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10

Isa öffnete die Bürotür und trat auf den Stallgang hinaus. Sie machte ein paar langsame Schritte und sah sich suchend um:

»Karl!«

»Frau Bertholt?«

Wie aus der Pistole geschossen tauchte der Junge auf. Isa lächelte flüchtig und legte ihm leicht die Hand auf die Schulter:

»Komm einmal mit mir, ich muß dich noch etwas fragen.«

Ihre Stimme klang ernst und ruhig. Karl fiel es auf, daß sie blaß und vergrämt aussah. Ihre Augen hatten dunkle Schatten.

Im Büro setzte sie sich auf die Schreibtischkante und zog den Burschen ganz nahe an sich heran:

»Weißt du, Karl, du mußt uns helfen, damit wir die häßliche Sache aufklären.«

Der Junge nickte ernsthaft.

»Erzähle mir noch einmal ganz genau, wie du den Toten gefunden hast.«

»Als ich mit dem Wassereimer um die Ecke bog, sah ich ihn sofort. Er lag in dem schmalen Gang, direkt hinter dem Hengst. Er war auf das Gesicht gefallen und hatte beide Hände weit von sich gestreckt.«

»Und dann? Erzähle weiter!« drängte die junge Frau.

Karl war sehr blaß geworden, die Erinnerung an diesen Vorfall erschütterte ihn.

»Ich stellte sofort den Eimer hin, um ihm behilflich zu sein. Da er sich nicht rührte, packte ich ihn unter den Achseln und drehte ihn herum. Seine Augen standen weit offen, und ich sah sofort, daß er tot war.«

»Und weiter?«

»Ich knöpfte zuerst seine Weste zu.«

»Was tatest du?«

Isa sah den Jungen mit weit aufgerissenen Augen an.

»Die beiden obersten Knöpfe der Weste standen offen, und der Schlips hatte sich herausgeschoben. Ich brachte das in Ordnung und zog dann den Toten auf den Hof.«

»Warum hast du uns das von der offenen Weste nicht sofort erzählt?«

»Ich glaubte nicht, daß es wichtig sei.«

»Und die Brieftasche? Du weißt doch, daß sie nicht mehr bei ihm gefunden wurde.«

Karl wurde dunkelrot.

»Ich habe nicht gestohlen«, sagte er leise und biß sich auf die Lippen, um seine Tränen zurückzuhalten.

»Das weiß ich.« Isa hob beschwichtigend ihre Hand. »Aber was glaubst du, aus welchem Grunde die beiden Westenknöpfe offenstanden? Jemand muß das Kleidungsstück geöffnet haben, wahrscheinlich, um die Brieftasche herauszunehmen. Erinnere dich doch, Karl: hörtest du nichts, bevor du den Gang betratest? Oder hast du vielleicht etwas gesehen, was du bislang uns zu erzählen vergessen hast?«

Karl schwieg und dachte angestrengt nach. Er hatte seine junge Stirn in tiefe Falten gelegt, die spitze rote Zunge lugte ein wenig zwischen seinen Zähnen hervor, plötzlich hob er den Kopf und sagte rasch:

»Ich wüßte schon etwas, aber vielleicht habe ich es mir nur eingebildet. Als ich um die Ecke bog, um dem Hengst das Wasser zu bringen, war es mir, als klappte die Tür zur Sattelkammer. Daß ich dieses Geräusch gehört zu haben glaubte, ist mir dann entfallen, weil ich mich so sehr über den Toten aufgeregt hatte.«

»Du warst nicht in der Sattelkammer?«

»Nein.«

»Also ist es sehr gut möglich, daß der Mörder sich dort versteckte, während du die Leiche in den Hof schafftest?«

»Wenn es einen Mörder gibt und nicht der Hengst Herrn von Holtern erschlagen hat, ist das durchaus möglich.«

»Es gibt einen Mörder, verlaß dich darauf.« Isas Stimme klang hart. »Wer sollte die beiden Westenknöpfe des Toten geöffnet haben, und wo ist die Brieftasche? Ach, Karl, du mußt immerzu nachdenken. Vielleicht fällt dir noch etwas ein. Du glaubst mir doch, wenn ich dir sage, daß die geringste Kleinigkeit von ausschlaggebender Wichtigkeit sein kann? Weißt du, Karl« – sie sah ihn bittend an –, »du mußt mir helfen. Wir zwei sind doch die einzigen, die nicht daran glauben, daß der Hengst Herrn von Holtern erschlagen hat.«

Karl sah Frau Bertholt strahlend an. Zwar hatte er bisher fest angenommen, daß der schwarze Taifun die Untat begangen hatte, aber da Frau Bertholt so eifrig auf ihrer Meinung beharrte, konnte er nicht anders als ihr beistehen. Zu seiner Ehre sei gesagt, daß er keinen Augenblick daran dachte, daß mit der Entkräftung dieses Verdachtes zugleich alle Vorwürfe gegen ihn in nichts zerfallen müßten. Das würde dem Chef beweisen, daß es nicht seine Schuld gewesen war, daß die kleine Tür zum Hof offengestanden hatte.

Er sah in Frau Bertholts leuchtend blaue Augen und fühlte eine ungeheure Kraft in sich wachsen. Es mußte ihm einfach gelingen, den Mörder zu entdecken!

»Wir sind also Verbündete?«

Isa bot ihm die Hand, und Karl legte, ohne zu zögern, die seine mit einem kräftigen Druck hinein.

Als er das Büro verließ, glänzte sein Gesicht vor Zufriedenheit.

»Hast wohl Lohnzulage bekommen?«

Willi grinste und sah den Jungen spöttisch an.

»Brauchst nicht zu lachen, Mensch!« wurde Karl sofort patzig. »Hier wird ein Mörder gesucht, und ich werde ihn finden!«

»Den Mörder haben sie doch schön, denke ich. Der Taifun soll es gewesen sein.«

»Und das glaubst du?«

Karls Gesicht drückte maßlose Verachtung aus. Er war zwar ein ganzes Stück kleiner als Willi, aber trotzdem brachte er es fertig, den jungen Mann von oben herab zu behandeln. Plötzlich hatte er vergessen, wie oft er bewundernd seinen Reitkünsten zugesehen hatte; jetzt existierte nichts anderes für ihn als Frau Bertholts Auftrag.

»Und das glaubst du wirklich?« wiederholte Karl. »Gerade du solltest es besser wissen. Arbeitest immer mit dem Pferd zusammen. Hat es etwa schon einmal nach dir gekeilt, he?«

»Gewiß nicht«, wehrte Willi ab, »aber der Kriminale hat doch behauptet, der Hengst habe den Mann erschlagen.«

»Woher weißt du das?« fragte Karl mißtrauisch.

»Der hat mich doch eine ganze Zeit ausgefragt, das heißt, er wollte mehr über das Pferd wissen als über mich.«

»Na, selbstverständlich. Oder meinst du wirklich, jemand interessierte sich für irgend etwas, was dich angeht?«

Willi antwortete nicht, aber er machte Miene, sich umzudrehen und Karl stehenzulassen. Aber so weit ließ er der Junge nicht kommen, dazu war er viel zu neugierig.

»Erzähl erst mal, was der Kriminale gesagt hat. Vom Taifun, versteht sich«, fragte er ablenkend.

»Zuerst hat er mich gefragt, ob ich es für möglich halte, daß der Hengst den Mann zusammengekeilt hat.«

»Und was hast du geantwortet?«

»Ich bin selbstverständlich vorsichtig gewesen und habe ihm erklärt, solche Unfälle seien zwar selten, aber sie kämen immerhin vor. Schließlich könnte einem das mit dem zahmsten Gaul passieren. Er wollte dann von mir wissen, ob ich schon beobachtet habe, daß Taifun nach Menschen schlägt. Das mußte ich leider bejahen.«

»Du Esel!« Karl fuhr wütend auf den jungen Mann los. »Wie konntest du so etwas sagen?«

»Weil es die Wahrheit ist, und ich werde mich hüten, zu lügen. Dein Märchen von dem Mörder glaube ich nämlich nicht.«

»Und die Brieftasche?« platzte Karl heraus.

Willi stutzte. Er sah Karl aufmerksam an, als wollte er seine Gedanken lesen; dann fragte er langsam, jedes Wort betonend:

»Was ist mit der Brieftasche?«

»Weg ist sie!«

Willis Augen wurden unangenehm stechend:

»Dann hat jemand sie gestohlen. Pfui, einen Toten zu bestehlen! Du, Karl, hast du schon daran gedacht, daß es nur einer von uns gewesen sein kann? Wer kommt denn sonst noch dort hinten in den Stall? Da bin ich doch wirklich neugierig!«

Der Stallmeister Häfke kam gerade mit einer Karre Mist die Stallgasse herunter. Wahrscheinlich hatte er die letzten Worte gehört, denn er blieb neugierig stehen und fragte:

»Gibt es etwas Neues?«

»Nichts Besonderes«, sagte Karl mit gewollter Gleichgültigkeit. »Man nimmt an, daß Taifun Herrn von Holtern erschlagen hat, aber ich glaube es nicht; denn es ist festgestellt worden, daß seine Brieftasche fehlt. Und wer die hat, der ist bestimmt der Mörder!«

»War viel Geld drin?« fragte Häfke lauernd.

»Ich weiß es nicht«, mußte Karl zugeben, »aber diese Herren haben ja immer mehr Geld bei sich, als unsereiner im ganzen Monat verdient.«

Willi lachte laut auf, denn er überlegte sich gerade, was der Stallbursche Karl im Monat verdienen mochte. Dann kam ihm plötzlich ein Gedanke und ließ ihn nicht wieder los: Ob Karl die Brieftasche gestohlen hatte? Seine Rolle in der Tragödie war reichlich ungeklärt; fest stand nur, daß er zur fraglichen Zeit bei dem Hengst gewesen war, um dem Tier Wasser zu bringen. Ob er bei dieser Gelegenheit die Brieftasche »gefunden« hatte?

Willi starrte auf die Karre mit dem Mist und mühte sich vergeblich, seine Gedanken zu ordnen.

»Karl!«

Die festen Schritte des Chefs näherten sich, leise klirrten die Sporen. Im Nu riß sich Willi von der Betrachtung des Misthaufens los; Häfke spuckte in seine Hände und schob den Wagen weiter die Stallgasse hinunter.

Karl lief mit einem lauten »Jawohl!« Bertholt entgegen. Von Holtern und seine Brieftasche waren vergessen. Nun war er ganz Dienstbeflissenheit.

»Mach mir Aladin fertig! Mit Bandagen, hörst du!«

»Jawohl, Herr Bertholt!«

Karl beeilte sich, so sehr er nur konnte. Trotzdem fand er Zeit, sich noch einmal zu überlegen, was Frau Bertholt zu ihm gesagt hatte. Eine Kleinigkeit konnte ausschlaggebend sein, um Taifuns Unschuld zu beweisen. Da hieß es also, Augen und Ohren aufzumachen.

Vor allem mußte er wissen, was der Kriminalkommissar mit Willi besprochen hatte, und dann mußte er versuchen, herauszubringen, wer in der Sattelkammer gewesen war, als er von Holtern fand.

Karl zog die Bandagen stramm und versuchte, sich die Ereignisse des Abends noch einmal ins Gedächtnis zu rufen.

Willi hatte den Hengst in der Bahn gearbeitet; er erinnerte sich genau daran, denn er war ab und zu stehengeblieben und hatte einen Blick in die Bahn geworfen. Ungefähr zwanzig Minuten vor acht Uhr war Karl mit der Egge gekommen, um alles für die Quadrille vorzubereiten. Willi hatte Taifun hinausgeritten, und Karl hatte kaum mehr als fünf Minuten Zeit für die Bahn gehabt, denn die ersten Quadrillereiter warteten schon.

Pünktlich dreiviertel acht fingen Häfke und er an, den Reitern beim Aufsitzen zu helfen.

Als alle Pferde in der Bahn waren, hatte Karl mit dem Stallmeister noch einen Augenblick an der Tür gestanden und zugesehen. Er hatte besonders auf Aladin acht gehabt und scharf aufgepaßt, wie der Chef das unruhige Tier in der Gewalt behielt und langsam beruhigte.

Plötzlich war Herr Roland mit seinem großen Braunen von draußen hereingekommen, und Häfke bekam Arbeit. Und da Karl nicht länger an der Tür herumstehen mochte, hatte er begonnen, die Wassereimer für den nächsten Morgen zu füllen und an ihre Plätze zu stellen.

Und als er mit dem letzten Eimer zum Hengst ging, hatte er das Unglück entdeckt.

Karl erinnerte sich nicht, Herrn Roland später noch einmal gesehen zu haben. Auf keinen Fall war er ins Kasino gegangen. Er mußte also den Stall sofort verlassen haben.

Wenn er es aber nicht getan hatte? Herr Roland hatte in der letzten Zeit ein sehr eigenartiges Benehmen gezeigt. Er nahm an keiner Geselligkeit im Stall mehr teil. Wenn er vom Reiten kam, fuhr er sofort nach Hause. Wogegen er früher immer Zeit gehabt hatte, sich im Kasino auszuruhen.

Karl richtete sich auf und starrte Aladin entgeistert an.

»Der Teufel soll mich holen, wenn das nicht die Kleinigkeit ist, von der Frau Bertholt gesprochen hat!«

Eilig zog er das Pferd aus dem Stand und brachte es in die Bahn. Es dauerte ihm viel zu lange, bis Bertholt im Sattel saß; hastig gurtete er nach und verließ dann im Laufschritt die Bahn, ohne noch einen Blick auf das lebhaft tänzelnde Tier zu werfen.

Nur wenig später klopfte er an die Bürotür.

»Herein!«

Karl blieb wartend an der Tür stehen und sah Frau Bertholt mit seinen großen Kinderaugen ängstlich an. Plötzlich verließ ihn aller Mut – vielleicht war es Unsinn, was er sich ausgedacht hatte, und Frau Bertholt wurde böse darüber, daß er so etwas über einen Kunden sagte.

»Nun, Karl? Du siehst aus, als hättest du eine große Neuigkeit für mich. Da bin ich aber gespannt. Komm her zu mir!«

Isa sah den Burschen erwartungsvoll an; dabei lächelte sie so freundlich, daß Karl wieder Mut faßte und ganz nahe an den Schreibtisch herantrat.

»Es ist nur wegen Herrn Roland. Mir ist eingefallen, daß der erst während der Quadrille vom Ritt zurückgekommen ist.«

Das war eine interessante Neuigkeit; denn Isa erinnerte sich genau, daß Herr Roland bei den Verhören niemals erwähnt worden war. Auf der Liste der Personen, die in der fraglichen Zeit im Stall anwesend gewesen waren, stand er jedenfalls nicht. Doch es schien absurd, Herrn Roland mit dieser Angelegenheit in Verbindung zu bringen; er hatte schon längere Zeit sein Pferd im Stall Bertholt stehen und, soweit Isa wußte, niemals mit irgend jemandem eine Differenz gehabt. Er war ein vornehmer älterer Herr, dem kein Mensch jemals einen Mord zutrauen würde. Aber vielleicht hatte er etwas gehört oder gesehen, das zur Aufklärung dienen konnte. Auf jeden Fall mußte man der Sache nachgehen, aber vorsichtig, um den alten Kunden nicht zu verletzen.

»Hast du auf ihn geachtet? Was tat er, als er abgestiegen war?«

»Das weiß ich leider nicht«, sagte Karl bedauernd, »das Pferd gehört zu Häfke. Ich hatte während der Zeit mit den Wassereimern zu tun und erinnere mich nicht, ihn nachher noch einmal gesehen zu haben. Aber ich kann ja den Stallmeister einmal fragen.«

»Aber ganz unauffällig, Karl, hörst du! Ich würde es gern selbst tun; aber ich fürchte, daß Häfke dann aufmerksam wird und wir so leicht einem Kunden Ungelegenheiten bereiten könnten. Das muß auf jeden Fall vermieden werden. Verstehst du, Karl, ich verlasse mich da ganz auf dich. Sei so vorsichtig wie irgend möglich. Daß nur keine Redereien entstehen!«

Sie sah den Burschen beschwörend an. Er konnte vor Freude über den Auftrag keinen Ton herausbringen. Aber Isa erwartete das auch nicht. Sie schob ein paar Bücher auf dem Schreibtisch zurecht und sprach sofort weiter:

»Wenn du etwas herausgebracht hast, dann kommst du sofort wieder zu mir, hörst du? Aber unauffällig, verstanden? Du kannst dir gar nicht denken, wie gespannt ich bin, ob du etwas Wichtiges herausbringst!«

Sie griff nach einem Bleistift und machte hastig ein paar Notizen auf ein Blatt Papier. Sie wartete darauf, daß der Bursche das Büro verlassen sollte, aber Karl blieb an der Tür stehen und sah auf seine Fußspitzen. Vergeblich suchte er nach Worten. Warum war es nur so schwer, mit Frau Bertholt zu sprechen?

»Ist sonst noch etwas?«

»Ja. Ich habe gehört, wie Herr Roland und Herr von Holtern miteinander gestritten haben.«

Isa legte den Bleistift aus der Hand und stand langsam von ihrem Stuhl auf.

»Was hast du gehört?«

Aber jetzt hatte Karl alle Scheu verloren; die großen ungläubigen Augen der Frau vor ihm konnten ihn nun nicht mehr einschüchtern. Was er zu sagen hatte, war Wahrheit, und da er nun einmal angefangen hatte, durfte er nichts mehr für sich behalten.

»Herr Roland hat zu Herrn von Holtern gesagt: ›Ich verbitte mir in Zukunft Ihre Belästigungen und verbiete Ihnen mein Haus‹.«

»Wann war das?«

»Vor ungefähr vierzehn Tagen.«

»Erzähle mir einmal genauer: hast du sonst noch etwas gehört? Wie kam es überhaupt zu dem Gespräch?«

Isa war ein wenig blaß geworden. Bisher hatte sie sich stets dagegen gewehrt, auf irgendwelches Gerede zu hören, aber nun blieb ihr nichts anderes übrig. Wollte sie die Sache von Holtern aufklären, so mußte sie alles nur mögliche zu erfahren suchen. Vielleicht fand sich doch einmal ein Körnchen unter der Spreu.

Sie war sich darüber klar, daß sie auf eigene Faust arbeiten mußte, denn ihr Mann würde niemals damit einverstanden sein, daß hier das Privatleben seiner Kunden besprochen wurde und vielleicht der eine oder andere polizeilich verhört werden mußte. Er war felsenfest davon überzeugt, daß der schwarze Hengst den Mann erschlagen hatte; jede weitere Nachforschung hielt er für überflüssig.

Karl hatte sich inzwischen seine Erzählung zurechtgelegt:

»Eines Nachmittags brachte ich eine Karre Mist in den Hof. Da sah ich, daß Herr Roland im Begriff war, in seinen Wagen zu steigen. Plötzlich kam Herr von Holtern in den Hof, und als er Herrn Roland bemerkte, blieb er einen Augenblick stehen und sah scharf zu ihm hinüber. Es war direkt auffallend. Dann ging er schnurstracks auf ihn zu. Beide hatten mich wohl nicht gesehen, denn Herr von Holtern rief schon aus einiger Entfernung: ›Bitte, Herr Roland, geben Sie mir Gelegenheit zu einer Erklärung!‹ Aber Herr Roland wollte sich auf nichts einlassen; er schüttelte heftig seinen Kopf, er machte sogar eine wegwerfende Handbewegung und sagte grob: ›Ich verbitte mir Ihre Belästigungen!‹ Ich habe ihn niemals so böse gesehen, er war völlig verändert.«

»Und was geschah weiter?«

»Nichts. Herr Roland ließ Herrn von Holtern gar nicht ganz herankommen, er sprang in sein Auto und fuhr davon. Herr von Holtern sah ihm eine ganze Weile nach; ich glaube, er ärgerte sich.«

»Das ist ja allerlei.«

Isa klopfte nervös mit ihrem Bleistift auf die Schreibtischplatte. Von dieser neuen Entdeckung mußte Güstrow sofort in Kenntnis gesetzt werden. Aber vorerst sollte Karl einmal versuchen, herauszubringen, was Herr Roland weiterhin getan hatte, als er gestern abend vom Pferd gestiegen war. Wenn sich dabei die Unmöglichkeit herausstellte, daß er der Täter war, brauchte Kriminalkommissar Güstrow von der ganzen Sache nichts zu erfahren. Es ging einfach nicht an, daß ohne Not immer mehr Kunden mit Fragen belästigt wurden. Was sollte aus dem Geschäft werden, wenn das so weiterging!

»Schön, Karl«, sagte Frau Isa abschließend, »nun geh an deine Aufgabe. Du weißt ja, worauf es ankommt.«

Karl beeilte sich, ihrem Wunsch Folge zu leisten. Er lief die Stallgasse hinunter und überlegte sich dabei, wie er den Stallmeister am unauffälligsten ausfragen konnte.

Das war nicht ganz einfach; denn er hatte erst noch verschiedene Arbeiten für Häfke zu tun. Nach Möglichkeit wollte er alles tadellos erledigen, damit der Stallmeister nicht erst Grund zum Schimpfen fand; denn Karl wußte genau, daß Häfke, sobald er schlechte Laune hatte, verschlossen wie eine Auster war. Und das durfte heute um keinen Preis sein.

Und dann war endlich Kaffeepause.

Willi hatte es sich am Tisch der großen Sattelkammer bequem gemacht. Vor ihm stand eine Thermosflasche, und er war gerade damit beschäftigt, einen Kanten Schwarzbrot in Stücke zu zerschneiden. Dann packte er ein Ende Speck aus dem Papier und ging daran, zu frühstücken. Dabei entwickelte er einen mächtigen Appetit.

Karl setzte sich neben ihn. Ernsthaft biß er von seinem Brot ab und überlegte, wie er das Gespräch am besten wieder auf den Mord bringen konnte, ohne Verdacht zu erregen.

Inzwischen hatte sich der Stallmeister zu den beiden gesellt; ein vorsichtiger Seitenblick belehrte Karl, daß Häfke heute seinen guten Tag hatte. Wenn überhaupt, dann schien heute der richtige Augenblick gekommen zu sein, Wichtiges zu erfahren.

Karl wandte sich zuerst an Willi:

»Gerade als vorhin der Alte kam, wolltest du mir erzählen, was der Kommissar von der Brieftasche gesagt hat.«

»Du spinnst wohl? Darüber hat der Kommissar nichts gesagt, aber du reitest immer darauf herum. Hast sie wohl selbst gefunden?« sagte Willi höhnisch.

»Sag das nicht noch einmal, du! Die Brieftasche hat der, der damals in der Sattelkammer war!«

Er brach plötzlich ab und setzte sich schnell wieder an seinen Platz. Da hätte er sich doch beinahe verraten! Der Detektivberuf schien nicht einer der leichtesten zu sein.

»Wer war in der Sattelkammer? Und wann? Woher weißt du das überhaupt?« fragte Willi eindringlich, legte sein Messer auf den Tisch und schob Brot und Speck beiseite. Jetzt, da es interessant wurde, hatte er keine Zeit mehr zum Essen. Das konnte bis nachher warten.

»Nun antworte schon und erzähle uns deine Neuigkeiten.«

Der Stallmeister sah beinahe unbeteiligt von einem zum anderen; er begriff wohl nicht recht, wonach Willi so drängend fragte.

Karl überlegte krampfhaft, wie er sich aus der Patsche ziehen konnte. Aber er hatte nun schon zu viel verraten, und das beste schien jedenfalls, mit völlig offenen Karten zu spielen, oder wenigstens so zu tun.

»Als ich den Toten entdeckte –«, begann er weitschweifig, wurde aber sofort von Häfke unterbrochen:

»Mensch, gib nicht so an: Frau Bertholt hat die Leiche gefunden!«

» Ich habe von Holtern gefunden«, sagte Karl bestimmt. »Aber damals lag die Leiche noch nicht im Hof, sondern im Stallgang, direkt hinter dem schwarzen Hengst.«

»Was du nicht sagst!« wunderte sich Willi. »Allerdings wußte ich, daß der Unfall in der Stallgasse passiert ist. Aber noch weiß niemand, wie der Tote in den Hof gekommen ist.«

»Der Unfall?« Karl fühlte sich sehr wohl in seiner neuen Rolle. »Ich sage euch: es war kein Unfall. Jemand hat Herrn von Holtern im Stall erschlagen und beraubt.«

»Woher willst du das so genau wissen?«

Karl achtete kaum auf Willis Zwischenruf; erregt sprach er weiter:

»Also da fand ich ihn hinter dem Hengst, und er war tot. Die Tür zum Hof stand offen, und ich bekam einen mächtigen Schreck, könnt ihr euch denken. Meint ihr, der Chef hätte mir geglaubt, daß ich die kleine Tür verschlossen hatte? Natürlich nicht. Darum tat ich das einzige, was den Verdacht von mir ablenken konnte: ich schaffte von Holtern in den Hof.«

»Um Gottes willen! Was hast du dir dabei gedacht?«

»Das ist doch klar: ich meinte, wenn man ihn so finden würde, könnte man annehmen, er sei gestürzt und habe sich verletzt. Niemand könnte dann auf den Gedanken kommen, der schwarze Hengst habe ihn erschlagen, weil ich die Tür nicht zugeschlossen hatte.«

»Das hat dir nicht viel genützt; der Kommissar hat bald herausgefunden, wo Herr von Holtern gestorben ist. Ich verstehe nur nicht ganz, warum du jetzt nicht mehr glaubst, daß Taifun den Mann erschlagen hat.«

Willi steckte bedächtig ein Stück Speck in den Mund und grinste.

»Das ist doch ganz klar: während ich Herrn von Holtern auf den Hof brachte, hörte ich, daß jemand in der Sattelkammer war. Ich habe hin und her überlegt, wer das gewesen sein könnte, und dabei ist mir eingefallen, daß Sie das wissen müßten, Häfke.«

Der Stallmeister erschrak sichtlich:

»Mein Gott, warum gerade ich?« stammelte er und rückte auf seinem Stuhl unbehaglich hin und her.

»Weil Sie das Pferd von Herrn Roland abgesattelt haben und wissen müssen, wo der Mann in der Zwischenzeit geblieben ist. Ich fürchte, er war in der kleinen Sattelkammer.«

»Ja, gewiß, das ist durchaus möglich.« Häfke war sehr unruhig. »Ich weiß das nicht, denn ich habe nicht auf den Herrn geachtet. Möglich ist das schon; aber wir kommen in Teufels Küche, wenn wir solche Dinge über einen Kunden erzählen.«

Karl fragte weiter:

»Was tat Herr Roland, als er vom Pferd abgestiegen war?«

Der Stallmeister senkte den Kopf und besann sich eine ganze Weile, dann schüttelte er den Kopf und sagte unbestimmt:

»Ich kann mich nicht mehr erinnern. Wahrscheinlich ging er sofort nach Hause.«

Er erhob sich etwas unvermutet, rückte seine Mütze zurecht und ging in den Stall zurück. Willi folgte ihm mit einem kurzen, spöttischen Gruß.

Karl hielt noch immer das angebissene Brot in der Hand; bei diesem Gespräch war er nicht zum Frühstücken gekommen. Langsam führte er es zum Munde, aber ehe er abbeißen konnte, ließ er plötzlich die Hand sinken.

Hatte er nicht vorgehabt, die anderen zum Reden zu bringen? Nun hatten sie ihn alleingelassen, und er war keinen Schritt weitergekommen. Wahrscheinlich hatte er sogar mehr erzählt, als er vor Frau Bertholt verantworten konnte.

Das schön belegte Brot wollte ihm gar nicht mehr schmecken.


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