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Kriminalkommissar Güstrow stand neben Karl und sah zu, wie der Junge ein Pferd sattelte.
»Also vergiß nicht: wenn du den Gegenstand finden solltest, den ich suche, mußt du dich sofort bei mir melden. Es ist sehr wichtig.«
Karl hatte inzwischen Zeit gehabt, über den Vorschlag des Kommissars nachzudenken, und je länger er das tat, desto weniger ungewöhnlich schien ihm die Bitte des Kriminalisten. Und jetzt, als Güstrow ihn eigens aufsuchte, um noch einmal mit ihm darüber zu sprechen, strahlte der Junge über das ganze Gesicht.
Er hatte überlegt, daß das so recht eine Aufgabe nach seinem Herzen war. Besonders schmeichelhaft war, daß nicht nur Frau Isa, sondern auch der Kriminalkommissar selbst auf seine Hilfe angewiesen war.
Karl mühte sich mit hochrotem Kopf, den Sattelgurt so fest wie möglich anzuziehen.
Kommissar Güstrow beobachtete lächelnd seine Bemühungen und schritt dann langsam weiter. Dabei gab er sich den Anschein, als sei er ganz in die Betrachtung der Pferde vertieft. Wahrscheinlich würde der Junge mit der Suche nach der Brieftasche eher Erfolg haben als er; denn sicherlich kannte er das Haus am besten, und es gab wohl kein Plätzchen, wo er noch nicht herumgekrochen war.
Von der Einfahrt her erscholl Hufgeklapper, und als Güstrow schnell ins Freie trat, sah er gerade, wie Doktor Born von seinem Pferd sprang.
»Verzeihen Sie, Herr Doktor, ich hatte Sie gern ein paar Minuten gesprochen.«
»Selbstverständlich, Herr Kommissar. Ich bin allerdings in einer halben Stunde verabredet, und es wäre mir peinlich, wenn ich zu spät käme.«
»Ich bin auch verabredet!« lachte Güstrow. »Viel länger als Sie habe ich auch nicht Zeit. Vielleicht können wir zusammen in die Stadt fahren. Und auf dem Wege dorthin erledigen wir dann unsere Angelegenheit.«
»Mit dem größten Vergnügen.«
Doktor Born machte eine gemessene Verbeugung, er konnte kaum sein Erstaunen verbergen und glaubte noch nicht recht an das, was er sah. Der Kommissar schien völlig verwandelt. Den ganzen Tag hatte Born unter dem Eindruck der unangenehmen Unterredung am Vormittag gestanden, und nun behandelte Güstrow ihn beinahe freundschaftlich. Er legte ihm sogar die Hand auf die Schulter, als er sagte:
»Ich komme sofort mit, ich will nur noch einmal schnell ins Büro, mich verabschieden.«
Isa hatte bereits Rolands Adresse herausgesucht, und als sie Güstrow sah, reichte sie ihm unaufgefordert einen kleinen Zettel mit der gewünschten Angabe.
»Ich nehme an, daß die Leiche in einer halben Stunde abgeholt wird. Bis dahin sind die Beamten mit ihren Aufnahmen und Messungen fertig. – Für heute habe ich nur noch eine einzige Frage an dich zu stellen«, wandte er sich an Bertholt. »Weißt du ganz genau, daß die kleine Tür zum Hof nicht verschlossen war, als du die Leiche fandest?«
»Ja, das kann ich beeiden. Die Tür stand halb offen, und der Schlüssel steckte von innen. Ich schloß sie dann sofort zu, damit kein Unbefugter eintreten könne.«
»Danke, das genügt mir.«
Der Kriminalkommissar verabschiedete sich mit einem herzlichen Händedruck von den beiden Bertholts und schloß die Bürotür hinter sich. Er sah sich suchend auf der Stallgasse um, aber Doktor Born hatte anscheinend in der Nähe gewartet, denn als Güstrow erschien, war er sofort an seiner Seite.
»Wohin darf ich Sie fahren?«
»Sie haben einen eigenen Wagen?«
Das hatte Güstrow nicht erwartet. Sein Mißtrauen wollte wieder erwachen.
»Ja, gewiß, schon jahrelang.«
»Sie haben mir heute morgen erzählt, Sie seien gestern abend zu Fuß in den Stall gekommen. Aber lassen wir das jetzt.« Der Kriminalkommissar hatte einen flüchtigen Blick auf den Zettel geworfen, den Isa ihm gegeben hatte, und nannte nun aus dem Kopf eine Straße in der Nähe der Wohnung des Herrn Roland. Das Auto rollte bereits eine ganze Strecke über die Chaussee, bevor Kriminalkommissar Güstrow seine erste Frage stellte:
»Wissen Sie schon, daß der Stallmeister Häfke heute nachmittag auf genau die gleiche Art erschlagen worden ist wie gestern Herr von Holtern?«
»Nein, ich weiß nichts davon. Zwar ist mir ausgefallen, daß im Stall eine ungewöhnliche Aufregung herrschte, und ich habe auch die Polizisten gesehen, aber natürlich glaubte ich, daß das alles noch mit dem traurigen Vorkommnis von gestern zusammenhinge.«
Doktor Born sprach völlig gelassen, er schien wirklich von dem neuen Mord nichts zu wissen, wenngleich ihn die Nachricht erschüttert hatte. Sein Gesicht war ernst, aber seine Hände lagen ruhig auf dem Steuerrad.
»Wann kamen Sie in den Stall?«
»Kurz vor fünf Uhr.«
»Wo waren Sie zwischen halb fünf und fünf?«
Doktor Born warf dem Kriminalisten einen spöttischen Seitenblick zu und lächelte leicht.
»Um diese Zeit holten mich die beiden Herren, mit denen ich soeben ausgeritten bin, vom Büro ab und baten mich, sie mit hinaus zum Stall Bertholt zu nehmen. Ich tue das zuweilen.«
»Aber gestern waren Sie ohne Wagen im Stall. Ich glaube mich, wie ich schon erwähnte, zu erinnern, daß Sie sogar sagten, Sie seien zu Fuß gekommen.«
»Gewiß. Ich war mit Herrn von Holtern verabredet und wußte, daß er mich in seinem Wagen abends wieder in die Stadt mitnehmen würde. Da gestern das Wetter sehr schön war und ich zufällig Zeit hatte, benutzte ich die Gelegenheit für einen längeren Spaziergang. Das ist alles.«
»Und Sie wissen auch heute nicht, ob Herr von Holtern einen Feind gehabt hat? Es ist ein zweiter Mord geschehen. Bedenken Sie, daß Sie durch Ihr Schweigen einen Verbrecher decken.«
»Ich versichere Ihnen …« Doktor Born räusperte sich und schwieg.
»Natürlich wissen Sie etwas«, sagte der Kommissar brüsk. »Was hatte Herr Roland gegen Ihren Freund?«
Doktor Born steuerte den Wagen an den Kantstein und bremste.
»Hierher sollte ich Sie fahren«, sagte er ablenkend, aber Güstrow bestand auf einer Antwort.
»Sie wollten mir vorerst etwas von Herrn Roland erzählen. Warum wehren Sie sich, Herr Doktor? Was ich herausbekommen will, erfahre ich doch.«
»Verstehen Sie mich recht«, erwiderte Doktor Born hastig, »ich will Ihnen durchaus nicht ausweichen, aber es ist mir peinlich, über die Angelegenheiten meines toten Freundes zu sprechen. Es gibt da eine Menge Affären, die nicht immer erbaulich sind. Aber ich kann Ihnen mit ehrlichem Gewissen versichern: einen Feind, der ihn hätte erschlagen können, besaß von Holtern nicht.«
»Anscheinend doch!« sagte der Kriminalist trocken. Aber nun kommen Sie schon zu Herrn Roland!«
»Herr von Holtern kannte Frau Roland von einem Fest im Stall her. Er hatte stets eine Schwäche für gut aussehende Frauen, und wenn er einmal Feuer gefangen hatte, ließ er nichts unversucht, sein Ziel zu erreichen. Frau Roland ist eine schwer zugängliche Frau, und ich glaube nicht, daß mein Freund bei ihr weiter kam. Er erreichte nur, daß Herr Roland aufmerksam wurde und ihm eines Tages sein Haus verbot. Nun hatte von Holtern auch keine Gelegenheit mehr, die Frau zu sehen; denn sie betrat nach dem Zwischenfall den Stall nicht mehr. Herr Roland selbst wurde plötzlich sehr zurückhaltend, er ließ zwar sein Pferd im Stall Bertholt stehen, aber die Zusammenkünfte und Feste mied er. Sie müssen das verstehen: Herr Roland ist wesentlich älter als seine Gattin; er kennt auch von Holtern schon längere Zeit und wußte, welch einen Ruf hinsichtlich der Frauen er hatte.«
»Ich nahm an, Frau Schwindt sei die Frau gewesen, die von Holtern liebte?«
»Wer kann das mit Bestimmtheit sagen? Ich glaube, mein Freund wußte es selbst nicht genau. Ich kenne ihn lange genug, um zu wissen, daß ihn seine Neigung für eine Frau niemals davon abgehalten hat, um eine andere zu werben. Sie werden diese Haltung vielleicht nicht verstehen. Ich muß zugeben, daß es mir selbst auch anfangs ähnlich ging. Wissen Sie, ich war oftmals nahe daran, ihm meine Freundschaft zu kundigen. Aber wenn ich dergleichen Andeutungen machte, wurde von Holtern plötzlich ein ganz anderer. Er bemühte sich, mich davon zu überzeugen, wie notwendig für einen Menschen wie ihn dieses ewige Spiel sei. Er sagte beispielsweise: ›Es gibt so viel nette Dinge, die dem Leben Inhalt geben, aber Gewicht gibt ihm erst eine Männerfreundschaft. Warum willst du mir das nicht gönnen, was mir Freude macht? Es betrifft uns beide nicht, und schließlich muß ich doch einmal alles selbst verantworten.‹ Ich habe mir dann auch abgewöhnt, über diese Dinge mit von Holtern zu reden.«
»Sie waren gestern spät abends noch in der Wohnung von Holterns und hielten sich längere Zeit allein in der Bibliothek auf. Warum taten Sie das?«
Doktor Born war sehr blaß geworden, nervös zog er seine Handschuhe aus und zerknüllte sie zwischen den Fingern. Er war augenscheinlich um eine Antwort verlegen und begann ausweichend:
»Ich tat nichts Unrechtes. Ich handelte lediglich im Auftrag meines toten Freundes.« Er schwieg und biß sich auf die Lippen.
»Wie lautete der Auftrag?«
»Ich sehe mich außerstande, Ihnen das zu sagen.«
»Vielleicht weiß ich es schon. Ich könnte mir wenigstens denken, daß Sie in die Bibliothek gingen, um Briefe zu entfernen, die verschiedene Damen stark kompromittiert hätten. Ist es nicht so?«
»Ja, das habe ich getan.«
Es wurde Doktor Born anscheinend nicht leicht, über diese Angelegenheit zu sprechen, aber als er sah, daß der Kommissar genau im Bilde war, gab er seinen Widerstand auf.
»Herr Kommissar, ich bitte Sie, mir zu ersparen, Namen zu nennen. Ich denke, die Tatsachen werden Ihnen auch genügen.«
»Erzählen Sie.«
»Vor einigen Monaten zeigte von Holtern mir einmal ein Fach in seinem Schreibtisch, in dem verschiedene Briefbündel lagen. Er sagte dabei ungefähr folgendes: ›Es ist eigentlich nicht recht von mir, diese Zeugen aufzuheben, aber ich kann mich einfach nicht davon trennen. Jeder einzelne Brief erinnert mich an viele glückliche Stunden. Wenn ich einmal plötzlich sterben sollte, mußt du versuchen, den Inhalt dieses Fachs zu vernichten. Das mußt du mir versprechen. Ich hebe den Schlüssel zu diesem Fach hinter Kants ›Kritik der reinen Vernunft‹ auf, dort wird ihn bestimmt niemand suchen.‹«
»Sie haben die Briefe entfernt?«
»Ja. Ich habe sie zu Hause verbrannt.«
»Ich hätte genau so gehandelt«, sagte Güstrow ruhig. Im Grunde hatte er dem Manne weder den Mut noch die Entschlossenheit zu diesem Schritt zugetraut. Da war er durch die Treue zu seinem Freund plötzlich über sich selbst hinausgewachsen, hatte alle Hemmungen fallen lassen und hatte gehandelt, ohne Rücksicht auf die Folgen, die es für ihn haben konnte. Außerdem hatte er sich zu seiner Tat bekannt, freiwillig und ohne viel Umschweife.
Der Kriminalkommissar lächelte freundlich und reichte Doktor Born die Hand. Er fühlte etwas wie Sympathie für diesen Menschen.
»Das wäre alles, was ich von Ihnen wissen wollte. Haben Sie herzlichen Dank, daß Sie mich bis hierher mitgenommen haben.«
Er öffnete die Wagentür und stieg aus. Doktor Born hatte kaum Zeit, einen flüchtigen Gruß zu murmeln; er konnte noch gar nicht fassen, daß die Unterredung so schnell beendet war und daß sein eigenmächtiges Handeln ohne weitere Folgen bleiben sollte. Mechanisch drückte er auf den Starter und übersah ganz, daß Kommissar Güstrow noch einmal grüßend an seinen Hut griff, als das Auto anfuhr.