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Grämlich hatten die Hunde angeschlagen, als Lucretia und Wegerich bei ihnen vorüberschritten. Dann umlagerte wieder Stille den Karmeliterhof. Was in dem Kelterhause noch munter war, hatte nicht viel Lust zur Unterhaltung, und wo Zwei mit einander plauderten, da schien es, als hätten sie ihre Worte nicht über die nächste Umgebung hinaus dringen lassen wollen. So verrann eine Stunde und noch eine. Dann verstummte das letzte Geräusch, verdunkelte sich das letzte Fenster auf dem Hofe. Nur aus den beiden Fenstern des Eckzimmers im zweiten Stockwerk des Wohnhauses drang noch ein matter Schimmer zwischen den schweren Vorhängen hindurch ins Freie. In regelmäßigen Pausen verdunkelte sich bald dieses, bald jenes, je nachdem Jemand in dem Zimmer auf und abwandelte und vor dem Licht vorüberschritt.
Und wiederum verstrich eine halbe Stunde, als es im Osten an dem sternenklaren Himmel geheimnißvoll zu wirken begann. Der Mond näherte sich den unregelmäßigen Linien des Horizontes. Mildes Licht entströmte scheinbar der malerischen Berggruppe; schärfer zeichneten sich Haine, Gebäude und Mauern vor dem helleren Hintergrunde aus. Als habe der Wechsel der Beleuchtung schlummerndes Leben geweckt, ertönte der klagende Ruf des Käuzchens. Leise rauschte es im Dickicht, welches den wüsten Garten vom Uferwege schied. Gleich darauf erschien eine gebeugte Gestalt im Freien. Wieder mit Bedacht den Schatten der Bäume suchend, näherte sie sich dem Giebel des Wohnhauses. Unterhalb der erhellten Fenster blieb sie stehen. Einige Sekunden zögerte sie; dann schwang sie den rechten Arm nach oben, und es ertönte das knisternde Geräusch, mit welchem grober Sand von den Glasscheiben abprallte. Das Licht erlosch, das eine Fenster öffnete sich, und zwischen den Blumentöpfen hindurch fragte die Marquise niederwärts:
»Ginster, sind Sie es?«
»Ich bin es, gnädige Frau,« antwortete der alte Fischer, »soll ich hinaufkommen?«
»Nein, Ginster, es ist eine schöne Nacht, ich möchte mich ein Wenig im Freien bewegen.«
Schweigend schlich der Fischer nach dem Stromesufer hinunter. Das Fenster schloß sich, und Todesschweigen herrschte wieder ringsum. Selbst das Käuzchen, zuvor durch den Fischer gestört, schwieg. Endlich ertönte das Geräusch, mit welchem Jemand die schwere Hausthür öffnete und schloß. Wurde auf dem Hofe der Eine oder Andere dadurch veranlaßt ans Fenster zu treten, um sich von der Ursache der Störung zu überzeugen, so suchte er sicher eben so schnell sein Lager wieder auf, sobald er an der schleppenden und schwankenden Bewegung die Marquise erkannte. Man hatte sich an die Seltsamkeiten der geheimnißvollen Hausgenossin gewöhnt, so daß es nicht mehr befremdete, sie zu irgend einer Stunde der Nacht ihre einsamen Spaziergänge antreten zu sehen. Selbst die Hunde achteten ihrer kaum, als sie an ihnen vorbei, langsam vom Hofe hinunter und dem Strome zuschritt. Vor der alten Pferdeschwemme, von wo aus sie den dunkeln Wasserspiegel weit aufwärts und abwärts zu überblicken vermochte, trat Ginster ihr entgegen.
»Das ist eine wunderbare Nachricht,« redete er die Marquise an, indem er zum Gruß seine Mütze zog, sich aber sogleich wieder bedeckte, »hab's nicht glauben wollen; aber die Gertrud trug's mir zu, und der hat's der rothe Wodei zugeschworen mit allen heiligen Eiden.«
»Die Eide des rothen Tagediebes sind nicht mehr werth, als der widerwärtige Schrei des Vogels,« antwortete die Marquise eintönig, und sie blickte dem über sie hinschwebenden schattenähnlichen Käuzchen träumerisch nach, »doch das Stehen ermüdet. Es sind der Anstrengungen am heutigen Tage ohnehin beinah zu viel für mich gewesen. Begleiten Sie mich an eine Stelle, auf weicher wir ungestört bleiben.«
Ginster kehrte sich schweigend um und begab sich auf dem Wege der halb vergessenen Pferdeschwemme nach dem Wasser hinunter. Seine Bewegungen mäßigte er vorsichtig, daß die Marquise ihm bequem zu folgen vermochte. Unten, hart am Rande des Wassers, auf dem glatt gespülten Sande, schlug er die Richtung stromaufwärts ein, und nach einigen Minuten erreichte er die Stelle, auf welcher, gegen die Strömung durch einen tief in den Fluß hineinreichenden Damm geschützt, sein Netz in der Tiefe ruhte.
»Niemand stört uns hier,« wendete er sich an seine Begleiterin, »hier mögen die gnädige Frau bequem genug sitzen,« und er wies auf eine Art Rasenbank neben seiner Laube, welche er durch eine Schicht frischer Weidenzweige etwas erhöht hatte. Dann hob er sein Netz, und nachdem er es wieder in die Fluthen hinabgesenkt hatte, trat er vor die Marquise hin.
»Setzen Sie sich zu mir,« sprach diese, neben sich auf die Bank zeigend, »je schmaler der Zwischenraum zwischen uns, um so weniger brauchen wir unsere Stimmen zu erheben. Was kümmert es die Menschen, wenn wir miteinander plaudern. Ich habe erlebt, daß das leiseste Flüstern meilenweit vom Winde getragen wurde, das Wasser sogar Dinge verrieth, die man am liebsten für sich behalten hätte.«
»Er ist also todt,« versetzte Ginster, indem er sich schwerfällig niederließ, »ich hab's vermuthet alle die Jahre, daß er den Karmeliterhof nicht wiedersehen würde.«
»Und ich dachte nie daran und noch weniger hätte ich es gehofft,« entgegnete die Marquise; sie verstummte und blickte nach der Berggruppe auf dem jenseitigen Ufer hinüber, wo eben der halbe Mond einer Schluchtsenkung zwischen den Höhen entstieg. Gleichzeitig blitzte es in den wirbelnden Fluthen auf, und tanzend glitten bläuliche Reflexe von Welle zu Welle, bis sie einen Lichtstreifen über den ganzen Strom hinzogen.
»Wer hätte es vorausgesehen,« begann die Marquise nach einer Pause nachdenklich, wie ihre Worte von dem beweglichen Wasserspiegel ablesend, »alle meine Pläne sind gescheitert, und um neue zu fassen, fehlt mir beinahe der Muth.«
»Was wird's mit dem Karmeliterhofe?« fragte Ginster in seiner grämlichen Weise.
»Ich könnte ihn übernehmen, wenn ich wollte,« antwortete die Marquise anscheinend gleichmüthig, »allein was soll ich damit? Ist's doch, als sollten Sie Recht behalten mit Ihrem Glauben, daß ein Fluch an dem alten Gemäuer hafte.«
»Er klebt daran,« bestätigte der Fischer, »denn ich habe noch Keinen gesehen, der lange glücklich d'rauf gewesen wäre, und ich kann eine ziemliche Zeit denken.«
»Nein, ich möchte ihn nicht an mich bringen,« nahm die Marquise wieder das Wort, »und dennoch können Stunden eintreten, in welchen ich es bedauere, meine Hand nicht darauf gelegt zu haben.« Ein gehässiger Ausdruck lag in ihren letzten Worten. Sie zögerte ein Weilchen, und milder, oder vielmehr klangloser fuhr sie fort: »Ich will wenigstens versuchen, die Hypotheken anzukaufen; ich kann dann ja noch immer thun, was mir beliebt. Hat das Eine nicht sein sollen, mag das Andere noch werden. Sie lernten seinen Neffen, den jungen Matthias oder Perennis Rothweil kennen?«
»Auf dieser Stelle hat er gesessen, und gesprochen habe ich mit ihm.«
»Das wäre ein Mann für die Gertrud.«
Ginster lachte spöttisch.
»Ein feiner Herr,« bemerkte er bitter, »und ein feiner Herr bedankt sich vor einem armen Fischermädchen, namentlich vor einem, welches zu viel von 'ner Dame hat, um eines rechtschaffenen Arbeiters Frau zu werden, und zu wenig, um 'nem vornehmen Herrn zu genügen. Nebenbei steckt in der Gertrud nichts Gutes, und zum Segen gereicht's ihr am wenigsten, daß sie besser mit Büchern Bescheid weiß, als mit Netzeflicken.«
»Das ändert sich oft, Ginster, und die Gertrud ist gut genug. Sie hat Verstand für Zehn – doch mit dem Rothweil meinte ich es nur obenhin. Ich will dem Geschick nicht vorgreifen, weiß überhaupt noch nicht, wie ich über meine Zukunft entscheide.«
»Wie ist er gestorben?«
»Das weiß ich nicht. Ich erfuhr nur aus einer allerdings nicht ganz zuverlässig erscheinenden Quelle, daß er todt sei. Der junge Rothweil muß Genaueres wissen, sogar längst gewußt haben, oder sein plötzliches Auftauchen hier wäre nicht mit dem Eintreffen der Nachricht zusammengefallen. Ich vermuthe, er ist gekommen, um nach seiner Erbschaft auszuschauen.«
»Für Andere,« versetzte der Fischer höhnisch, dann wieder gleichgültiger: »'s wird nicht viel zu erben sein, und wer den Karmeliterhof übernimmt, muß mehr herauszahlen, als er werth ist.«
»Es ist mehr zu erben, als Mancher vermuthet; der Wegerich zeigte mir Briefe, und die waren nicht von Jemand geschrieben, der mit seinen Mitteln zu kargen braucht.«
»Wo starb er?«
»Auf der anderen Seite des Weltmeeres. Den Namen des Ortes, an welchem er zuletzt lebte, kennt selbst Wegerich nicht. Er wurde mit Bedacht verschwiegen, und ich weiß, weshalb.«
»Seinen Grund mag er wohl gehabt haben,« pflichtete Ginster bei, und im Ton seiner Stimme machte sich wieder eine gewisse Feindseligkeit bemerklich, »wenn's aber in der Fremde zu Ende mit ihm ging, werden sich dort auch Leute gefunden haben, die sein Bischen Hab und Gut an sich nahmen, 's kann nicht der Mühe werth sein, deshalb viel zu riskiren.«
»Der junge Rothweil mag sich vom Stande der Dinge überzeugen,« erklärte die Marquise, »und hat der keine Lust, so findet sich wohl ein Anderer. Aber er hält sich für den nächsten Erben und wird daher nicht gern etwas verabsäumen,« und unheimlich klang das Lachen, welches sie dem Lichtstreifen auf dem Wasser zusandte. »Sollte eine Reise ins Ausland nothwendig sein, so entschließt er sich vielleicht weniger leicht; wer weiß, wie es mit seinen Mitteln steht.«
»Und so lange bleibt Alles beim Alten?«
»Voraussichtlich. Wir müssen eben warten, und ich wollte Sie nur sprechen, um zu warnen, daß Sie keine Unvorsichtigkeit begehen.«
»Wie sollte ich zu 'ner Unvorsichtigkeit kommen?«
»Indem Sie sich mehr um den todten Rothweil und seine Hinterlassenschaft kümmern, als unumgänglich nothwendig.«
»Kümmern mich die Lebenden nicht, so gehen die Todten mich noch weniger an.«
»Recht so, Ginster; wie steht Ihres Schwiegersohnes Wittwe mit dem Mädchen?«
»Ich kann nicht klagen,« antwortete Ginster, »sie behandelt die Gertrud, wie sie's dem Kinde meiner Tochter schuldig zu sein glaubt,« er lachte klanglos, bevor er fortfuhr: »Als ihr Mann noch lebte und ihnen eigene Kinder geboren waren, ging's nicht immer so glatt her. Es war wie 'ne Art Neid. Seitdem sie aber Wittwe geworden, hat das Schicksal sie mürbe gemacht. Ist's doch nicht meine eigene Nachkommenschaft, die im Hause heranwächst. Ein fremder Mann freite meine Tochter, und als diese sich in die Erde gelegt hatte, nahm er sich 'ne fremde Frau, und das bedenkt sie. Sie hütet sich, der Trude hart zu begegnen, so lange ich fürs Brot sorge –«
»Ich weiß, ich weiß,« fiel die Marquise ungeduldig ein, »das sind alte Geschichten, und wie ich die Gertrud kenne, läßt sie sich kaum viel sagen.«
»Gewiß nicht, denn in dem Mädchen steckt nichts Gutes; aber es weiß sich zu helfen und mir ist's 'ne Stütze geworden.«
»Die Sie über kurz oder lang verlieren werden, und dann geht es ebenso gut ohne sie. Mir schwirren mancherlei Pläne im Kopfe herum. Zunächst muß die Gertrud so viel lernen, daß sie auf eigenen Füßen steht. Ich lebe nicht ewig, und Sie ebenfalls nicht. Ueber Nacht kann es Einen von uns treffen, und dann ist es zu spät. Sie können ohne mich nichts beginnen, und ich bedarf zu seiner Zeit Ihres Beistandes; denn die Gräber geben ihre Todten nicht heraus, damit sie als Zeugen auftreten.«
»Und Vielen hat der Tod den Mund geschlossen.«
»Um so vorsichtiger müssen die Lebenden sein, aber mag Alles kommen, wie es wolle, die Gertrud darf nicht untergehen. Verstehen Sie mich recht: ohne fremde Hülfe muß sie ihren Weg sich durchs Leben bahnen können; daher seien Sie ihr nicht hinderlich, wenn sie von jetzt ab sich noch weniger zu Hause zu schaffen macht.«
»Sie ist ein wildes Ding, und wenn's ihr nicht paßt, lernt sie verhenkert wenig.« »Es paßt ihr besser, als Mancher vermuthet; sie besitzt einen offenen Kopf, und derjenige, dem ich sie anvertraute, ist der Mann dazu, ihre Wildheit zu bändigen.«
»Schlägt's zu ihrem Besten aus, soll's mir am wenigstens leid sein. Und mit dem Karmeliterhof kümmert's mich nicht, wer ihn sein eigen nennt, so lange ich meine Fischereigerechtigkeit behalte.«
»Die kann Niemand Ihnen abstreiten. Der Verstorbene sicherte sie Ihnen contractlich zu, und ein solcher Handel ist bindend für seine Nachfolger. Nein, so lange Sie leben, versucht Keiner, Ihr Recht zu verkümmern.«
Bei diesen Worten erhob sich die Marquise. Als hätte der höher steigende Mond eine unwiderstehliche Anziehungskraft für sie besessen, blickte sie eine Weile starr nach demselben hinüber. Seine Beleuchtung traf ihr Antlitz voll. In seiner bleichen Regungslosigkeit erinnerte es an das einer Marmorstatue. Die Leidensfurchen hatten sich wieder schärfer ausgeprägt; tiefer waren die großen dunklen Augen in ihre Höhlen zurückgesunken. So stand sie da, aufrecht und hoch, wie um einer drohenden Gefahr trotzig die Stirn zu bieten. Der um ihre Schultern geschlungene Plaid fiel ringsum beinahe bis zur Erde nieder. Das bereits für die Nacht aufgelöste Haar strömte in schwarzen Wellen über Schultern und Rücken und verlieh ihr jenen eigenthümlichen Charakter, wie eine kühne Phantasie ihn vielleicht den sagenhaften Eumeniden zuschreiben mag. Auch Ginster hatte sich erhoben. Minuten verrannen. Die Marquise schien den neben ihr Stehenden vergessen zu haben, so regungslos sah sie nach der jenseitigen Berggruppe hinüber. Ginster schritt nach seinem Damm hinauf, hob das Netz, nahm einen erbeuteten Fisch aus demselben und ließ es wieder leise in die Fluthen hinabgleiten. Die Marquise beachtete es nicht. Er schob den Fisch in den vom Wasser überspülten durchlöcherten Kasten, ließ den Deckel geräuschvoll niederschlagen, und wie aus tiefen Träumen erwachend, kehrte die Marquise sich ihm zu.
»Eine schöne Nacht zum Fischen,« bemerkte sie eintönig.
»Mir ist jede Nacht gut genug, so lange es von oben trocken bleibt,« antwortete Ginster mürrisch.
»Wie die Nachtluft kühl über das Wasser streicht,« versetzte die Marquise, und sie zog den Plaid fester um sich zusammen; »niederlegen mag ich mich noch nicht; ich würde keinen Schlaf finden. Die heutigen Nachrichten haben meine bösesten Erinnerungen wachgerüttelt – wer weiß, wann sie sich beruhigen. Mich fröstelt; lassen Sie uns am Wasser hinwandeln. Geben Sie mir den Arm, daß ich mich auf Sie stütze. Alter paßt zum Alter. Sie sind der Einzige, von dem ich mich führen lasse. Das macht, weil wir dasselbe Geheimniß tragen.« Sie lachte spöttisch, und sich schwerer auf Ginsters Arm lehnend, schlug sie mit ihm die Richtung stromabwärts ein.
Der glatt gespülte Sand bot ihnen eine ebene Bahn; ihr Wegweiser waren die kleinen Wellen des regsamen Stromes, die bläulich glitzernd nach dem feuchten Sande hinaufspielten.
Wohl hundert Schritte legten sie schweigend zurück, die Marquise sinnend das Haupt geneigt, der Fischer wie unter einer schweren Bürde einherschleichend.
»Da soll der Mensch zufrieden sein mit Dem, was ihm vom Geschick zuerkannt wird,« hob die Marquise endlich an, »und doch liegt keine Vernunft in dieser Vertheilung. Der Eine erhält seinen Antheil an glücklichen Tagen in der Jugend, der Andere im Alter, Wer ist besser dran? Ich habe das Meinige genossen, so lange genossen, bis das neidische Geschick einen Riegel vorschob. Eine unvorsichtige Bewegung, und ich war ein Krüppel für Lebenszeit. Warum konnte das Leiden und Grämen nicht in meine jungen Jahre fallen, wie bei der Gertrud?«
»Es giebt Menschen, die unter Kummer geboren werden, unter Sorgen heranwachsen und in Hunger und Elend ihre Augen schließen,« versetzte der Fischer düster, »und die Gertrud hat ihren letzten Tag noch nicht gesehen.«
»Nein, sie hat ihn noch nicht gesehen; aber er läßt sich berechnen. Sie ist dazu geschaffen, bessere Tage zu genießen; ich kenne das, kenne das an mir selber. Auch ich war jung.«
Wiederum schritten sie eine Weile schweigend nebeneinander her, der Fischer schwer tragend an der Last eines langen, mühevollen Lebens, die Marquise an ihrem Gebrechen, Beide an gleicher Verbitterung. Die Pferdeschwemme lag hinter ihnen, und noch immer verfolgten sie ihren Weg stromabwärts.
Plötzlich sah die Marquise empor und zugleich blieb sie stehen. Vor ihnen schob sich einer jener zum Schutz des Ufers von Weidengeflecht und Geröll hergestellten Dämme in den Fluß hinein. Mit grünenden Weiden dicht bewachsen, bot er nur auf dem Rande Gelegenheit, ihn zu umgehen. Vor seiner äußersten Spitze ragten größere Felsblöcke, mit Mühe dorthin geschafft, aus den wirbelreichen Fluthen hervor.
Weiß schimmerten sie im Mondlicht, zwischen ihnen gurgelte und sprudelte es geheimnißvoll. Ein Weilchen lauschte die Marquise; dann ergriff sie heftiges Zittern. Dasselbe mit Gewalt bekämpfend, flüsterte sie anscheinend ruhig:
»So mögen wir umkehren, gnädige Frau.«
»Nein, nicht umkehren. Nein, ich muß mich zuvor an den Anblick gewöhnen. Sehen Sie, wie die Steine leuchten; und das Rauschen und Sprudeln – nein, so kann ich nicht fort von hier – die Steine würden mich als Gespenster bis in den Schlaf hinein verfolgen – hier war's doch, wo sie ihn fanden?«
»Da vorne zwischen den beiden großen Blöcken.«
»Weiter, weiter; ich will es noch einmal hören. Warum mußten wir gerade heute hierhergehen? Das ist mehr als Zufall. Das ist ein Wink des Schicksals, damit ich nicht zur Ruhe gelange, nicht vergesse, warum Alles geschah.«
»Da lag er,« fuhr Ginster unbeschreiblich düster fort; »ich fand ihn zuerst. Man hätte glauben mögen, er sei weiter oberhalb verunglückt und hier angetrieben worden. Er mußte schon mehrere Tage im Wasser gelegen haben. Ein schöner Mann war er noch immer. Man sprach davon, er möchte wohl von 'nem Schiff oder aus 'nem Boot gefallen sein, aber ich wußte es besser, ich und noch Zwei. Mitten durch's Herz hatte er sich geschossen; die Pistole fand ich auf derselben Stelle. Er war eine wilde Natur und mochte wohl viel zu bereuen gehabt haben. Auf den Stein hatte er sich gesetzt, damit's Wasser ihm den Rest gebe, wenn's die Kugel nicht that. Ja, ich fand die Wahrheit heraus, und auch die beiden Anderen; aber wir verschwiegen es um der Schande willen, und das Wasser strömte dort stark und hatte die letzte Blutspur fortgewaschen. Es hieß denn auch, er sei verunglückt, und Niemand kümmerte sich weiter d'rum.«
»So erfuhr Keiner die Wahrheit?«
»Keiner außer mir und den beiden Zeugen, und die hüteten sich, die Geschichte unter die Leute zu tragen; denn ihr Amt wär's gewesen, Alles zur Anzeige zu bringen. Ich selbst aber legte ihn in den Sarg und hätt's nicht über die Lippen gebracht; denn ich gönnte ihm ein ehrliches Begräbniß und war besorgt, daß, wenn's anders kam, er mich Nachts besuchen würde bei meinem Netz. Hab' oft hier herüber geschaut, wenn's die zwölfte Stunde geschlagen hatte, aber der hat seine Ruhe gefunden.«
»Eine Ruhe, die er auch um seiner Liebe willen verdiente, Ginster, mochte er sonst genug gefehlt haben – ja, es hätte wohl anders kommen können, wenn – doch was reden wir über Dinge, die nicht zu ändern sind. Er hat die Ruhe gesucht, weil's an seinem Gewissen nagte und er meinte, das Leben nicht mehr tragen zu können – vorbei, Ginster, vorbei. Er glaubte, nur sich allein aus dem Wege zu schaffen, aber sein unseliger Entschluß kostete Zweien das Leben. O, ich habe es nicht vergessen und werde es nicht vergessen, so lange die Augen mir offen stehen, so lange noch Einer seines Namens athmet. Wie die Steine bleich leuchten im Mondschein, und wie das Wasser plaudert, als möchte es seine letzten Gedanken verrathen – Ginster, ich habe mich jetzt beruhigt; wir wollen gehen.« Dann nach einer Pause, als der Damm bereits hinter ihnen lag: »Das war ein schwerer Tag für mich – wer weiß, es mögen noch schwerere kommen.«
»Heute spricht Niemand mehr davon, was sich hier ereignete.« bemerkte Ginster nach längerem Schweigen, als sie wieder vor der Pferdeschwemme eintrafen.
»Keiner mehr,« antwortete die Marquise eintönig; »Alle sind vergessen und verschollen. Nur wir Beide denken noch daran, und kein Tag vergeht, an welchem wir nicht daran erinnert werden. Nein, ich vergesse nichts,« und leidenschaftlicher erklang ihre Stimme, und einige Schritte legte sie ohne des Fischers Hülfe zurück, als wäre ihr Gebrechen plötzlich geheilt gewesen; »und ist mein Plan gescheitert, so giebt es noch andere Wege, auf welchen ich erreiche, was mir so viele lange Jahre hindurch vorschwebte – nein, eher finde ich meine Ruhe nicht, mag's Anderen immerhin –«
Sie brach ab. Ihre Kraft war augenscheinlich erschöpft; denn wie um sich vor dem Umsinken zu bewahren, ergriff sie des Fischers Arm, durch ihr Gewicht ihn beinah zur Erde ziehend.
»Ich habe mir heute zu viel zugemuthet,« begann sie wieder, als sie nach Ueberwinden des Uferabhanges in den Leinpfad einbogen, »Sie müssen mich nach dem Hofe hinauf begleiten. Versäumen Sie nicht, der Gertrud vorzustellen, daß sie von jetzt ab mit verdoppeltem Fleiße lernen müsse. Nur noch kurze Zeit, und wir schicken sie unter die Leute.« »Was soll sie mit ihrem Bischen Lesen und Schreiben unter fremden Menschen?« fragte Ginster rauh, »versteht sie doch kaum 'nen Strumpf auszubessern; zum Kinderwarten ist sie zu wild und eigensinnig. Wird die unter die Leute geschickt, giebt's ein Unglück auf die eine oder die andere Art.«
»Ich behalte sie im Auge,« versetzte die Marquise zuversichtlich, »und ich will es verantworten, wenn ein Unglück sie trifft, wie Sie sagen. Aber ich kenne die Gertrud; die weiß sich zu helfen in jeder Lebenslage. Und lange ist ihres Bleibens in dieser Gegend nicht mehr; sie wird älter; schon jetzt zeigen die Leute mit Fingern auf den Irrwisch, und das ist meine Schuld.«
Eine neue Pause des Schweigens folgte. Auf dem stark ansteigenden Wege hatte die Marquise Mühe vorwärts zu kommen.
Bevor sie den Hof erreichten, wurden sie von den Hunden angemeldet.
»Gehen Sie,« wendete die Marquise sich an den Fischer, »Niemand braucht zu erfahren, daß ich mich Ihrer Hülfe bediente. Der Mond scheint hell, man erkennt uns wie am Tage. Gute Nacht, Ginster. Behalten Sie im Gedächtnis, was ich Ihnen auftrug.«
»Gute Nacht, gnädige Frau.«
Der Fischer kehrte zu seinem Netz zurück. Er ging nicht schneller, als die Marquise über den Hof schlich. Die Hausthür knarrte und fiel mit dumpfem Schlage wieder ins Schloß. Ein Weilchen sandten die beiden Fenster des Eckzimmers einen matten Schein ins Freie hinaus, dann lag der Karmeliterhof so still und todt, wie die mittelalterlichen Bauwerke auf den jenseitigen Höhen. Das Käuzchen ließ bald hier, bald dort seinen schrillen Ruf erschallen. Zwischen Schutt und Gestein hatten lustige Heimchen ihre Lieder angestimmt. Der Mond kletterte scheinbar zwischen milchweißen Federwolken nach dem Zenith hinauf. Düsteren Blickes überwachte Ginster sein Netz.