daß zwei große Thränen sich den grauen Augen entwanden und langsam über die hageren Wangen rollten. –
Während Perennis und Wegerich in dem Arbeitszimmer des alten Rothweil mit gedämpften Stimmen ihre Gedanken austauschten, während sie bald darauf vor einem einfachen Kartoffelgericht saßen und mit ihrer jungen Wirthin so heiter plauderten, als wären sie seit Jahren unter demselben Dach vereinigt gewesen, und während sie endlich in die umfangreichen Gärten hinauswanderten, die nur noch in den verwitterten Ringmauern Spuren einer früheren, verschwenderischen Bewirthschaftung zur Schau trugen, befand Gertrud, der unstete Irrwisch sich noch immer bei der Marquise.
»Guten Morgen Gertrud,« hatte diese sie angeredet, als sie nach längerem Aufenthalt in der Küche bei ihr eintrat. »Guten Morgen, Frau Marquise,« antwortete Gertrud unbefangen, jedoch ehrbar und mit einer tiefen, augenscheinlich sorgsam geschulten Verneigung, »ich brachte Fische; sie sind geschuppt und zugerichtet, brauchen nur noch in die Pfanne gelegt zu werden.«
»Später, Gertrud; Du weißt, vor vier Uhr esse ich nie. Wir haben also volle zwei Stunden Zeit zur Arbeit.«
Auf Gertruds Antlitz prägte es sich wie zügellose Begeisterung aus und eine von Zugluft entführte Daune hätte nicht geräuschloser über den dickwolligen Teppich hingleiten können, als sie auf ihren nackten Füßen in das Schlafgemach zurückeilte.
Die Marquise sah ihr nach. Es gewann den Anschein, als ob ihre dunkeln Augen einen wärmeren Glanz erhielten, erzeugt durch den Anblick der geschmeidigen Gestalt und den Eifer, mit welchem sie ihren Anordnungen Folge leistete. Heller noch, wenn auch nur flüchtig, leuchtete es in denselben auf, als nach einigen Minuten Gertrud wieder in der Thür erschien und sich abermals, jetzt aber mit ausgebreiteten Armen und noch tiefer verneigte. Die Weinranke schmückte noch immer ihr Haupt, von welchem das leicht gelockte goldblonde Haar, nunmehr der letzten Fesseln baar, bis auf ihre Hüften niederströmte. Das Kattunkleid hatte sie abgelegt; dafür einen faltigen, jedoch kaum bis an ihre Kniee reichenden Rock von etwas verblichener hellblauer Seide um ihre schlanke Taille festgeschnürt. Den Oberkörper umhüllte allein das weiße, bauschige Hemde, und zwar so lose, daß bei der leisesten Bewegung ihre schönen Körperformen sichtbar zu Tage traten. Außerdem hatte sie leichte, tief ausgeschnittene Schuhe angelegt und sandalenartig um die zierlichen Knöchel befestigt. Und so stand sie da, wie eine junge Bacchantin, welche nur auf das Zeichen harrt, um mit erglühendem Antlitz und leidenschaftlich funkelnden Augen sich in ein Meer berauschender Genüsse hinabzustürzen, Alles mit in den Freudentaumel hinein zu reißen, was nur einen Augenblick dem Zauber ihrer Erscheinung unterworfen gewesen.
Einige Sekunden verharrte sie in der ehrerbietig grüßenden Stellung. Sobald aber die Marquise nach einem scharf prüfenden Blick billigend das Haupt neigte, schnellte sie, wie von Federkraft getrieben empor. Ungezwungen, jedoch jede Bewegung sorgfältig abwägend, schritt sie nach der einen Zimmerecke hinüber, und hinter ein Rococospinde greifend, zog sie eine ungefähr drei Fuß lange glatte Stange hervor, deren beide Enden durch eine aufgerollte hänfene Leine miteinander vereinigt waren. Nachdem sie diese geordnet hatte, stellte sie einen Stuhl mitten ins Zimmer. Mit Leichtigkeit sprang sie auf denselben. Ebenso leicht warf sie die Leine über den zum Tragen einer Ampel bestimmten Haken, so daß die Stange wagerecht vor ihr niederhing. Immer mit derselben Geschäftigkeit entfernte sie den Stuhl, rollte sie den Teppich zur Seite und holte sie eine Fußbank herbei, in deren rund ausgefeilte Grifföffnung sie eine fünf Fuß hohe Stange schob, welche von unten bis oben und von halbem zu halbem Fuß mit fingerlangen Sprossen versehen war. Dieses seltsame Gerüst stellte sie in geringer Entfernung von der ihr bis an die Schultern reichenden Schwebestange auf, worauf sie diese mit beiden Händen ergriff. Wie spielend erhob sie sich auf die äußersten Zehenspitzen; dann den rechten Fuß nach dem Gerüst ausstreckend, ließ sie dessen Spitze ein Weilchen auf der untersten Sprosse ruhen; ebenso auf der zweiten und dritten bis sie endlich die vorletzte erreichte, wo der Fuß sich in gleicher Höhe mit der Hüfte befand.
Die Marquise überwachte sie unterdessen von ihrem Stuhl aus aufmerksam. Sie neigte sich ihr sogar ein wenig zu, wie um aus dem schönen bräunlichen Antlitz herauszulesen, welchen Aufwand an Kraft die schwierige Stellung kostete. Als Gertrud aber fortgesetzt sorglos lächelte, glühte es wie erwachender Enthusiasmus aus den kalten Augen, und durch die zart aufgetragene Schminke hindurch verrieth sich, wie das Blut in den alten Adern plötzlich wieder jugendlich kreiste.
»Gut, Kind, sehr gut,« lobte sie, des offenen Fensters wegen ihre Stimme vorsichtig dämpfend, »nun laß den linken Fuß auf die ganze Sohle zurücksinken, aber langsam, um die Spannung allmälig zu verschärfen und dem Körper zugleich einen festeren Halt zu gewähren – so – so – ha, Kind, wie lange dauert es, und Du legst die Fußspitze auf die oberste Sprosse, ohne Dich ferner mit den Händen zu stützen.«
»Ich könnt's heute«, antwortete Gertrud stolz, und zum Beweise stieß sie die Schwebestange von sich, sie beim Zurückfliegen ergreifend und abermals von sich stoßend.
»Zu früh, noch zu früh,« belehrte die Marquise, »Du mußt zuvor so sicher sein, wie Dein Großvater auf seinem Rasensitz vor dem Netz, oder wir erleben eine Verrenkung, welche Dich gänzlich unbrauchbar macht. Du hast ein Beispiel an mir,« und ihre Stimme bebte, erhielt aber sogleich ihren metallenen Klang zurück, »und ich war mehr, als doppelt so alt, wie Du, als das Unglück über mich hereinbrach.«
Sie sah vor sich nieder.
»Es hätte anders kommen können,« lispelte sie unbewußt, und wie erschrocken über ihren Ideengang, blickte sie wieder auf Gertrud.
»Vermeide die spitzen Ellenbogen,« fuhr sie fort zu unterweisen, jede Biegung muß zart abgerundet sein. Eine einzig eckige Form oder Bewegung vernichtet das ganze Bild – so – Gertrud – ist's doch, als ob ich mich selber in meinen jungen Jahren sähe. Auch ich war gelehrig, und dennoch, was hilft alle Gelehrigkeit, wenn's nicht im Blute liegt.« Die letzten Worte lispelte sie wieder, und lauter fügte sie hinzu: »Schiebe die linke Hand rechts, stütze den rechten Arm auf dieselbe und lege das Kinn in die offene Hand – so – und nun eine Viertelwendung des Oberkörpers nach links – gut so – bleibe so stehen.«
Sie lehnte sich zurück, neigte das Haupt ein wenig zur Seite, wie um dadurch ihren Blick zu verschärfen und ihre Schülerin genauer zu betrachten. Und es war in der That ein Anblick, um welchen Götter sie hätten beneiden mögen. Denn es kam nunmehr nicht allein die dürftig bekleidete tadellose Gestalt im vollsten Maße zur Geltung, sondern es offenbarte sich auch in deren Ausdruck so viel Liebreiz, natürliche Anmuth und Ungezwungenheit, daß es kaum befremdete, sie so lange, ohne zu ermüden, in der im Grunde widernatürlichen Stellung verharren zu sehen.
»So ist's gut,« lobte die Marquise wieder nach einer Pause, »und nun laß uns plaudern. Solltest Du ermüden, so bekämpfe es so lange wie möglich. Gerade im Kampfe mit körperlichen Schmerzen bildet sich ein fester Wille aus, und den gebrauchst Du für Deinen Beruf, willst Du nicht, wie eine Eintagsfliege, beim ersten Emporschwingen mit versengten Flügeln zurücksinken. Ein Jammer war's um Dein Talent gewesen, hätte es im Alltagsleben ersticken müssen.« Und wiederum nach einer Pause, offenbar um Gertruds Gedanken von der ihr aus der gezwungenen Stellung erwachsenden Pein abzulenken. »Dein guter Engel gab Dir's ein, daß bei unserer ersten Begegnung Du der hinkenden Marquise nachäfftest. Du warst ein schwaches Kind, aber Deine Gewandtheit belehrte mich über das, was in Dir steckte. Wenn ich längst in meinem Grabe modere, wirst Du mir es noch danken.« Schon heute thue ich das,« antwortete Gertrud in ihrer wilden, spöttischen Weise, »wenn ich nur darüber reden dürfte. Allen Menschen möcht' ich's erzählen.«
»Um verhöhnt zu werden, »fiel die Marquise gehässig ein, und ihr Blick erstarrte wieder vorübergehend, »zeige, was Du verstehst, und man bewundert Dich; sage, was Du verstehen möchtest, und Spott ist Dein Theil. Nein, die Sache bleibt ein Geheimniß zwischen uns Beiden bis zu dem Tage, an welchem Du die Gabe, starke Männer in Deine Sklaven zu verwandeln, vor der Welt zum ersten Mal offenbarst, oder ich ziehe meine Hand von Dir zurück. Hüte Dich also, jemals eine Silbe über Das verlauten zu lassen, was Du hier treibst. Die größte Gefahr liegt für Dich darin, wenn Du auf das leere Liebesgeflüster Jemandes lauschest, der Dich bethören möchte. Vergiß nicht: falsch und treulos sind alle Männer; ich hoffe, Du hast Deine Blicke noch auf keinen geworfen.«
»Nein, Frau Marquise,« beteuerte Gertrud mit einem überzeugenden Ausdruck der Wahrheit, und in ihren prachtvollen Augen funkelte es hell auf, »ich will keinen Mann, brauche keinen, hasse alle Männer.« Sie säumte und schloß die Augen halb, als sei eine Vision vor ihrem Geiste vorübergezogen. Der Marquise entging diese Bewegung nicht. Aber sie wußte, daß wenn empfangene äußere Eindrücke dieselbe bedingten, sie innerhalb der letzten vierundzwanzig Stunden zu suchen seien; denn so lange war es erst her, als dieselbe Frage von dem Mädchen mit gleichsam zügelloser Leidenschaftlichkeit unzweideutig beantwortet wurde. Gertrud stieß ein spöttisches und doch glockenreines Lachen aus und fuhr fort: »Ein Mann meines Standes ist mir zu gering – was sollte ich mit einem Tölpel, nachdem ich eine vornehme Dame geworden? Ein feiner Herr aber sieht auf den Irrwisch, wie ich selber draußen auf die hungrigen Hunde des Rothkopfs.«
»Recht so, Kind,« billigte die Marquise, Gertrud noch immer argwöhnisch beobachtend, »und wenn Du fühlst, daß es sich beim Anblick dieses oder jenes Mannes in Deinem Herzen regt, dann reiße solche gefährlichen Empfindungen ohne Bedenken mit der Wurzel heraus, um nicht später dafür zu leiden; ich weiß nicht, ob Du mich verstehst.«
»Ich weiß es selber nicht,« antwortete Gertrud mit gepreßter Stimme, während es vor Schmerz um die frischen Rosenlippen zuckte, »darf ich die Stellung wechseln?« fragte sie zwischen den fest aufeinanderruhenden Zähnen hindurch.
»Kannst Du's nicht länger ertragen?«
»Ich ertrag's, bis mir das Blut aus den Augen springt und ich umfalle; aber die Folgen?«
Die Marquise sah mit aufrichtiger Bewunderung in das Antlitz, welches sich unter dem Einfluß der qualvollen Stellung im Kampfe um Selbstbeherrschung dunkler färbte.
»So wechsle denn,« sprach sie eintönig, »aber nicht übereilt. Schwinge den Fuß in derselben Höhe nach vorn, vollführe eine halbe Wendung, erhebe Dich auf die Zehenspitzen und laß den Fuß, ohne das Knie zu beugen, langsam zur Erde nieder.«
Unter gewaltigen Anstrengungen führte Gertrud die vorgeschriebenen Bewegungen aus. Das Knie, welches die Last des Körpers trug, zitterte wohl krampfhaft, allein wirksamer, als der ihr ertheilte Rath, war der eigene Wille. Ohne die anmuthige Haltung oder gar das Gleichgewicht des geschmeidigen Körpers auch nur einen Augenblick zu stören, zog sie den freien Fuß neben den rastenden, worauf sie sich auf beiden Fußspitzen, wie von einer unsichtbaren Gewalt gedreht, der Marquise wieder zukehrte.
»Vortrefflich,« lohnte diese die graziöse Wendung, »das übersteigt meine Erwartungen. In Dir steckt die Willenskraft eines Mannes. Ist sie angeboren, so wurde sie gestählt durch das Ertragen einer rauhen Behandlung im zarten Kindesalter. Hege und pflege Deine Energie; wer weiß, wozu sie Dir noch einmal nützt. Denn was ist rauhe Behandlung, was körperliche Qual im Vergleich mit endloser Seelenpein?«
Gertrud, durch das ihr gespendete Lob angefeuert, schob das Gerüst nach der anderen Seite hinüber, und die Füße wechselnd, nahm sie die frühere Stellung wieder ein. Auf ihrem charakteristischen Antlitz ruhte ein triumphirendes Lächeln. Die Lippen hielt sie, ein krampfhaftes Ziehen in den Gelenken bekämpfend, ein wenig geöffnet, daß die weißen Vorderzähne sichtbar wurden, und als sie dann zu sprechen anhob, klang ihre Stimme ruhig, wie bei Jemand, der sich in der bequemsten Lage befindet.
»Es ist ein Gast auf dem Karmeliterhofe eingetroffen,« begann sie sorglos, doch hafteten ihre Blicke scharf beobachtend an den kalt prüfenden Augen der Marquise, »ein Mädchen in meinem Alter, und bei dem Wegerich hat's sein Unterkommen gefunden. Lucretia Nerden heißt es, und mit dem Herrn Rothweil ist es verwandt.«
»Woher weißt Du dies Alles?« nahm die Marquise die Unterhaltung sofort wieder auf.
»Das Mädchen sah ich mit meinen eigenen Augen, und was ich nicht aus dem Gespräch zwischen den Zweien erfuhr, das hörte ich durch die Glasthür.«
»Zwischen welchen Zweien?«
»Ein Mann begleitete die Lucretia hierher. Auch seinen Namen erfuhr ich. Er ist ein schöner Mann, wie man nicht vielen begegnet.«
Fester richtete die Marquise ihre Blicke auf das bräunliche Antlitz. Nicht der leiseste Zug desselben verrieth, daß der Argwohn, welcher kurz zuvor in ihr erwachte, in Beziehung zu diesem Fremden gebracht werden konnte. Gertrud lächelte mit allem ihr von der Natur verschwenderisch zur Verfügung gestellten Liebreiz. Hinter diesem Lächeln aber überlegte sie, wenn auch ohne ernstere Beweggründe, die Form ihrer ferneren Mittheilungen, um deren Wirkung auf ihre Gönnerin kennen zu lernen.
»Also ein schöner Mann und ein schönes junges Mädchen?« forschte die Marquise.
»Ob das Mädchen schön ist, weiß ich nicht; mir hat's nicht gefallen.«
»Dafür gefiel Dir der Mann um so besser?«
»Anfänglich nicht. Jetzt, wenn ich an ihn denke, freilich etwas mehr. Er hat eine eigene Art des Redens. Ich fürchtete mich vor ihm, sonst hätte ich anders mit dem Mädchen gesprochen.«
Durchdringend, wie um gewaltsam in ihrem Innern zu lesen, sah die Marquise in die unter der Weinranke hervorlugenden schönen Augen.
»Du fürchtetest ihn,« entwand es sich fragend den schmalen Lippen, »Das klingt wunderbar. Es geschieht zum erstenmal, daß Jemand Dir Scheu einflößt.«
»Gerade deshalb hasse ich ihn. Ich hasse alle Menschen, die mich bedauern.«
»Weshalb bedauert er Dich?«
»Vielleicht weil ich barfuß ging. Aber ich will's ihm gedenken, ihm und dem Mädchen, welches heute schon vor mir zitterte.«
Auf dem Antlitz der Marquise kämpfte es seltsam. Bald gewann gehässige Schadenfreude, bald Mitleid das Uebergewicht. Starr hingen ihre Blicke an den dämonisch sprühenden Augen. Sie schien Gertruds Willenskraft zu berechnen, eine Kraft, gepflegt im zartesten Kindesalter durch Hunger und Noth, durch die unverstandenen Martern, welche sie selbst in Verfolgung eines bestimmten Ziels ihr bereitete. Eine Kraft, erstarkt durch erfahrene Zurücksetzungen auf den Schulbänken, bevorzugteren Altersgenossinen gegenüber, tausendfach erprobt, wenn es galt die wahren Empfindungen zu verheimlichen, dankbar zu lächeln, wo sie hätte laut aufweinen mögen. Eine Kraft, die nunmehr auf der Grenze angelangt war, aufweinen es sich entscheiden mußte, ob sie ihr selbst und Andern zum Segen gereichen sollte, oder zur Quelle der gegentheiligen Folgen bestimmt war. Gertruds Antlitz hatte wieder eine tiefere Farbe angenommen. Indem sie die Zähne aufeinanderpreßte, wichen die Lippen wieder ein wenig von denselben zurück. Schärfer traten die Muskeln an den zart abgerundeten Gliedern hervor, ohne indessen das schöne Ebenmaß zu beeinträchtigen. Hin und wieder zitterte die eine und die andere convulsivisch unter den an sie gestellten schweren Anforderungen. Tiefer senkte sich der unverhüllte jungfräuliche Busen und höher hob er sich. Der Blick aus den dunkelblauen Augen, welche den Eindruck von schwarzen hervorriefen, erstarrte allmälig, indem er, wie um neue Kraft aus denselben zu schöpfen, sich fest auf die Züge der Marquise heftete. Ein Dämon und ein Engel reichten sich in der Seele des wilden Mädchens die Hand, daß es in diesen Minuten unter sichtbaren Qualen den Gesetzen der Natur gewissermaßen Hohn sprach.
»Also ein schöner junger Mann,« sprach die Marquise endlich wieder eintönig.
»Jung mag er sein; ob schön, das weiß ich nicht,« stieß Gertrud förmlich hervor.
»Wechsle,« befahl die Marquise, nicht blind dafür, daß Gertruds Kraft bei der langen Dauer der mit Leichtigkeit angenommenen Stellung erlahmte, »schlage den rechten Fuß über den Unken, stütze die Arme und richte Dich höher.«
Ohne Uebereilung zog Gertrud den erhobenen Fuß nach sich. Bevor derselbe den Boden berührte, drehte sie sich blitzschnell um sich selbst, und ein Jünger der edelsten Plastik hätte kein schöneres Modell zu einer sinnenden Nymphe erträumen können, als sie in der vorgeschriebenen Stellung bot, indem sie, die Schwebestange als Stützpunkt benutzend, das weinumrankte Haupt auf ihre ineinandergreifenden Hände neigte.
»Du erfuhrst seinen Namen?« eröffnete die Marquise alsbald wieder das Gespräch in der Absicht, Gertrud leichter über die schmerzhaften Folgen der Ueberanstrengung hinwegzuhelfen.
»Ich erfuhr ihn,« gab Gertrud gleichmüthig zu, aber in dem funkelnden Leopardenblick, der unter den Weinblättern hervorschoß, bekundete sich, daß ihr Gleichmuth ein erkünstelter; »Perennis nannte er sich selber; der Wegerich redete ihn mit Rothweil an.«
Ihre Augen schweiften nachlässig in eine andere Richtung. Scharfsinnig errieth sie, daß die Marquise in diesem Augenblick nichts dringender wünschte, als von Niemand, selbst von ihr nicht, beobachtet zu werden. Denn die Erwähnung des Namens Rothweil, in Verbindung mit der Schilderung einer jugendlichen Persönlichkeit, hatte wie ein vernichtender electrischer Strom auf sie eingewirkt. Ihre aufrechte Haltung bewahrte sie zwar, aber der Glanz ihrer Augen erlosch; tiefer senkten sich die sonst kaum bemerkbaren Altersfurchen in Stirn und Wangen, einen gewissen leichenhaften Charakter erzeugend, der unheimlich zu der künstlichen, frischen Hautfarbe kontrastirte. Als Gertrud nach einer Weile wieder zu ihr hinübersah, hatte die Marquise ihre volle Selbstbeherrschung zurückgewonnen.
»Perennis Rothweil,« sprach sie nachdenklich, und wunderbar schnell ebneten die Furchen sich wieder, »das kann nur ein Neffe des Besitzers dieses Hofes sein. Mir ist, als hörte ich einst von ihm, also er gefiel Dir?« und flüchtiger noch, als zuvor der Ausdruck jähen Schreckens über ihr Antlitz eilte, loderte es jetzt wie Triumph auf demselben auf.
»Gar nicht gefiel er mir,« erklärte Gertrud, ihrer eigenthümlichen Neigung zum Widerspruch unüberlegt nachgehend, denn der schnelle Wechsel in dem Wesen der Marquise verwirrte sie; »nachträglich finde ich ihn sogar abscheulich; bei nächster Gelegenheit sag ich's ihm selber.«
»Er begegnete Dir unfreundlich?« »Er begegnete mir gar nicht,« floß es lebhaft zwischen den trotzig emporgekräuselten üppigen Lippen hervor, »denn das einfältige Ding an seiner Seite in dem sauberen Kleide gefiel im so viel besser.«
»Woraus schließt Du das?«
»Weil er mich abschütteln wollte, sobald ich nur ein Wort an das furchtsame Ding richtete.«
»Schon eifersüchtig,« dachte die Marquise.
Ein Lächeln der Befriedigung spielte um ihren Mund. Es wurde verdrängt durch den Ausdruck des Zweifels, welchem alsbald wieder die theilnahmslose eisige Ruhe folgte.
»Ich weiß nicht, was mich heute ermüdet,« bemerkte sie nach einer Pause, indem sie einen Blick aus dem Fenster warf, »die Freiübungen wollen wir morgen nachholen. Die heutigen Anstrengungen haben wir ohnehin beinah bis über die äußersten Grenzen hinausgetrieben –«
»Ich könnte noch,« versetzte Gertrud einfallend, und aus jeder Linie ihres erglühenden Antlitzes sprach Enttäuschung.
»Du könntest noch, aber mir wäre es unbequem,« schnitt die Marquise jeden Widerspruch ab; »willst Du etwas Besonderes thun, so suche fleißig Gelegenheit, Dich nach dem Takte der Musik, wenn auch nur in einfachen Tänzen, zu bewegen. Dein Ohr, ich möchte sagen, Dein ganzes Gefühl für Musik, und sei es Dorfmusik, muß ebenso geübt werden, wie Dein Körper, und dazu fehlen uns die Mittel. So sicher mußt Du werden, daß Du sogar jeden unregelmäßigen Takt, und hörtest Du die Musik zum erstenmal, vorher ahnst.«
»Nächstens ist Kirmeß in Rheinberg; da tanze ich drei Tage und drei Nächte.«
»Uebertreib's nicht, und vor allen Dingen verheimliche die edlere Kunstfertigkeit – doch nun gehe und kümmere Dich ums Mittagessen.«
Gertrud antwortete nicht. Mit derselben Gewandtheit, mit welcher sie die Schwebestange befestigt hatte, entfernte sie dieselbe wieder. Flüchtig rollte sie den Teppich auseinander, dann begab sie sich in das Schlafzimmer. Die Blicke der Marquise folgten ihr mit tiefer Spannung. Was hinter diesem verschlossenen Antlitz vorging, wer hätte es errathen! Wer hätte geahnt, was sie trieb, ihr letztes mildes Fühlen auf ein im Straßenstaube herangewachsenes Kind zu übertragen, neben den Regeln einer die Augen und die Sinne bestrickenden Kunst, dem jugendlich zügellosen Gemüth solche Grundsätze und Anschauungen einzuprägen, wie ähnliche sich oft erst nach einem langen Leben bitterer Täuschungen und herben Entsagens ausbilden, dann aber sich in langsam wirkendes Gift verwandeln.
Indem Gertrud um den Thürpfosten herumbog, entdeckte die Marquise, wie sie mit einer hastigen Bewegung die Weinranke von ihrem Haupte riß und zur Seite schleuderte. Als sie nach einigen Minuten im langen Kattunrocke wieder in der Thür erschien, hatten die sinnenden Blicke der Marquise ihre Richtung noch nicht geändert. Aber als sei die freundliche Theilnahme, welche sie kurz zuvor für das wilde Mädchen, oft nur im Tone ihrer Stimme offenbarte, von der äußeren Hülle abhängig gewesen, wich jetzt jeder andere Ausdruck, als der einer unnahbaren Kälte, von ihrem Antlitz, aus ihrem Wesen. Doch auch Gertrud bekundete, daß die langjährige, streng überwachte Aufgabe, mit der Bekleidung gleichsam ihre ganze Natur zu wechseln, ihr zur Gewohnheit geworden. Mit beinahe trotziger Ehrerbietung fragte sie die Marquise nach weiteren Befehlen, und als diese eintönig, anscheinend aus ihrem Buche herauslas, daß sie allein und ungestört zu sein wünsche, warf sie das schöne Haupt stolz in den Nacken, und die Arme über der Brust verschränkend, begab sie sich in den Küchenraum hinaus.
Sobald die Thür des Schlafzimmers hinter ihr zufiel, neigte die Marquise sich tiefer über das Buch. Ihre Blicke hingen wohl noch an den Zeilen, aber starr und regungslos, wie bei einem Marmorgebilde. Eine gewaltige innere Bewegung mußte es sein, was plötzlich ihren Rücken beugte, ihr seit vielen Jahren zum erstenmal wieder die Selbstbeherrschung raubte. Lange saß sie still. Erst als Gertrud erschien, um den Tisch zu decken, ermannte sie sich. Hin und wieder warf sie einen Blick auf das regsame und sich anmuthig tragende Mädchen, aber so kalt, so eisig, als ob nach den jüngsten Seelenkämpfen die letzte milde Regung in ihr gestorben wäre. Eine Stunde später schritt Gertrud munter über den Hof. Der Rothkopf sah wieder aus dem Fenster und rauchte seine Pfeife.
»Du bist ein Tagedieb,« redete Gertrud ihn an, »sollte ich Dich aber einmal um einen kleinen Dienst bitten, so schlägst Du mir es nicht ab.«
»Du müßtest nicht der Irrwisch sein, wollte ich für Dich Pech und Schwefel scheuen.«
»So sei vor allen Dingen höflich gegen die fremde junge Dame, die hier eingezogen ist.«
»Ich bin höflich gegen Jedermann.«
»Bist Du's nicht, so vergifte ich Deine drei Hunde, und mit Deinem Viehhandel hat's für 'ne Zeit sein Ende.«
Der Rothkopf lachte.
»Adjes, Rothkopf,« sprach Gertrud im Davonschreiten, »mögen die Leute reden was sie wollen, ein schöner Mann bleibst Du doch.«
»Und Du der lustigste Irrwisch, der je über einer Sumpfhütte tanzte. Wär's Dir recht, möchte ich Dich 'ne Strecke begleiten.«
»Wer hindert Dich?« fragte Gertrud, und sie lachte, als hätte sie es von hinterlistigen Kobolden gelernt gehabt. Sobald aber der Rothkopf vom Fenster zurücktrat, um sich ihr zuzugesellen, warf sie die zerzausten Weinranken unter die wüthend aufbellenden Hunde, und das leere Fischnetz fortgesetzt im Kreise schwingend, stürmte sie wie ein Pfeil nach dem Fluß hinunter.
Als der Rothkopf im Freien erschien, war sie nirgend zu erblicken.
»Dieser Irrwisch,« sprach er verdrossen vor sich hin, »den Rothkopf vergess' ich Dir eben so wenig, wie die Nase, die Du mir drehtest,« und träge schwankte er in seine Wohnung zurück.
Gertrud aber saß hinter ihrem Großvater im Schatten der Weiden. Das Geld für die Fische hatte sie ihm eingehändigt. Nur noch einige Netzzüge wollte sie beobachten, und dann mit dem erleichterten Korbe heimwärts wandern. Wie ein harmloses, muthwilliges Kind saß sie da. Die jüngsten Ereignisse, ihre Beziehungen zu der Marquise, Alles schien sie vergessen zu haben. Ein Grashalm befand sich in ihren zierlichen, gebräunten Händen. Nachlässig und ohne dabei irgend etwas zu denken, zog sie ihn bald von der einen, bald von der andern Seite zwischen ihren blendend weißen Vorderzähnen hindurch, daß er, wie vor Wonne und Schmerz laut pfiff und kreischte.