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Diesmal brauchte Kommissar Güstrow nicht erst die Straßenbahn zu benutzen, um die Wohnung Herrn von Holterns zu erreichen. Die Ludwigsallee lag nur wenige Schritte von der Wiesenstraße entfernt. Aber hier öffnete auf das Klingeln des Beamten keine ältliche, solide Wirtschafterin. Herr von Holtern hatte sich zu Lebzeiten von einem Diener betreuen lassen, der jetzt, in gestreiftem Servierjackett, mit undurchdringlicher Miene vor Güstrow stand.
Der Polizeiausweis machte keinen merklichen Eindruck auf ihn. Allerdings trat er höflich zur Seite und ließ den Kommissar eintreten; aber seine gleichgültige Miene zeigte deutlich, daß er durchaus nicht gesonnen war, sich ausfragen zu lassen.
Kommissar Güstrow gab sich ganz amtlich; er nahm zuerst die Personalien auf und machte sich einige Notizen. Dann fragte er vorsichtig weiter:
»Wie lange sind Sie bei Herrn von Holtern?«
»Bereits vier Jahre.«
»Haben Sie gestern etwas Besonderes an Ihrem Herrn bemerkt?«
»Nicht daß ich wüßte«, sagte der Diener kühl und sah den Kriminalisten abwehrend an. Er hatte seine hochmütigste und herablassendste Miene aufgesetzt und schien, wie er so dastand, unangreifbar und unerschütterlich.
»Wissen Sie, ob Herr von Holtern gestern abend eine Verabredung hatte? … Vielleicht mit einer Dame?«
Das Gesicht des Dieners strahlte Kälte und Ablehnung aus:
»Ich weiß nichts über die Damenbekanntschaften meines Herrn.«
»Nun, einiges werden Sie jedenfalls wissen, und Sie werden es mir auch sagen. Denn ich nehme nicht an, daß Sie beabsichtigen, durch Ihr Schweigen einen Mörder zu decken.«
Der Diener sah den Beamten entsetzt an. Seine Maske, die er durch viele Dienstjahre wie einen Schild getragen hatte, zerbrach plötzlich, und die nackte Angst schaute dahinter hervor.
»Einen Mörder?!« stammelte er. »Aber Herr von Holtern ist doch von einem Pferd erschlagen worden.«
»Wer hat Ihnen das gesagt?« fragte Güstrow schnell, obgleich er die Antwort im voraus wußte.
»Herr Doktor Born kam gestern abend hierher. Er war sehr erregt und erzählte mir, mein Herr sei im Stall verunglückt. Ein Hengst habe nach ihm gekeilt.«
»Was sagte er sonst noch?«
»Nichts. Er bat mich, ihn einen Augenblick in der Bibliothek allein zu lassen. Später klopfte ich an die Tür, um zu hören, ob er noch Wünsche habe. Ich hoffte auch, Näheres über den Unfall zu erfahren, aber Herr Doktor Born war bereits fortgegangen, ohne daß ich ihn gehört hatte.«
»Zeigen Sie mir, bitte, die Bibliothek.«
Der Diener öffnete eine Tür, die in ein Zimmer führte, an dessen Wänden sich hohe Bücherregale hinzogen; am Fenster stand ein Schreibtisch, der mit durcheinanderliegenden Papieren bedeckt war. Sogar die Schubladen waren aufgerissen; der Inhalt befand sich in großer Unordnung und war zum Teil über den Fußboden verstreut.
»Hier ist eingebrochen worden!« flüsterte der Diener entsetzt. Als Güstrow das blasse, verzerrte Gesicht des Mannes sah, konnte er ein Lächeln nicht unterdrücken.
»Der Einbrecher ist fort, wir können gern lauter sprechen«, flüsterte er zurück. Aber der Diener hatte wenig Sinn für Humor.
»Hier im Schreibtisch verwahrte Herr von Holtern stets sein Geld. Wir müssen die Polizei benachrichtigen!« rief er heftig.
»Die Polizei ist bereits hier«, sagte Güstrow trocken. »Sagen Sie mir zuerst: wann waren Sie zuletzt in diesem Zimmer?«
»Heute morgen, als das Telefon klingelte.«
»Und Sie fanden noch alles in Ordnung?«
»Ja, selbstverständlich. Aber …«, er zögerte: »der Telefonanruf!«
»Was war damit?«
»Als ich mich meldete, antwortete eine weibliche Stimme. Sie sagte: ›Hier ist die Kriminalpolizei. Herr Kriminalkommissar Hoffmann läßt Sie bitten, so bald wie möglich zu ihm zu kommen, um die Gegenstände in Empfang zu nehmen, die Ihr verstorbener Herr bei sich getragen hat.‹«
»Und darauf sind Sie hereingefallen?«
»Ja, gewiß. Ich fuhr in die Stadt und fragte nach dem Kommissar Hoffmann. Auf der Polizei kannte ihn niemand. Ich glaubte zunächst, ich habe den Namen falsch verstanden, aber nun …«
»Ja, aber nun denke ich: ›wäre ich doch lieber zu Hause geblieben‹, nicht wahr?« sagte Güstrow ärgerlich. »Kam Ihnen die Stimme der Dame nicht bekannt vor?«
»Nicht daß ich wüßte.«
»Wir haben jetzt also einen Mörder, einen Dieb, denn die Brieftasche Ihres Herrn fehlt, und außerdem einen Einbrecher. Während ich hier die erste Untersuchung vornehme, können Sie in Ihr Zimmer gehen und sich genau überlegen, ob es nicht doch noch etwas gibt, was Sie mir zu sagen hätten. Vor allem wäre es mir interessant, zu hören, was Sie über den Inhalt der gestohlenen Brieftasche wissen. Denken Sie also gut nach.«
Während der Diener eilig und sehr bedrückt die Bibliothek verließ, machte sich Güstrow daran, den Schreibtisch zu untersuchen. Das erste, was ihm auffiel, waren mehrere größere Geldscheine, die zwischen den Papieren lagen.
Als er die Schriftstücke näher ansah, entdeckte er, daß es sich durchweg um Bankabrechnungen und Geschäftsquittungen handelte, ein paar belanglose Briefe waren darunter. So eingehend der Kommissar auch jeden Papierfetzen durchlas, er fand nur völlig unverfängliche Schriftstücke.
War der Mörder nach seiner entsetzlichen Tat hier gewesen? Was hatte er gesucht? Und immer wieder die Frage: Wer war der Mörder?
Schwindt konnte es sein. Vielleicht hatte er hier nach Beweisen für die Untreue seiner Frau gesucht.
Aber auch Doktor Born war verdächtig. Wenngleich es beinahe unmöglich schien, ihm eine solche Tat zuzutrauen. Aber was wollte er gestern abend in der Bibliothek? War hier etwas so Wichtiges oder Wertvolles verborgen, daß er das Risiko auf sich nehmen mußte, heute morgen aufs neue danach zu suchen? Möglich war auch das, denn lange genug hatte Güstrow in der Wohnung Doktor Borns auf ihn gewartet. Verdächtig war schließlich auch, daß er immer wieder und überall betonte, Herr von Holtern sei von dem Hengst erschlagen worden. Wo lag hier die Wahrheit?
Kommissar Güstrow setzte sich in den bequemen Schreibtischsessel. Beinahe die ganze Schreibtischplatte war mit Papieren überhäuft; nur der kleine Platz, wo das Telefon stand, war davon frei geblieben. Mechanisch schweifte der Blick des Kriminalisten darüber hin. Plötzlich wurde er aufmerksam, und je länger er das, was sein Interesse erregt hatte, ansah, desto heller wurde sein Gesicht. Und nun drückte er lächelnd auf den Klingelknopf, um den Diener herbeizurufen.
Beinahe sofort öffnete sich die Tür, und der Diener betrat das Zimmer. Jetzt war sein Gesichtsausdruck gar nicht mehr verschlossen und abwehrend; er war sichtlich bemüht, dem Beamten behilflich zu sein, damit nur nicht der Schatten eines Verdachts an ihm hängenbleiben könnte.
»Haben Sie heute morgen, bevor Sie die Wohnung verließen, hier Staub gewischt?«
»Selbstverständlich, Herr Kommissar. Ich habe dieses Zimmer gelüftet und währenddessen alles in Ordnung gebracht.«
»Haben Sie sich inzwischen überlegt, was die Brieftasche des Herrn von Holtern enthalten hat?«
»Das weiß ich leider nicht zu sagen. Mir ist nur eingefallen, daß Herr von Holtern gestern morgen einen Bankboten kommen ließ, der ihm zwanzigtausend Mark brachte.«
»Wo hatte Herr von Holtern das Geld verwahrt?«
»Entweder im Schreibtisch oder in seiner Brieftasche.«
»Zwanzigtausend Mark in der Brieftasche?! Wie kommen Sie darauf?«
»Herr von Holtern wollte heute morgen verreisen. Er sagte mir allerdings, ich sollte zu keinem Menschen über seinen Plan sprechen.«
»Wohin wollte er verreisen?«
»Das weiß ich nicht. Ich entnahm seinen Anordnungen nur, daß es sich um eine Schiffsreise handelte.«
»Das Geld ist nicht mehr da. Oder kennen Sie einen anderen Platz, wo es aufbewahrt sein könnte? Vielleicht hat Herr von Holtern das Geld irgendwo versteckt … in seinem Schlafzimmer … oder in einem der Bücher hier?«
Der Diener schüttelte den Kopf:
»Das halte ich für ganz ausgeschlossen. Herr von Holtern bewahrte oft sehr große Summen in seinem Schreibtisch auf, oder er trug sie auch in seiner Brieftasche bei sich. Ich glaube, er hielt Einbrecher für ein Ammenmärchen; wenigstens lachte er mich einmal aus, als ich ihn warnte. Er sagte ungefähr folgendes: ›Wenn ich mein Geld bei mir trage, ist es so sicher, als läge es auf einer Bank. Den möchte ich sehen, der es mir wegnehmen wollte; mit einem Schlag machte ich ihn zum Krüppel. Mir kann man überhaupt nichts wegnehmen!‹ Er war sehr stolz auf seine Gewandtheit und Kraft. Ich weiß nicht einmal, ob er sich sehr überschätzte.«
»Und nun hat man es ihm doch fortgenommen.«
Der Diener antwortete nicht, und Kommissar Güstrow machte sich bereit, das Haus zu verlassen. Es hatte den Anschein, als könnte er hier nichts Neues mehr erfahren.
Als er die Straßenbahn bestieg, die ihn zum Stall zurückbringen sollte, war er sich darüber klar, daß er den Morgen nutzbringend angewandt hatte. Er hatte inzwischen viel Neues erfahren. Dennoch war er keinen Schritt weitergekommen; nach wie vor hatte er zwei Verdächtige. Und fand sich für den einen etwas Belastendes, so stellte sich wenig später etwas heraus, was den anderen bloßstellte.