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21

Am nächsten Morgen stand Bertholt im Büro vor dem Telefon und versuchte vergeblich, Kommissar Güstrow zu erreichen. Sooft er die Nummer wählte, hörte er das Besetzt-Zeichen. Isa saß hinter der Schreibmaschine und sah ihm gespannt zu.

»Es geht nicht. Wir müssen uns gedulden!«

»Das ist aber sehr schwer, jetzt so kurz vor der Entscheidung. Wenn wir nur wüßten, wo Karl ist. Ihm wird doch nichts zugestoßen sein?«

»Aber nein, Isa, beruhige dich nur. Das halte ich für ausgeschlossen. Weißt du«, fuhr er zögernd fort, »mir ist plötzlich ein Verdacht gekommen. Als ich mir heute morgen die ganze Sache noch mal überlegte, wußte ich blitzartig, wer allein der Mörder sein kann. Nur kann ich es ihm nicht beweisen, und ich weiß auch nicht, warum der Mann das getan hat. Aber je mehr ich darüber nachdenke, desto sicherer werde ich meiner Sache.«

»Oh, Hans! Sag mir doch, wen du meinst!«

»Natürlich, Isa, aber du darfst mich nicht auslachen!«

In diesem Augenblick wurde hart an die Bürotür geklopft, und auf Bertholts »Herein!« trat Herr Schwindt ins Zimmer.

»Guten Morgen«, sagte er höflich, »Kommissar Güstrow hat mich vorhin angerufen und mir gesagt, ich solle hierherkommen. Er beabsichtigt, um zehn Uhr zu einem neuen Verhör im Stall zu sein.«

»Selbstverständlich, Herr Schwindt«, sagte Frau Isa ruhig und warf ihrem Mann einen fragenden Blick zu. »Es ist vielleicht am besten, wir erwarten den Kommissar im Kasino.«

Sie machte ein paar Schritte auf die Tür zu, die im selben Augenblick wieder geöffnet wurde. Doktor Born und Herr Roland standen auf der Schwelle.

»Hat Kommissar Güstrow Sie auch angerufen?« rief Isa erstaunt.

»Jawohl, er erwartet uns hier um zehn Uhr.«

Bertholt verbarg geschickt sein Erstaunen und ging mit den drei Herren ins Kasino hinauf. Isa zögerte erst einen kurzen Augenblick, aber dann schloß sie sich doch der Gesellschaft an. Ihre Arbeit konnte warten.

Das Kasino war um diese Zeit vollständig leer, Bertholt führte die Herren an den Tisch in der Mitte der Brüstung. Man nahm schweigend Platz, alle sahen interessiert in die Bahn hinunter, wo Willi gerade den Hengst arbeitete. Wahrscheinlich sahen sie nichts von den wundervollen Gängen des Tieres, so sehr waren sie mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt.

Hin und wieder machte einer der Herren eine sachverständige Bemerkung, als gäbe es nichts Interessanteres auf der Welt als Taifuns Passagen.

Als der Zeiger der großen elektrischen Uhr auf zehn gerückt war, klopfte Willi dem Hengst zärtlich den Hals und schwang sich aus dem Sattel. Die interessierten Zuschauer beobachteten, wie er die Zügel losließ und mit einem leisen »Komm, komm!« vor dem Hengst herging. Das Tier folgte ihm quer durch die Bahn, willig wie ein Hund.

»Er versteht sehr viel von Pferden«, sagte Doktor Born anerkennend.

»Er versteht auch noch von anderen Dingen sehr viel; doch das soll er uns gleich erzählen. Bestimmt weiß er etwas Interessantes über den Mord.«

Das war Kommissar Güstrow, der an den Tisch getreten war, ohne daß jemand sein Kommen bemerkt hatte.

»Willi!«

Er beugte sich über die Brüstung und winkte mit der Hand.

»Wenn Sie einen Augenblick Zeit haben, kommen Sie doch einmal herauf!«

»Karl ist noch nicht wieder da«, sagte Bertholt gedämpft; seiner Stimme merkte man an, daß er böse war. »Wie soll ich hier alles in Ordnung halten, wenn mir der Stallmeister erschlagen wird und ein Bursche davonläuft!«

Da Willi gerade das Kasino betrat, hatte er die letzten Worte gehört.

»Ich habe heute morgen im Privatstall ausgeholfen«, sagte er höflich.

»Vielleicht haben die beruflichen Dinge Zeit bis nachher«, sagte Güstrow sanft. Er stand hinter seinem Stuhl und sah einen nach dem anderen aufmerksam an. »Ich habe festgestellt, daß einer von Ihnen den Mörder gleich nach der Tat gesehen hat.«

»Woher wissen Sie das?« fragte Schwindt überrascht. »Hat Frau Bertholt Ihnen davon erzählt?«

Güstrow lächelte. Sein Gesicht trug einen seltsamen Ausdruck von Spannung und Neugier.

»Man braucht mir nicht alles zu erzählen«, sagte er bestimmt, »ich weiß eine ganze Menge mehr, als man annimmt. Seien Sie so gut, Herr Schwindt, und erzählen Sie mir einmal genau, wann und wo Sie den Mörder gesehen haben.«

»Ich hatte vorgestern abend eine Auseinandersetzung mit Herrn von Holtern; wir sprachen im Hof miteinander; plötzlich verließ er mich und betrat den Stall durch die kleine Tür. Ich blieb noch kurze Zeit bei meinem Wagen stehen und beobachtete, daß, wenige Minuten nachdem Herr von Holtern verschwunden war, die Tür wieder geöffnet wurde und ein Mann aus dem Stall kam.«

»Wer war es?«

Einen Augenblick herrschte Totenstille, plötzlich fiel polternd ein Stuhl zu Boden, und eine helle Knabenstimme rief:

»Willi ist der Mörder! Haltet ihn fest!«

Karl stand an der Tür, die zur Treppe führte, und versuchte, mit seiner kleinen, schmalen Gestalt den Weg zu versperren. Aber das wäre gar nicht mehr nötig gewesen; denn in diesem Augenblick tauchten hinter ihm zwei Polizisten auf. Auf eine Handbewegung des Kommissars stellten sie sich hinter den überraschten Willi.

»Warum haben Sie von Holtern erschlagen?«

Willi zitterte vor Entsetzen, seine Zähne schlugen laut aufeinander. Nun hatte man ihn doch entdeckt. Einer hatte ihn gesehen und verraten. Alles war verloren.

»Antworten Sie mir!« drängte Güstrow. »Durch Verstocktheit schaden Sie sich nur!«

»Vorgestern abend stand ich gerade bei dem Hengst, als Herr von Holtern durch die kleine Tür in den Stall kam«, begann Willi zögernd. Er hatte sich fest vorgenommen, seine Tat niemals zu gestehen; aber jetzt sah er keinen Ausweg mehr. Er war in die Enge getrieben, jemand hatte ihn beobachtet, und nun blieb als Letztes nur noch das Geständnis. Er redete und wälzte sich die schwere Last von der Seele. Zuerst kamen die Worte nur stockend; er setzte immer wieder ab, um den richtigen Ausdruck zu finden; aber dann wurde er immer freier, und zuletzt sprudelte er die Sätze nur so heraus, als könnte er es gar nicht erwarten, das Geständnis loszuwerden.

»Von Holtern sah mich nicht; er blieb stehen, zog seine Brieftasche aus dem Rock, und ich konnte deutlich bemerken, daß ein dickes Bündel Scheine darin war. Er wandte mir den Rücken zu und beschäftigte sich mit der Brieftasche. Plötzlich sah ich auf dem Balken in der Ecke ein Hufeisen liegen …, ganz ohne Überlegung griff ich danach und schlug zu. Töten wollte ich ihn nicht. Nur das Geld brauchte ich, um mir endlich eine selbständige Existenz aufzubauen.«

»Und warum nahmen Sie die Brieftasche dann doch nicht?«

»Ich hörte das Geräusch von Schritten. Fast besinnungslos vor Angst stürzte ich auf den Hof hinaus. Jetzt erst wußte ich, was ich getan hatte. Ich hoffte nur, ich hätte den Mann nicht erschlagen.«

»Und dann? Wie war es mit Häfke?«

»Ich war mit seiner Tochter versprochen; aber gestern morgen löste der Stallmeister plötzlich die Verlobung und sagte mir, er habe am vergangenen Abend meine Tat beobachtet – er sei zu der Zeit gerade in der Sattelkammer mit dem Putzen von Lederzeug beschäftigt gewesen. Und da die Tür nur angelehnt gewesen war, sei ihm nichts entgangen. Einem solchen Mann könne er seine Tochter nicht anvertrauen. Ich bat und flehte; aber er meinte, er habe kein Vertrauen mehr zu mir, er fürchte mich beinahe. Dann fragte ich ihn nach der Brieftasche mit dem vielen Geld; aber Häfke leugnete und sagte, er wisse nichts davon und habe mit der ganzen Sache nichts zu tun. Dann hatte ich Karl im Verdacht und glaubte, er habe die Brieftasche gestohlen; denn er war es doch, dessen Schritte mich vom Tatort vertrieben hatten. Aber der Junge kann nicht schweigen, und ich überzeugte mich bald, daß nur Häfke das Geld haben konnte. Nachmittags durchsuchte ich die Sattelkammer – da kam Häfke mit Herrn Rolands Sattelzeug. Als er mich sah, lachte er hämisch, und ich hatte plötzlich das Gefühl, er beabsichtige, mich zu verraten. Meine Verzweiflung war grenzenlos; ich haßte den alten Mann, der mich um alles bringen wollte; ich war so böse, daß ich nicht mehr wußte, was ich tat. Als Häfke die Sattelkammer verließ, stürzte ich ihm nach, griff nach dem Hufeisen, das ich auf den Balken zurückgelegt hatte, und erschlug ihn. Er fiel an genau derselben Stelle zu Boden wie Herr von Holtern.«

Willi schwieg erschöpft, sein Gesicht war verzerrt vor Entsetzen, er stierte vor sich hin und hatte keinen Blick für die Menschen, die um ihn herumstanden; er schien nicht einmal Güstrows ruhige Stimme zu hören:

»Führen Sie den Mann ab.«

Willenlos folgte er den beiden Polizisten, ohne sich noch einmal umzusehen.

Als die Tür sich hinter den Fortgehenden geschlossen hatte, schwiegen die Anwesenden eine ganze Weile erschüttert.

»Woher wußten Sie, daß ich den Mörder gesehen hatte?« brach Schwindt das Schweigen. Der Kommissar lächelte flüchtig.

»Ich habe nicht an Sie gedacht. Herr Roland hatte Willi auch gesehen, aber erst später auf der Chaussee, und daraus hätte ich dem Mann schwerlich einen Strick drehen können. Es war also gut, daß Sie ihn auch beobachtet hatten.«

»Aber ich hatte ihn doch gar nicht erkannt!«

»Ich weiß; aber ich hätte Willi niemals überführen können, wenn er nicht die Nerven verloren hätte, darum mußte ich bluffen.«

»Doch, Sie hätten ihn überführen können!«

Karl war ganz dicht an den Tisch getreten; er genoß es offensichtlich, daß alle Augen gespannt an ihm hingen. Langsam griff er in seine Rocktasche und zog einen schmalen weißen Zettel hervor.

»Hier ist der Beweis.«

Güstrow sah den Jungen lächelnd an, dann warf er einen flüchtigen Blick auf das Papier. Seine Augen weiteten sich vor Erstaunen, als er las: »Durch die geöffnete Tür der Sattelkammer sah ich, wie Willi Herrn von Holtern erschlug.«

Der Kommissar reichte Bertholt den Zettel:

»Wahrscheinlich wollte Häfke den Mörder anzeigen. Aus irgendeinem Grunde wartete er damit, und dieses Zögern kostete ihm das Leben.«

»Aber wer hatte die Brieftasche?«

Bertholt konnte die Zusammenhänge noch nicht ganz durchschauen.

»Häfke hatte sie«, sagte Güstrow erklärend. »Ich werde die Vorgänge einmal kurz zusammenfassen. Häfke ging vorgestern abend in die Sattelkammer, wahrscheinlich um etwas zu putzen. Später kam Willi und trat zu dem Hengst in den Stand. Natürlich wußte er nicht, daß der Stallmeister in der Nähe war, denn sonst hätte er von Holtern nicht erschlagen. Sofort nach der Tat kam Karl zum Tränken, und Willi floh durch die kleine Tür in den Hof. Karl fand den Toten und sah, daß die Tür halb offen stand. Da er Angst vor seinem Chef hatte, ging er daran, die Leiche fortzuschaffen. Ich nehme nun an, daß Häfke aufmerksam alle Vorgänge beobachtete, und als der Junge mit seiner schrecklichen Last den Stall verlassen hatte, kam er aus der Sattelkammer, um sich unauffällig zu entfernen. Dabei entdeckte er die Brieftasche, steckte sie zu sich und verbarg sie später. Wo, kann uns Karl erzählen.«

»Ich fand sie auf dem Boden«, sagte Karl bescheiden, »aber vorher fand ich schon das Hufeisen, mit dem die Morde begangen worden waren.«

»Nun, da hast du ja zwei Taler verdient statt des einen!« lachte Güstrow.

»Das wird nicht langen«, erwiderte Karl ernst, »dafür müßte ich mir schon etwas wünschen dürfen.«

»Immerzu! Wenn du nicht zu unbescheiden bist, läßt sich vielleicht darüber reden.«

»Nun, also« – Karl räusperte sich –, »dann wünsche ich mir von Herrn Bertholt, daß ich jetzt den Hengst reiten darf. Und von Ihnen, Herr Kommissar, wünsche ich mir, daß Sie mich holen, wenn Sie wieder einmal eine tüchtige Hilfe brauchen.«

»Das verspreche ich dir, Karl!« sagte Güstrow und reichte dem Jungen die Hand. »Aber unterdessen mußt du noch etwas Wichtiges lernen: zu schweigen. Das ist nämlich eines der brauchbarsten Dinge in meinem Beruf.«

»Es ist überhaupt im Leben das Wichtigste«, sagte Isa betont. Und Karl konnte sich nicht genug darüber wundern, daß gerade sie als Frau so etwas sagte.

 

*

 


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