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Paris war auf dem Höhepunkt des Rausches, in welchen die Weltausstellung diese so feinfühlige und so leicht entzündliche Stadt versetzte. Im Palais Elysée entfaltete der Kaiser von Rußland den eigenen glänzenden Hofstaat, umgeben von dem noch schimmernderen Glanz der kaiserlichen Gastfreundschaft, und das Palais war fortwährend von einer dichten Volksmenge umgeben, welche dort unermüdlich aushielt, die an- und abfahrenden Equipagen musternd und kritisierend und das Erscheinen des Zaren erwartend, teils aus Neugier, teils um dem russischen Souverän ihre Sympathien zu bezeigen. Hatte schon die persönliche Erscheinung Alexanders II., sowie sein freies und ungezwungenes Bewegen unter dem Publikum ihm die Sympathien der Pariser Bevölkerung erworben, so trat dazu noch die fast allgemeine Entrüstung über die taktlosen Demonstrationen, welche einige oppositionelle Advokaten, wie Floquet und Arago, gegen den Gast Frankreichs an verschiedenen Stellen durch die bei seinem Erscheinen ausgestoßenen Rufe: »Es lebe Polen!« gemacht hatten. Wo der Kaiser öffentlich erschien, wurde er von dem großen Publikum, welches zeigen wollte, daß es an jenen sinn- und zwecklosen Ungezogenheiten keinen Teil habe, mit allen Zeichen einer wirklichen wohlwollenden Ehrerbietung empfangen.
Fast ebenso dicht war die Menschenmenge, welche die Tuilerien umgab und durch die inneren Höfe von der Rue de Rivoli nach den Kais hinwogte. Denn hier hoffte man den König von Preußen, den Sieger von Sadowa, zu sehen, und seinen so vielgenannten und so merkwürdigen Minister, den Grafen von Bismarck. War auch hier die Sympathie geringer, als in den Umgebungen des Elysee, so war die Neugier größer, mit welcher die Augen dieser Tausende von Menschen durch die Gitter hin nach dem Pavillon Marsan blickten, vor welchem man die Equipagen der Diplomatie und der Großwürdenträger des Kaisereichs an- und abfahren sah.
Nicht minder zahlreich drängte sich das Publikum auf dem Ausstellungsfelde, man hatte gehört, daß der König Wilhelm und Graf Bismarck am Morgen dorthin gefahren seien, und die Menge wogte um den kaiserlichen Pavillon her, neugierig durch die großen Fenster in das prachtvolle Interieur mit den farbenschimmernden Vorhängen blickend und nur mühsam durch die Sergeants de Ville von dem Besteigen der den Pavillon umgebenden Treppenstufen zurückgehalten, deren Ecken von kolossalen Adlern, auf goldenen Weltkugeln sitzend, überragt wurden. Aber nicht hier entdeckte man den vielgesuchten Monarchen, denn dieser ging mit dem Grafen Bismarck und den Herren seiner Umgebung im vollsten Inkognito durch die Räume der Ausstellung, und diejenigen, welche ihn am wenigsten suchten, hatten den Vorzug, ihn aus nächster Nähe sehen zu können.
Fast eine Völkerwanderung aber bildeten die Massen, welche schon seit den frühen Vormittagsstunden des 7. Juni nach der Ebene von Longchamps hinauszogen, denn dort sollte die große Revue stattfinden, bei welcher man die drei Monarchen, umgeben von allem militärischen Pomp des Kaiserreichs, erblicken würde.
Während so ganz Paris einem ungeheuren Bienenschwarm gleich hin und her wogte und sich zum Teil entvölkerte, um das Bois de Boulogne und die Umgebungen von Longchamps zu erfüllen, lag das alte, langgestreckte Tuilerienschloß in seinem inneren Hofe, vor welchem die beiden Reiterposten von den Kürassieren der Garde unbeweglich wie Erzbilder hielten, in majestätischer, schweigender Ruhe da und nur von fern her klangen die brausenden Stimmen der durcheinander drängenden Volksmassen herüber.
Napoleon saß allein in seinem Kabinett, geöffnete Briefschaften vor sich, und während die Macht und der Glanz von ganz Europa seinen Thron umgab, während seine Hauptstadt sich berauschte an dem Schimmer dieses alle Erinnerungen überbietenden Schauspiels, während seine stolzen, waffenfunkelnden Garden ausrückten, um die Kriegsmacht Frankreichs vor den Beherrschern zu repräsentieren – saß der Kaiser finster in sich zusammengesunken in seinem Lehnstuhl. Die glanzlos müden Augen blickten abgespannt vor sich hin, die schlaffen Züge drückten Leiden und Abspannung aus, und die Fingerspitzen der in dem Schoß ruhenden Hände bewegten sich in leisem, unwillkürlichem Zittern.
»Sie hat recht,« sagte er mit dumpfem Tone, »die Sibylle im Hause der Lenormand, strahlender Glanz umgibt meinen Thron, und Paris ist in diesem Augenblick fast der Mittelpunkt der Welt, kaum konnte mein Oheim, als sein Stern im Zenith stand, stolzer herabblicken von der Höhe seiner Macht, und dennoch – dennoch ist mein Herz voll tiefer, banger Unruhe,« flüsterte er, noch mehr in sich zusammensinkend, »denn dies prächtige Gebäude kaiserlicher Herrlichkeit ruht auf Sand, und es will mir nicht gelingen, den zerbröckelnden Fundamenten wieder Festigkeit zu geben. – Was ist die menschliche Größe,« fuhr er nach einigen Augenblicken mit tief schmerzlichem Seufzer fort, »wovon hängt sie ab? – Mit unerschütterlicher Zähigkeit, mit unbeugsamer Willenskraft, mit unermüdlicher Arbeit der Tage und Nächte habe ich diesen Thron wieder emporgerichtet aus dem chaotischen Abgrunde der Revolution, mit dem Blute von Tausenden, unter den Donnern der Schlachten in der Krim und in Italien habe ich die Macht Frankreichs hoch gehoben in Europa – und nun hängt das alles an den alternd erstarrenden Muskelfasern, an den erlahmenden Nervenfäden eines kranken Körpers!«
Mit glühendem Blick richtete sich sein Auge nach oben und leise sprachen die schmerzlich zuckenden Lippen:
»Noch zehn Jahre der Kraft gib mir, du unerforschliche Macht, die in geheimnisvollem Dunkel über diesem rollenden Erdball und den auf ihm wachsenden und vergehenden Völkergeschlechtern waltet, noch zehn Jahre freien Denkens und Wollens – und mein Werk wäre vollendet und befestigt, ich könnte es den Händen meines Sohnes überlassen und ruhig hinübergehen in jenes unerschlossene Gebiet, das unser Leben mit finsterem Horizont umschließt!«
Er schwieg, und ein leises Zittern flog durch seine Gestalt wie ein körperlicher Schmerz, fest preßten sich seine Lippen aufeinander, und eine tiefe Blässe zog über sein Gesicht.
»Ich werde sie nicht haben,« flüsterte er, »die Zeit, die ich bedarf, ich werde abtreten müssen, während mein Werk zerfällt, ich fühle es, ich bin krank und weiter und weiter greift die zerstörende Hand dieser Krankheit in das Gefüge meines Körpers, kaum kann ich die Anstrengung dieser fürstlichen Besuche ertragen, kaum vermag ich den spähenden Augen der Welt zu verbergen, was ich leide! Und von dem Kranken weicht das Glück, dieser rätselhafte Faden im menschlichen Leben! Es ist, als ob die kalte Hand des Todes überall eingriffe in die Fäden meiner Kombinationen, meine Pläne vereitelnd, als ob ich gebannt bleiben sollte in dieses ewige Schwanken der Unsicherheit und Unklarheit, aus dem sich herauszureißen dem leidenden Organismus doppelt schwer fällt. Ich habe die Koalition herstellen wollen zwischen mir, Österreich und Italien, um einen Rückhalt zu haben, wenn wirklich der Kampf gegen diese deutsche auf Rußland gestützte Macht notwendig werden sollte, und da erfaßt ein unerwartetes und unerhörtes tragisches Verhängnis das Leben dieser jungen Erzherzogin, welche das Band der Versöhnung knüpfen sollte zwischen den bisher so feindlichen Mächten. Ich fürchte nach dem letzten Bericht, daß das Leben des armen Kindes nicht wird erhalten werden können, und mit dieser jungfräulichen Leiche wird vielleicht eine große politische Kombination in die Kaisergruft hinabgesenkt! Schlimmer aber noch ist das Trauerspiel, das sich jenseits des Ozeans vollzieht!« sagte er nach einigen Augenblicken schweigenden Sinnens, indem er einen der vor ihm liegenden Briefe ergriff und den Blick über seinen Inhalt gleiten ließ. »Die heroische Torheit dieses Maximilian, die mein Gefühl begreift und mein Verstand verurteilt, muß ein böses Ende nehmen. Die Intervention der Vereinigten Staaten ist kühl – eine Form der Höflichkeit – die alten Sympathien Nordamerikas für Frankreich sind verloren, man fühlt es wohl in Washington, daß die eigentliche Spitze jener unglücklichen Expedition gegen die amerikanische Republik gerichtet war! Ich glaube kaum an die Erhaltung des Lebens dieses armen Opfers seiner ritterlichen Gefühle. Juarez ist kalt – ein grausamer Rechner, er wird ein furchtbar abschreckendes Beispiel geben wollen, von seinem Standpunkt hat er vielleicht recht, es ist das republikanische Amerika, welches dem monarchischen Europa seine Antwort schreibt mit dem Blute des Enkels Karls V.«
Er versank wieder in tiefes, düsteres Sinnen.
»Noch klingt es schaurig in mir wieder,« sagte er dann, indem ein Zittern durch seine Glieder zog, »jener Fluch, welchen die arme, kranke Charlotte im Ausbruch ihres Wahnsinns mir entgegenschleuderte, sollten die Dämonen der Rache ihn gehört haben und seine Erfüllung beginnen? Es wäre furchtbar,« rief er aufstehend und wie in innerer Angst hin und her schreitend, »wenn jetzt in diesem Augenblick des Glanzes und des freudigen Rausches, jetzt, da die Mächtigsten aus dieser Familie der Könige Europas hier an meinem Hofe zusammentreffen, wenn jetzt die Nachricht vom Tode Maximilians einträfe – dieses Erzherzogs, den ich zum Kaiser machte und dessen Leben die Flotten und Armeen Frankreichs nicht schützen konnten. Welch eine Kehrseite des glänzenden Bildes von Macht und Herrlichkeit, das sich hier aufrollt!«
Er ließ sich erschöpft wieder in seinen Stuhl sinken.
»Und meine Pläne mit Österreich,« sagte er seufzend, »meine Reserve, meine ultima ratio! Der Tod bedroht die junge Erzherzogin, die ein lebendig wirksames Element in meinen Kombinationen bilden sollte, wenn jetzt noch der blutige Schatten Maximilians sich zwischen mir und dem Hause Habsburg aufrichten sollte, oh, ich muß alles anwenden, um Frieden zu haben mit Deutschland, denn dort ist die Kraft, dort ist die Gefahr –«
Ein Schlag ertönte an der Tür. Der General Favé trat ein.
»Der Graf von Bismarck, Sire!«
»Ich erwarte ihn,« sagte der Kaiser aufstehend, »vielleicht gelingt es mir, endlich Klarheit und Festigkeit für die Zukunft zu gewinnen,« flüsterte er, während der General in das Vorzimmer zurückkehrte.
Graf Bismarck trat ein. Er war bereits in voller militärischer Tenue für die große Truppenmusterung, im weißen Waffenrock, den Helm in der Hand. Der Kaiser ging dem preußischen Ministerpräsidenten mit verbindlicher Artigkeit entgegen und reichte ihm die Hand, welche Graf Bismarck mit tiefer Verneigung ergriff.
Merkwürdig genug war der Kontrast in der Erscheinung dieser beiden Persönlichkeiten, welche so maßgebend in die Schicksale Europas einzugreifen von der Vorsehung bestimmt waren. Fest und markig stand die hohe Gestalt des Grafen Bismarck da, auch abgesehen von der militärischen Uniform soldatisch kräftig, sein klares Auge blickte lichtvoll und frei herab auf diesen so viel kleiner gewachsenen und noch leicht gebückt sich haltenden Imperator, dessen verschleiertes Auge in diesem Moment fast völlig ausdruckslos war, während seine Lippen ein Lächeln voll anmutiger Freundlichkeit umspielte.
Es war, als ob Napoleon etwas von dieser äußeren Überlegenheit der Erscheinung des Grafen Bismarck fühlte, denn obwohl niemand zugegen war, wendete er sich mit einer gewissen Eilfertigkeit zu seinem Sessel zurück und setzte sich nieder, während der preußische Minister auf seine Einladung ihm gegenüber Platz nahm.
»Ich freue mich, mein lieber Graf – mein General,« sagte er sich verbessernd mit einem lächelnden Blick auf die Uniform des Grafen, »daß ich in dieser viel bewegten Zeit die Muße finde, eine Stunde vertraulich mit Ihnen zu verplaudern, es sind so viele Dinge vorhanden, über welche ein persönlicher Meinungsaustausch in der Tat Bedürfnis ist.«
»Eure Majestät wissen,« erwiderte Graf Bismarck mit höflichem Tone, durch welchen eine gewisse aufrichtige Herzlichkeit hindurchklang, »welche Freude es für mich stets war, als ich noch die Ehre hatte, Ihnen näher zu stehen, aus Ihrer Unterhaltung diese Fülle von großen und genialen Ideen zu schöpfen, welche der Geist Eurer Majestät unablässig in so reichem Maße erzeugt.«
»Die Gedanken,« sagte der Kaiser mit einer leichten Neigung des Hauptes, »welche Sie mir früher – und zuletzt in Biarritz so lebendig und überzeugungsvoll in betreff der Notwendigkeit einer neuen Gestaltung Deutschlands entwickelten – sind nun zur Wahrheit geworden, ich habe Ihnen noch persönlich zu den großen Erfolgen Glück zu wünschen, die selbst dasjenige weit überschritten haben, was Sie damals erstrebten und hofften.«
»Sire,« sagte Graf Bismarck, »ich habe bei meinen Bestrebungen und Hoffnungen den Faktor der Schlagfertigkeit der preußischen Armee in Berechnung gezogen, aber ich konnte die Unfähigkeit der Gegner in dem Maße, wie sie uns tatsächlich entgegengetreten ist, kaum in meine Berechnungen aufnehmen, daher ist der Erfolg allerdings über die Erwartungen hinausgegangen.«
Der Kaiser fuhr leicht mit der Hand über seinen Schnurrbart, sein Auge verschleierte sich noch undurchdringlicher als vorher.
Er schwieg einige Sekunden, während der Blick des Grafen Bismarck klar und ruhig auf ihn gerichtet war.
»Die großen nationalen Agglomerationen,« sagte Napoleon dann, »sind eine notwendige Entwicklung des Völkerlebens, ich erblicke darin eine größere Bürgschaft des wahren Gleichgewichts in Europa, als in jenen künstlichen und oft naturwidrigen staatlichen Teilungen, mit welchen die Diplomatie der Vergangenheit experimentierte. Zwei große, in ihren nationalen Verhältnissen innerlich befriedigte Völker werden weit sicherer in dauerndem Frieden nebeneinander leben können, als zahlreiche Staatsgruppen, welche von dem Ehrgeiz und oft von den Intrigen der Kabinette geleitet werden. So sehe ich auch in der nationalen Konsolidierung Deutschlands, insbesondere Norddeutschlands,« fügte er ohne besonders hervortretende Betonung erläuternd hinzu, »ein neues Pfand dauernd guter Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich, ganz abgesehen von den Gesinnungen der Regierungen, welche ja vergänglich sind wie die Personen.«
»Eure Majestät,« sagte Graf Bismarck, »kennen meine Überzeugung von der Notwendigkeit nicht nur des Friedens, sondern wirklicher Freundschaft zwischen dem französischen und dem deutschen Volke, zum Heile beider, welche dazu geschaffen sind, gemeinsam an den Werken der Kultur zu arbeiten. Ich glaube nicht, daß es auch in künftiger Zeit jemals einen Staatsmann in Deutschland geben könnte, der ohne zwingende Gründe diesen Frieden gefährden möchte.«
»Es ist indes nicht zu leugnen,« sagte der Kaiser in völlig ruhigem, fast gleichgültigem Tone, »daß in der deutschen nationalen Bewegung eine gewisse Animosität gegen Frankreich liegt, von früheren Zeiten her,« fügte er hinzu, »deren Bedingungen jetzt nicht mehr maßgebend sind.« –
»Wenn Eure Majestät die französische Presse, die Journale von Paris an der Spitze, beobachtet haben,« erwiderte Graf Bismarck mit etwas kalter Höflichkeit, »so werden Sie gewiß anerkennen, daß der öffentlichen Meinung in Deutschland keineswegs die Initiative auf dem Gebiet nationaler Animosität zuzuschreiben ist.«
»Es sind das hoffentlich momentane Erregungen,« sagte der Kaiser, »die keine Dauer und keinen schädlichen Einfluß haben werden, da ja die Regierungen von der Überzeugung der Notwendigkeit guter Beziehungen, und von dem persönlichen Willen, dieselben zu erhalten, erfüllt sind; jene Erregungen werden sofort verschwinden,« fuhr er mit einem schnellen Blick auf den Grafen Bismarck fort, »sobald die feste Basis gefunden sein wird, auf welcher unter den neuen Verhältnissen die internationalen Beziehungen für die Dauer festgestellt werden können.«
Keine Muskel zuckte in dem Gesicht des preußischen Ministerpräsidenten, durchsichtig und hell begegnete sein Auge dem schnellen Blick des Kaisers.
»Ich sehe nicht, Sire,« sagte er mit vollkommen ungezwungenem, natürlichem Tone, »wie die von Eurer Majestät wie von meinem allergnädigsten Herrn so aufrichtig gewünschten Freundschaftsbeziehungen zwischen Deutschland und Frankreich getrübt werden könnten, die Basis des Präger Friedens, auf welcher die neuen Verhältnisse ruhen –«
»Mein lieber Graf,« sagte bei Kaiser, ihn unterbrechend, indem sein Gesicht einen Ausdruck freimütiger Offenheit annahm und seine Augen sich entschleierten, »der Prager Frieden – ist ein Provisorium.«
Graf Bismarck blickte ihn mit einem gewissen Erstaunen an, das eine Erklärung zu erwarten schien.
»Der Prager Frieden, Sire,« sagte er, »ist ein völkerrechtlicher Abschluß, der –«
»Ganz recht,« warf der Kaiser ein, »indes es gibt in den nationalen Entwicklungen Etappen, durch welche die Ereignisse sich zu dem naturgemäßen und notwendigen Endabschluß hinbewegen, eine solche Etappe ist für mich, wie ich die Verhältnisse in Deutschland auffasse, der Prager Frieden.«
Graf Bismarck schwieg.
»Sehen Sie,« fuhr Napoleon nach einem augenblicklichen Zögern fort, »die deutsche Nation hat seit langer Zeit in der Presse, von den Tribünen, in den Schriften der Gelehrten, in den Werken der Dichter nach der Einigung verlangt, es ist zum Teil der Drang nach dieser Einigung, welcher die großen Erfolge des Jahres 1866 möglich gemacht hat, aber dieser Erfolg hat eben das volle erstrebte Ziel nicht gebracht, denn noch steht Deutschland in zwei Teile geteilt da – und soweit ich die öffentliche Meinung in Ihrem Lande verfolgt habe und verstehe, beginnt sie schon, die volle Einigung aller Teile zu verlangen.«
»Ich kann Eurer Majestät darin gewiß nicht unrecht geben,« sagte Graf Bismarck, »daß der nationale Geist in Deutschland die volle und ganze Einigung aller Teile und Stämme wünscht und erstrebt, wer aber kann den Gang solcher großen historischen Entwicklungen vorherbestimmen, messen ober gar lenken – diese Entwicklungen vollziehen sich nach den Gesetzen einer inneren Notwendigkeit, wie die großen Naturerscheinungen in der physischen Welt, die alle künstlichen Bauten von Menschenhand überfluten. Ich aber, Sire, kann mich als ein Mensch, der in die Beschränkung des Raumes und der Zeit gebannt ist, nicht auf die Höhen der Vorsehung stellen, vor deren Blick die Intervalle, welche große historische Epochen trennen, in nichts zerfließen. Ich stehe als Staatsmann in der Zeit und auf dem Boden der Gegenwart – und was die Gegenwart geschaffen hat, das ist für mich, und muß es sein, der einzige Boden des Rechts und der Politik. So, Sire, sehe ich den Prager Frieden an, er ist für mich Norm und Grenze und mag die große Entwicklung der zukünftigen Geschichte auch dereinst über ihn hinwegschreiten, wie sie ja über alle Verträge und Rechte schließlich einmal hinwegschreiten muß zu neuen Bildungen und Ordnungen – ich stehe einfach auf dem jetzt gegebenen Boden und überlasse die Zukunft denen, die nach mir berufen sein werden, das politische Leben meines Landes zu lenken. Ich weiß,« fuhr er fort, »daß auch in Süddeutschland eine nicht unbedeutende Strömung zum Anschluß, zum definitiven und festen Anschluß an den Norden drängt, sollte aber diese Strömung auf die Entschließungen einzelner Regierungen Einfluß gewinnen und zu Schritten in jener Richtung führen, so werde ich sie zurückweisen, bestimmt zurückweisen, so lange das jetzt geschaffene Recht nicht etwa unter übermächtig hereinbrechenden Ereignissen zusammenfällt.«
Ein rasch wieder verschwindender Schatten von Unzufriedenheit, fast von Ungeduld zog über das Gesicht des Kaisers.
Leicht den Kopf schüttelnd sagte er:
»Gewiß ist der Prager Frieden europäisches und festes Völkerrecht geworden, und,« warf er wie eine flüchtige Nebenbemerkung dazwischen, »eine einseitige Überschreitung der durch ihn gezogenen Grenzen müßte bedenkliche Folgen haben, doch bin ich der Meinung, daß eine weitblickende Staatskunst nicht in ruhiger Stille plötzliche und unberechenbare Ereignisse abwarten darf, sondern vielmehr die Aufgabe hat, die Zukunft, welche sie früher oder später kommen sieht, vorbereitend herbeizuführen.«
Abermals blickte Graf Bismarck in erwartungsvollem Schweigen den Kaiser an.
»Meine Ansichten,« fuhr der Kaiser fort, »über nationale Staatsformationen stehen fest, ich betrachte dieselben nicht nur als notwendig bevorstehend, sondern auch als heilsam und gut. Das geteilte Deutschland ist gewissermaßen eine Gefahr für die Ruhe Europas, wenn die endlich einigende Bewegung sich in einem Augenblick vollzöge, in welchem eine weniger ruhige, vorsichtige Regierung Frankreich leitete, so könnte ein Aufbrausen der französischen Empfindlichkeit zu gefährlichen und beklagenswerten Konflikten führen.«
Er schien eine Antwort, eine Bemerkung zu erwarten. Graf Bismarck hörte schweigend.
»Ich glaube,« fuhr Napoleon fort, indem seine Fingerspitzen sich in leichtem Zittern bewegten, »daß es für die Zukunft, für das ruhige Gleichgewicht Europas besser wäre, wenn das angefangene Werk möglichst bald vollendet würde, und ich,« sagte er nach einem fast unmerklichen Zögern, »ich würde gewiß kein Hindernis erblicken, im Gegenteil, ich wünsche aufrichtig eine Verständigung über die Bedingungen zu finden, unter denen die vollständige Einigung Deutschlands in kordialem Einverständnis mit Frankreich stattfinden könnte.«
Bei dem Worte »Bedingungen«, auf welches der Kaiser einen ganz leisen, kaum hervortretenden Nachdruck legte, blitzte ein eigentümlicher Ausdruck in dem Auge des Grafen Bismarck auf. Es war eine Mischung von Stolz – von kalter Überlegenheit, fast von Verachtung und Hohn, die eine Sekunde lang in dem klaren Licht dieses ruhigen Blickes erschien, um sofort wieder zu verschwinden und der gleichmäßig aufmerksamen Höflichkeit Platz zu machen.
»Und glauben Eure Majestät, daß es Voraussetzungen geben könnte,« sagte er, das Wort scharf betonend, »unter denen ein weiterer Fortschritt der deutschen Einheitsbewegung schon in naher Zeit als möglich gedacht werden könnte?«
»Sie wissen wie ich, lieber Graf,« erwiderte der Kaiser, immer unter dem leicht wahrnehmbaren Eindruck einer gewissen peinlichen Erregung, »daß das französische Gefühl sich ein wenig revoltiert über die Erhebung dieser militärisch konzentrierten Macht Deutschlands an unseren Grenzen, und daß ich ein wenig Mühe habe, diese nationale Empfindlichkeit zurückzuhalten.«
»Um so mehr hohe Anerkennung verdient die Festigkeit, mit welcher Eure Majestät die freundlichen Beziehungen erhalten haben, von denen diese Tage ein neues Zeugnis vor den Augen Europas ablegen,« sagte Graf Bismarck sich verneigend.
»Wie ich bereits bemerkte,« fuhr Napoleon fort, »würde jene Erregtheit des französischen Gefühls sogleich verschwinden und man würde in Frankreich ohne Neid und Besorgnis eine wirklich nationale Konstituierung des Nachbarvolkes sehen, sobald auch für Frankreich gewisse – nationale Ergänzungen stattfänden, welche auch für die Zukunft das vollständige Gleichgewicht wieder herstellten.«
Fragend und erwartungsvoll sah Graf Bismarck den Kaiser an, auf dessen Gesicht die peinliche Bewegung immer sichtbarer wurde.
»Es sind gewisse Gebiete,« sprach der Kaiser weiter, »von ergänzender Bedeutung für das ökonomische System Frankreichs, von einer gewissen ausgleichenden strategischen Wichtigkeit, welche für Deutschland kaum von Wert sind, und welche durch Gesinnung der Bevölkerung und vor allem durch die Sprache zur nationalen Arrondierung Frankreichs gehören, würden diese Gebiete ihrer natürlichen Bestimmung zugeführt, so müßte – wie ich glaube – jede Besorgnis vor einer konzentrierten und vollständigen Einigung Deutschlands verschwinden. Hier ließe sich ja leicht die Basis finden, auf welcher die natürliche Entwicklung der Dinge beschleunigt und ohne gewaltsame Katastrophen mit ihren bedenklichen Konsequenzen zu Ende geführt werden könnte.«
Er hielt wie erschöpft inne, seine Augenlider senkten sich noch tiefer herab und verdeckten fast ganz den Blick, welchen er aus der zurücktretenden Pupille auf den preußischen Ministerpräsidenten richtete.
Graf Bismarck schwieg einen Augenblick. Es flog wie ein Wetterleuchten über sein Gesicht. Fast schien es, als solle aus seinen Lippen ein Wort, schneidend und scharf wie eine Schwertspitze, hervordringen, schnell aber verschwand dieser Ausdruck wieder und mit dem Tone einer gewissen gleichgültigen Bonhomie sagte er:
»Eure Majestät deuten da eine Kombination an, deren Folgen weit und groß sind und daher die ernsteste Erwägung erfordern. Ich selbst würde kaum imstande sein, mir schnell über einen solchen Gang der Politik eine bestimmte Ansicht zu bilden, und außerdem hängen ja auch die Ansichten, welche ich demnächst als Staatsmann durchzuführen und zu vertreten habe, von vielen Faktoren ab, die außer mir liegen. Eure Majestät müßten mich für leichtsinnig halten, wenn ich ohne ernstes Vorbedenken bestimmte Meinungen ausspräche, die ich unter dem unmittelbar persönlichen Einfluß Ihrer Gegenwart noch schwerer zu der notwendigen Objektivität erheben könnte,« fügte er, sich mit ehrerbietiger Höflichkeit verneigend, hinzu. »Gewiß haben Sie, Sire, über die Kombination, welche Sie eben allgemein andeuteten, bestimmte Gedanken, ich würde Eure Majestät nur zu bitten haben, demnächst Benedetti instruieren zu wollen, daß er diese Gedanken in konkreter Formulierung mir mitteile, Sie können überzeugt sein, daß bei der Prüfung und Erörterung derselben für mich stets der Wunsch maßgebend sein wird, die freundlichen Beziehungen mit Eurer Majestät Regierung und mit Frankreich zu erhalten und für die Zukunft zu befestigen.«
Der Kaiser richtete sich ein wenig empor. Es schien, daß er etwas antworten wollte, dann aber sank er wieder in sich zusammen, ein Seufzer drang aus seinem Munde, er schwieg einen Augenblick.
»Ich freue mich,« sagte er dann, »daß wir, wie es scheint, einen Ausgangspunkt finden werden, von welchem wir, wie ich überzeugt bin, zu einer richtigen und nützlichen Gestaltung der Zukunft gelangen werden. Ich werde weiter darüber nachdenken und meine Gedanken formulieren. – Doch nun,« sagte er dann, den Kopf erhebend und den vollen Blick auf den Grafen richtend, »möchte ich Sie noch in einer – sozusagen häuslichen Angelegenheit um Ihre Meinung und Ihren Rat – als erprobter Sachverständiger bitten.«
Ein wenig erstaunt blickte Graf Bismarck empor.
»Man rät mir,« fuhr der Kaiser fort, »von vielen Seiten – und der Rat kommt zum Teil von meinen ergebensten Freunden –, in Frankreich eine konstitutionelle Regierung einzuleiten. Man sagt mir, eine solche Regierung würde für die künftige Festigkeit der Dynastie von großer Bedeutung sein, sie würde alle diejenigen Parteien versöhnen, welche nicht geradezu die Republik und die Anarchie erstreben, und sie würde den Thron mit Institutionen umgeben, die in sich selbst die Kraft des Bestehens trügen, wenn einmal – was ja früher ober später eintreten wird – meine Hand nicht mehr da ist, um die Zügel des persönlichen Regiments zu führen. – Ich habe nun,« sagte er lächelnd, »viel über alle Staats- und Regierungsformen nachgedacht, aber was das konstitutionelle Regiment betrifft, bin ich ein Theoretiker, Sie, mein lieber Graf, haben mit der konstitutionellen Maschine gearbeitet – und so glücklich gearbeitet,« sprach er, verbindlich den Kopf neigend, »daß Sie trotz der festen Vertretung der Autorität nicht nur Ihre Zwecke erreicht, die Mittel zu Ihren Aktionen erhalten und geschaffen haben, sondern jetzt auch trotz Ihrer Festigkeit und Entschiedenheit von der größten Popularität getragen sind. Sie kennen außerdem Frankreich und die Franzosen, da Sie ja lange unter uns gelebt haben, glauben Sie, daß eine konstitutionelle Regierung in Frankreich möglich sei, daß sie wirklich Bestand haben und dem Thron auf die Dauer feste Unterlagen geben könne?«
Graf Bismarck hatte mit kaum verhehltem wachsendem Erstaunen zugehört, in sinnendem Nachdenken saß er einen Augenblick da, dann richtete sich sein Blick tief mit einem ganz eigentümlichen Ausdruck auf den Kaiser; – es lag etwas wie mitleidige Teilnahme in demselben.
»Sire,« sagte er dann, während Napoleon gespannt und erwartungsvoll den Kopf leicht auf die Seite geneigt zuhörte, »Eure Majestät beweisen mir durch diese Frage ein großes persönliches Vertrauen, für welches ich Ihnen in hohem Grade dankbar bin, indes muß ich offen gestehen, daß die Beantwortung Ihrer Frage mich ein wenig in Verlegenheit setzt, und daß meine praktische Erfahrung mich dabei ein wenig im Stiche läßt.«
»Doch haben Sie in der Praxis Ihre Kenntnis des Gegenstandes bewiesen,« sagte der Kaiser lächelnd, »Sie müssen Erfahrungen gesammelt haben –«
»Sire,« erwiderte Graf Bismarck, »die Anwendung meiner Erfahrungen auf Frankreich wird mir ein wenig schwer, weil die Verhältnisse nicht die gleichen sind. In Preußen, Sire, ist unter den verschiedenen Parteien, mit welchen man in den Kämpfen und Kompromissen des konstitutionellen Lebens zu tun hat, keine, die den Bestand der staatlichen Ordnung, welche die Berechtigung der Regierung – der Dynastie bestreitet,« sagte er mit leiserer Stimme.
Der Kaiser senkte wie zustimmend den Kopf, ohne ihn indes wieder emporzurichten.
»Darum,« sprach bei Graf weiter, »ist dort bei uns das konstitutionelle Kampfspiel weniger ernst, als es hier sein könnte, indes,« fuhr er, wie seine Gedankenrichtung unterbrechend, fort, »ich kann denjenigen, welche Eurer Majestät den erwähnten Rat erteilen, nicht Unrecht geben.«
Der Kaiser richtete sich rasch empor. Gespannte Erwartung lag auf seinen Zügen.
»Die französische Nation, Sire,« sagte Graf Bismarck, »empfindet heißer, denkt lebendiger als andere Völker, die politischen Gärungen arbeiten heftiger und führen leichter als anderswo zu großen revolutionären Katastrophen. Wenn ich mir erlauben darf, ein Bild zu brauchen, so möchte ich das politische Leben in Frankreich mit einem Dampfkessel vergleichen, der endlich den Druck der durch immer neue Heizung auf das höchste gespannten Dampfkraft nicht mehr erträgt und in gewaltigem Bruch zersprengt wird. Für diesen Kessel, Sire, ist nun das im Ganzen doch lenksame Spiel und Gegenspiel der Kräfte des konstitutionellen Regiments das Sicherheitsventil, auf der Tribüne strömt die überflüssige Dampfkraft aus, die Spannung wird auf das richtige Maß zurückgeführt und die Gefahr für die ganze Maschine beseitigt.«
Napoleon lachte und nickte mehrmals mit dem Kopf. »Ich verstehe – ich verstehe,« sagte er, »und ich glaube, Sie haben recht!«
»Für den Fall nun,« fuhr Graf Bismarck fort, »daß einmal – in später Zeit – eine jüngere, weniger erfahrene und weniger kräftige Hand, als diejenige Eurer Majestät, diese Maschine zu lenken berufen wäre, wird es gewiß immer besser sein, daß die einzelnen Parteien sich in der konstitutionellen Arena untereinander bekämpfen, als daß sie sich alle vereinigen, um die Regierung zu schwächen, zu untergraben und endlich zu beseitigen. Eure Majestät erinnern sich des Steines, den Jason unter die aus der Saat der Drachenzähne erwachsenen geharnischten Männer warf –«
Der Kaiser nickte wieder zustimmend, aber er lachte nicht mehr; in tief sinnendem Nachdenken ruhte sein groß und frei heraustretendes Auge auf dem Gesicht des preußischen Ministerpräsidenten.
»Nun, Sire,« sagte Graf Bismarck, »diesen Stein unter die geharnischt gegen die Regierung aufsteigenden Parteien zu werfen, dazu gibt das konstitutionelle Regiment Frankreichs einer geschickten Regierung das Mittel – und dies Mittel kann oft gefährliche Bewegungen teilen und ablenken.«
»Sie haben recht, Sie haben vollkommen recht,« sagte der Kaiser mit einem tiefen Atemzug, »Ihre Gründe sind praktisch – und schlagend.«
Wieder ruhte das Auge des Grafen Bismarck mit jenem eigentümlichen Ausdruck teilnehmenden Mitleids auf der vorgebeugten, müde zusammengesunkenen Gestalt des Imperators.
»Dennoch aber, Sire,« sprach er dann, wie fortgerissen von der Bewegung eines Gefühls, das ihn beherrschte, »glaube ich nicht, daß der Konstitutionalismus in Frankreich mit der dauernden Festigkeit der Regierung vereinbar ist, ohne ein notwendiges Korrektiv, dessen Bedeutung die Geschichte aller Staatsumwälzungen lehrt.«
Der Kaiser blickte erwartungsvoll auf.
»Dies Korrektiv, Sire,« sprach Graf Bismarck weiter, »ist eine sehr starke, von politischen Einflüssen möglichst losgelöste und der Person des Regenten anhängliche Militärmacht.«
»Ah!« machte der Kaiser.
»Mit der Auflösung seiner maison militaire,« fuhr Graf Bismarck fort, »gab Ludwig XVI. das Mittel aus der Hand, die Bewegung zu beherrschen; als er sich mit Truppen umgab, welche von den zersetzenden Ideen der Zeitbewegung durchdrungen waren, wurde er zum willenlosen Spielball der flutenden Strömungen – und ging unter. Eure Majestät müssen mir zugeben, daß, wenn Karl X. rechtzeitig und kräftig die Militärmacht gebraucht hätte, welche ihm noch zu Gebote stand, er vielleicht seine Krone nicht verloren hätte, – was Louis Philipp betrifft,« sagte er achselzuckend, »so hatte er weder diese Macht, noch hätte er sie zu gebrauchen den Willen und das Geschick gehabt.«
»Wahr, wahr!« rief der Kaiser.
»Wenn also Eure Majestät,« sagte Graf Bismarck, »die konstitutionelle Regierung aus den früher bezeichneten Gründen in Frankreich einzuführen für zweckmäßig halten und beschließen sollten, so müßten Sie nach meiner Ansicht zugleich jenes Korrektiv in kräftigster Weise der Autorität sichern. Die französische Armee im allgemeinen ist nach meiner Meinung – Eure Majestät haben mir ja die Ehre erzeigt, mich nach meiner offenen und rückhaltslosen Meinung zu fragen – die französische Armee ist gewiß im großen und ganzen gut napoleonisch gesinnt, aber ich glaube, sie folgt zu sehr den politischen Strömungen im Lande, als daß sie in bewegten Zeiten eine wirklich feste und sichere Stütze für die Regierung bieten könnte, Eure Majestät haben aber Ihre Garde, – diese immer mehr an die Person des Herrschers zu knüpfen, sie in starker – in sehr starker Zahl in und um Paris zu konzentrieren, das wird die Aufgabe sein, welche mit der Einführung des Konstitutionalismus mehr und mehr erfüllt werden muß, damit, wenn jemals die konstitutionelle Bewegung eine bedenkliche Ausdehnung gewinnt, wenn jemals in den politischen Kämpfen einer oder der anderen Partei es gelingen sollte, mit Erfolg die Massen aufzuregen und in das Spiel der Gegensätze hineinzuziehen, damit dann Eure Majestät jederzeit das Mittel in Händen haben, den unbändigen Gewalten mit überlegener Macht zuzurufen: ›Bis hieher und nicht weiter!‹«
Der Kaiser saß noch einige Augenblicke schweigend, nachdem Graf Bismarck geendet hatte.
Dann stand er auf und reichte dem ebenfalls sich erhebenden Minister die Hand.
»Ich danke Ihnen, lieber Graf,« sagte er mit der ihm so sehr zu Gebote stehenden liebenswürdigen Höflichkeit, »für die Klarheit, Sachkenntnis und Aufrichtigkeit, mit welcher Sie mir Ihre Ansichten entwickelt haben, Ansichten,« fügte er hinzu, »die auf mich einen großen Eindruck gemacht haben.«
Graf Bismarck verbeugte sich.
»Ich freue mich zugleich,« sagte der Kaiser ernster und ein wenig zögernd, »daß ich Gelegenheit gehabt habe, Ihnen meine Meinung über die politische Lage und die Verhältnisse Deutschlands auszusprechen, ich werde demnächst meine im allgemeinen Ihnen angedeuteten Gedanken spezieller formulieren und Benedetti wird weiter mit Ihnen darüber sprechen.«
»Ich werde alle Eröffnungen mit der größten Aufmerksamkeit prüfen und stets von dem eifrigen Wunsche geleitet sein, die Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich immer besser und freundlicher zu gestalten,« erwiderte Graf Bismarck in ruhig höflichem Tone.
Der Kaiser blickte auf seine Uhr.
»Die Stunde der Revue rückt heran,« sagte Napoleon, »ich werde noch zu Seiner Majestät hinüberkommen, um ihn zu bitten, mit der Kaiserin hinauszufahren, während ich den Kaiser Alexander aus dem Elysée abhole. – Auf Wiedersehen, mein General,« fuhr er mit freundlichem Lächeln fort, und dem Grafen nochmals die Hand drückend geleitete er ihn einige Schritte zur Tür.
»Er hat recht,« sagte er, als der preußische Ministerpräsident sich entfernt hatte, »er hat recht und von neuem bewundere ich die Schärfe seiner Auffassung. – Aber,« fuhr er in dumpfem Tone fort, »er bleibt verschlossen und unzugänglich für alle meine Versuche, es ist mir unmöglich, auch nur einen Blick auf den Grund seiner Gedanken zu tun! Sollte er wirklich auf halbem Wege – an der Grenze dieses Prager Friedens stehen bleiben wollen, nur um mir den Preis für die Vollendung seines Werkes nicht zu geben? – Unmöglich!« rief er, »Unmöglich! – Oder sollte er glauben, auch die zweite Hälfte seiner Aufgabe erfüllen, Deutschland ganz einigen zu können, ohne Frankreich zufrieden zu stellen? – Nun,« er richtete sich mit einer augenblicklichen Energie empor, »nun – dann wird er sich einer anderen Situation als derjenigen von 1866 gegenüber befinden!«
Der Kaiser machte einige Schritte durch das Zimmer.
»Und doch – und doch,« sagte er dann mit leisem Tone, »bei ihm ist die Kraft, der Willen, der Entschluß – und lieber stände ich mit ihm allein verbunden in Europa da, als daß ich gezwungen wäre, ihn anzugreifen, auch wenn die Koalition mit jenen schwachen und unzuverlässigen Mächten gelingen sollte. – Es ist da eine kleine Intrige im Werk,« sagte er nach einigem Nachdenken, »man will diesen Minister verdrängen – die Kaiserin arbeitet mit emsigem Eifer daran, eine Persönlichkeit an seine Stelle zu setzen, die ihr ganz ergeben ist.«
Er lächelte mit eigentümlichem Ausdruck.
»Man hat mir die Fäden dieser ganzen kleinen intrigue des boudoirs vorgelegt, – Torheit, Torheit! Durch solche kleinen Spinnenfäden hüben und drüben zieht man einen Mann, wie diesen Grafen Bismarck, nicht von dem Postament seiner Stellung herunter, das von Eisen gefügt und mit Blut gekittet ist. – Außerdem, was wäre damit gewonnen, wenn eine schwache Hand an seiner Stelle das Ruder ergriffe? Die Bewegung würde in schrankenloser Hast fortrollen, das revolutionäre Element würde in dieselbe dominierend eintreten und unberechenbare Katastrophen würden vielleicht den Bestand der Ordnungen Europas erschüttern. Nein, nein,« rief er, »dieser Mann hat wenigstens die starke Hand, den festen und klaren Willen, welcher nötig ist, um die Geschicke eines Staates zu lenken, und mit ihm wird doch schließlich eine Verständigung möglich sein. – Wird jene Intrige auch an sich schon erfolglos bleiben,« fuhr er dann sinnend fort, »so ist es doch gut, wenn ich vielleicht ein wenig noch dazu beitrage, das kann das Verhältnis nur verbessern, meine guten Gesinnungen zeigen – und vielleicht meinem Spiel eine Karte mehr geben.«
Er blickte abermals auf seine Uhr.
»Es ist Zeit,« sagte er mit tiefem Seufzer.
Ein schmerzlicher Zug erschien auf seinem Gesicht.
»Welche Pein,« flüsterte er, »diese Revue, diese Stunden zu Pferde, um welchen Preis von Sorgen und Schmerzen wird der beneidete Glanz auf den Höhen der irdischen Herrlichkeit erkauft!«
Er bewegte die Glocke. Felix erschien an der Tür der inneren Gemächer.
»Ich muß mich ankleiden. Die große Uniform!« sagte der Kaiser und begab sich in sein Toilettenzimmer.
Graf Bismarck war, vom General Favé begleitet, die Treppe hinabgegangen und in seinen Wagen gestiegen, der ihn in schnellem Trabe davonfuhr.
»Der arme Mann tut mir in der Tat leid,« sagte der Graf, sich gedankenvoll in die Kissen zurücklehnend, »er hat soviel Sympathisches und ist im Grunde doch eine groß und gut angelegte Natur. Die gesellschaftliche Ordnung in Europa verdankt ihm viel, wenn er auch freilich wieder manche gefährliche Elemente heraufbeschworen hat, die nicht leicht wieder zu bannen sein werden. Wie schade, daß er sich nicht zu klarer Auffassung der Verhältnisse, zu großen, folgerechten Gedanken erheben kann! – Da wird nun wieder eine kleine Bettelei um diese oder jene Kompensation angehen, er möchte Belgien haben, um das Blut der Orleans von den Grenzen Frankreichs zu entfernen; nun, ich werde das alles anhören – und schweigen. Er möchte die Einigung Deutschlands antizipieren, um sie von seinem Willen abhängig zu machen und den Preis dafür bestimmen zu können, darin aber täuscht er sich, denn lieber will ich mein begonnenes Werk unvollendet der Zukunft überlassen, als daß Deutschlands Einigkeit erkauft werden sollte für einen an Frankreich bezahlten Preis! – Wie unsicher muß er sein, wenn er mich um Rat fragt, wie er Frankreich regieren soll! Den Konstitutionalismus will er einführen,« sagte der Graf lächelnd, »und doch ist das starke automatische Regiment die einzige Möglichkeit, diese ewig gärende französische Nation zu beherrschen und sie mächtig, stark und aktionsfähig zu machen. – Fast wollte es mir unrecht scheinen, ihm zu seinem konstitutionellen Experiment zu raten, aber konnte ich ihm einen Rat geben, dessen Befolgung Frankreich stark und offensiv mächtig macht, da ich doch klar vor mir sehe, daß das Ende von dem allen früher oder später ein Kampf, ein schwerer nationaler Kampf sein muß?«
Er blickte nachdenklich auf die menschenbelebten Kais, über welche er nach dem Faubourg Saint-Germain hinfuhr.
»Doch,« sprach er weiter, »ich habe mein Gewissen beruhigt, indem ich ihm zugleich das Korrektiv gezeigt habe, durch welches er allen Gefahren begegnen kann, die ihm und seiner Dynastie aus der konstitutionellen Regierung erwachsen können. – Befolgt er meinen Rat,« fuhr er lächelnd fort, »so werden die Kräfte Frankreichs sich im konstitutionellen Spiel und Gegenspiel binden, von Zeit zu Zeit, wenn ihm die höher flutende Bewegung an den Hals steigt, wird er durch einen kleinen oder größeren coup d'état sich wieder etwas Luft schaffen, er wird sich, wenn er dann richtig handelt, auf dem Thron erhalten, diese unruhigen Franzosen werden nicht in der Lage sein, ein Aktion nach außen zu beginnen, und werden wohl die Dinge in Deutschland ohne Einmischung gehen lassen müssen!«
Der Wagen fuhr in den Hof der preußischen Botschaft, Graf Bismarck stieg einen Augenblick in seine Wohnung hinauf, um dann sogleich sich zu der großen Revue zu begeben.
Eine Stunde später sah die in dem Hofe der Tuilerien versammelte Menge die kaiserlichen Equipagen vor dem Pavillon de l'Horloge vorfahren. Napoleon III. in der großen Generalsuniform, mit dem karmoisinroten Bande der Ehrenlegion, stieg ein und fuhr, gefolgt von den Offizieren des persönlichen Dienstes, durch den Ausgang nach den Kais zu, um den Kaiser Alexander aus dem Palais de l'Elysée abzuholen. Die Piqueurs ritten voran, der Stallmeister Raimbeau in großer Uniform galoppierte am Schlage. Die Hundertgarden in ihren wunderbar prächtigen, an die alte Rittertracht erinnernden Uniformen in Blau, Scharlach und Gold sprengten auf ihren herrlichen schwarzen Pferden vor und hinter dem Wagen des Kaisers, dessen müdes, bleiches Gesicht einen eigentümlichen Kontrast bildete zu der großartigen Pracht dieses Aufzuges.
Kaum hatte das kaiserliche Cortège den Hof der Tuilerien verlassen, als der leichte, elegant gebaute Wagen der Kaiserin unter das Wetterdach fuhr. Ihre Majestät erschien sogleich in duftig einfacher Toilette. Der Baron de Pierre begleitete sie mit der Gräfin de Lourmel und der Marquise von Latour-Maubourg, den Damen vom Dienst. Strahlender Sonnenschein lag auf der reinen Marmorstirn und den schönen Zügen der Kaiserin, stolz und anmutig trug sie den Kopf auf ihrem so ausdrucksvoll beweglichen Halse, sie warf einen leuchtenden Blick auf diese hinter dem Gitter sich drängende Menge, welche in bewundernde Zurufe beim Anblick der schönen Beherrscherin Frankreichs ausbrach, auf derselben Stelle, auf welcher einst die Massen der Revolution das Blut der eben so anmutigen und schönen Königin Marie Antoinette gefordert und die Köpfe ihrer ritterlichen Verteidiger auf den Spitzen ihrer Piken umhergeschwenkt hatten.
Rasch stieg die Kaiserin allein in den Wagen, die vier prachtvollen Pferde zogen an und hielten eine Sekunde darauf vor dem Eingang des Pavillon Marsan.
In demselben Augenblick erschien der König von Preußen in der großen Uniform, mit den wehenden Generalsfedern auf dem Helm, in der Türe, ihm folgte der Graf von Bismarck, mächtig und fest einhertretend in der weißen Uniform mit dem blitzenden Stahlhelm, und die ernste, hohe und schmächtige Gestalt des Generals von Moltke.
Bei dem Erscheinen des Königs erhob sich die Kaiserin und blieb im Wagen stehen, den Monarchen erwartend, der schnell herantrat, Ihrer Majestät artig mit ritterlicher Höflichkeit die Hand küßte und dann neben ihr Platz nahm.
Graf Bismarck und General von Moltke stiegen mit den Damen der Kaiserin in den zweiten Wagen, der Baron de Pierre schwang sich auf sein Pferd, um seinen Platz am Wagenschlage der Kaiserin einzunehmen, die hellblau und weißen Lanciers de l'Impératrice formierten sich vor und hinter dem Wagen und man sah diesen ganzen Zug, der so duftig, so hell und so heiter erschien im Vergleich mit dem Cortège des Kaisers, aus diesem Hofe hinausfahren, der schon so viel Herrlichkeit und Glanz und so viel Blut und Schrecken gesehen hatte.
Fröhlich lachend unterhielt sich der König mit der Kaiserin. »Quelle bonne mine,« hörte man, »Vive l'Impératrice!« – »Vive le Roi de Prusse!« ertönte es hier und da an den Gittern. Glücklich in froher Bewegung drängte die Menge den Wagen nach, welche über die Kais nach den Champs-Elysées in den hellen, lichten Sonnenschein hinausfuhren.
Mußte man nicht fröhlich sein, wenn man diesen kaiserlichen Glanz sah, diese herzliche Einigkeit mit dem gewaltigen, siegreichen Beherrscher Preußens, welche den Frieden, die Ruhe, den Wohlstand Frankreichs und Europas verbürgen mußte?
Wer bemerkte sie in dieser frohen Erregung, diese finsteren Gesichter, welche hie und da mit blutig düsteren Blicken auf das stolze Schloß und das schimmernde Cortège der Souveräne gerichtet waren, wer mochte sich in diesem Augenblicke daran erinnern, daß auf diesem selben Boden der Glanz des ersten Napoleon gestrahlt hatte und daß später von hier der arme, kleine König von Rom in nächtlicher Flucht seiner dunklen Zukunft entgegengeführt war, daß diese Erde das Blut der Bartholomäusnacht getrunken und daß die aus diesem Blut aufsteigenden Rachegeister an dieser Stelle schon viermal die Trümmer zusammenbrechender Throne aufgehäuft hatten?