Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Der Leutnant von Wendenstein war mit seinem Begleiter an dem Gebäude der Polizeidirektion in der Nähe des Waterlooplatzes angekommen. Er verließ den Wagen, man führte ihn über die große Vorhalle, wo eine Anzahl von Beamten fortwährend den Dienst hatte, auch standen hier zwei Militärposten, weiter die Treppe hinauf zu dem großen Zimmer, in welchem der Polizeidirektor Steinmann ihn erwartete.
Herr Steinmann, früher Landrat in Thorn, war ein mittelgroßer, eleganter Mann von fünfunddreißig bis sechsunddreißig Jahren, sein feines, geistvolles Gesicht mit den lebendigen, schwarzen Augen und schwarzem, kurzem Haar und Bart bewegte sich in lebhaftem, ausdrucksvollem Mienenspiel und zeigte keine Spur von dem Ausdruck eines Bureaukraten. Sein Blick war frei und offen, seine Bewegungen hatten jene vornehme und ritterliche Leichtigkeit, welche den alten Korpsburschen meist durch das ganze Leben eigentümlich bleiben.
Er erhob sich, als der Leutnant eintrat, von dem Stuhle hinter seinem großen, in der Mitte des Zimmers stehenden Schreibtisch und lud den jungen Mann ein, auf einem in der Nähe des Fensters stehenden Fauteuil Platz Zu nehmen, während er selbst sich ihm gegenüber niederließ.
»Es tut mir leid, Herr von Wendenstein,« sagte er mit einem Tone, in welchem die Höflichkeit des Weltmannes sich mit der würdevollen Zurückhaltung des höheren Beamten verband, »daß ich Sie zu diesem Besuch habe veranlassen müssen, ich hätte gewünscht, baß wir uns bei einer angenehmeren Gelegenheit kennen gelernt hätten.« »Es sind Anzeigen über lebhafte erneute Agitationen an mich gelangt,« fuhr der Polizeidirektor fort, »und Ihr Name ist damit in Verbindung – in sehr wesentliche Verbindung gebracht, ich bin deshalb gezwungen, da diesen Agitationen durchaus ein Ende gemacht werden soll,« sagte er mit scharfer Betonung, »Sie in Sicherheit bringen zu lassen, vielleicht,« fügte er mit wohlwollendem Tone hinzu, »zu Ihrem eigenen Besten, ich wünschte dringend, alle diese Sachen im Keime ersticken zu können, bevor sie zu strafbaren Handlungen werden, gegen welche wir bei der jetzigen Lage der Dinge mit aller Schärfe der Gesetze einzuschreiten gezwungen sind. – Stehen Sie mit Hietzing und mit dem König Georg in Verbindung?« fragte er nach einer kurzen Pause, »und wissen Sie etwas von dem Plan einer Emigration von früheren hannöverischen Offizieren und Soldaten?«
»Herr Direktor,« erwiderte der junge Mann ruhig, »ich beabsichtige mich zu verheiraten und auf dem Lande meine Häuslichkeit zu begründen, unter solchen Verhältnissen konspiriert man nicht, ich lebe ruhig im Hause meiner Eltern – und denke nicht daran, Hannover zu verlassen.«
»Das ist keine direkte Antwort auf meine Frage,« sagte Herr Steinmann, »doch,« fuhr er fort, »ich habe als Polizeidirektor fragen müssen, als Gentleman habe ich eine Antwort nicht erwarten können. – Ich hoffe,« sagte er nach einem augenblicklichen Stillschweigen, »daß der gegen Sie erregte Verdacht sich nicht bestätigen werde, bei dem Ernst der Sache aber muß ich Sie einige Tage hier behalten. Großen Komfort kann ich Ihnen nicht bieten,« sagte er lächelnd, »indes können Sie sich alles kommen lassen, was Sie zu Ihrer Bequemlichkeit bedürfen, nur den Verkehr mit der Außenwelt bin ich gezwungen, zu beschränken, Sie können Briefe erhalten und schreiben, nur muß ich die Indiskretion begehen, sie zu lesen.«
Herr von Wendenstein verneigte sich.
»Hier habe ich,« fuhr der Polizeidirektor fort, »eine Anzahl von Fragen auf diesen Bogen Papier geschrieben, ich bitte Sie, sich an diesen Tisch zu setzen und dieselben zu beantworten, ich kann keine Denunziationen von Ihnen erwarten, indes je offener und klarer Sie sich aussprechen, um so schneller werde ich die Beschränkung Ihrer Freiheit beenden können, ich wiederhole, daß ich Schlimmes zu verhüten wünsche, aber niemand zu schaden, damit der tragische Konflikt, in welchem wir stehen, so wenig Opfer als möglich fordere.«
Herr von Wendenstein setzte sich an einen Seitentisch und begann das ihm übergebene Blatt aufmerksam zu lesen, während der Polizeidirektor vor seinem Schreibtisch Platz nahm und sich mit seinen Akten beschäftigte, von Zeit zu Zeit einen scharfen, forschenden Blick auf den jungen Mann hinüberwerfend.
»Wie schade,« flüsterte er vor sich hin, »um diese tüchtigen Leute, welche mit einem edlen Gefühl sich von einer verderblichen, zwecklosen und törichten Agitation mißbrauchen lassen, wie schwer ist es hier, die Strenge des Amtes zu üben, wo das Gefühl so oft sympathisch für die Gegner spricht!«
Es mochte eine halbe Stunde vergangen sein – die Tür wurde geöffnet und in dienstlicher Haltung trat der Beamte ein, welcher zuerst in dem Zimmer des Oberamtmanns erschienen war.
Er näherte sich seinem Chef und legte ein Paket Papiere vor ihn hin.
»Alles beendet?« fragte Herr Steinmann.
»Zu Befehl, Herr Direktor,« erwiderte der Kommissar, »hier die Ausbeute.«
»Es ist gut – bleiben Sie im Vorzimmer.«
Der Beamte entfernte sich.
Herr Steinmann durchsah die ihm übergebenen Papiere. Er warf einige achselzuckend beiseite. Dann wurde der Ausdruck seines Gesichts ernst und finster. Sorgfältig prüfte er ein Blatt nach dem anderen, mit immer größerer Aufmerksamkeit wieder und wieder den Inhalt durchlesend.
Dann nahm er das Paket, erhob sich und trat zu dem Tisch, an welchem der junge Mann saß.
Dieser stand auf.
»Herr von Wendenstein,« sagte der Polizeidirektor mit tiefem Ernst, den jungen Mann traurig und mitleidig ansehend, »ich bedauere, daß Ihre Sache nicht so gut steht, als ich hoffte.«
Der Leutnant warf einen Blick auf die Papiere, welche Herr Steinmann in der Hand hielt, und erbleichte leicht.
»Sind Ihnen diese Papiere bekannt?« fragte der Polizeidirektor, die Blätter etwas auseinander ziehend.
Herr von Wendenstein zögerte einen Augenblick.
»Ich glaube,« sagte er dann, »daß es alte Briefe und Notizen sind, die in meinem Schreibtisch lagen, in meinem verschlossenen Schreibtisch,« fügte er hinzu, »dessen Schlüssel ich hier bei mir habe.«
»Ich habe,« erwiderte der Polizeidirektor, »wie dies Vorschrift und in Fällen, wie dieser, für die Sicherheit des Staates unerläßlich ist, bei Ihnen eine Nachsuchung anstellen lassen müssen, dies hat man gefunden. So alt scheinen die Papiere nicht zu sein, einige sind ganz frisch geschrieben. Ich kann Ihnen nicht verbergen, daß dies Ihre Lage wesentlich kompliziert, es sind hier die Schlüssel zu verschiedenen Chiffrekorrespondenzen, Adressen – zum Teil im Auslande, Briefe, aus denen deutlich die Absicht und die Vorbereitungen zu einer militärischen Emigration hervorgehen, das alles, bei Ihnen gefunden, erhebt den gegen Sie vorliegenden Verdacht fast zur Gewißheit und muß eine ernste und scharfe Untersuchung zur Folge haben.«
»Herr Direktor,« sagte der junge Mann mit freiem Blick und dem Tone der Wahrheit, »ich kann Ihnen mein Wort geben, daß diese Papiere nicht mein sind, fragen Sie nach, man muß sie in einem versiegelten Kuvert gefunden haben, sie sind mir zur Aufbewahrung gegeben, und ich kann versichern, daß ihr Inhalt mir kaum – ihre Bedeutung mir noch weniger bekannt ist.«
Der Polizeidirektor sah ihn mit tief forschendem Blick an. Auf den Zügen des jungen Mannes stand die Wahrheit seiner Worte geschrieben.
Voll Mitleid ruhte der Blick des Polizeidirektors auf diesem so offenen, so freien und so edlen Gesicht.
Er schwieg einige Augenblicke. Zögernd und als ob die Worte widerstrebend von seinen Lippen sich lösten, sagte er dann:
»Ich wünsche, daß Sie die Wahrheit sprechen, Herr von Wendenstein, als Mensch mag ich Ihnen glauben, als Beamter darf ich es nicht. – Ich muß,« fügte er noch zögernder hinzu, »ich muß Sie darauf aufmerksam machen, daß, wenn Sie die Wahrheit sagen, es meine Pflicht ist, Sie zu fragen, wer Ihnen diese Papiere zur Aufbewahrung gegeben hat, es ist dies der einzige Weg für Sie, um der Behörde zu beweisen, daß Sie nicht unmittelbar beteiligt sind, und um ihr die Möglichkeit zu geben, den wahren Schuldigen zu entdecken und zu verfolgen.«
Herr von Wendenstein erhob stolz den Kopf.
»Ich bin hannöverischer Offizier und Edelmann,« erwiderte er.
Ein heller Strahl sympathischer Teilnahme blitzte in dem Auge des Polizeidirektors auf. Dann verschleierte sein Blick sich traurig, und mit ernstem Tone sprach er:
»Wenn Sie die Mitteilung über den Eigentümer dieser Papiere ablehnen, so müssen Sie persönlich die Verantwortung tragen, welche der Besitz derselben nach sich zieht, und – ich sage Ihnen,« fügte er hinzu, »diese Verantwortung ist schwer!«
»Ich übernehme sie,« sagte der junge Mann ruhig.
»Die Fragen, welche ich Ihnen vorher gestellt habe,« fuhr der Polizeidirektor fort, »modifizieren sich wesentlich durch diesen Zwischenfall, ich muß mit dem Zivilkommissar konferieren und dem Generalgouverneur Vortrag halten. – Ich muß Sie also bitten, sich zunächst in Ihrem Zimmer einzurichten.« Er zog die Glocke. »Führen Sie den Herrn nach seinem Zimmer,« befahl er dem eintretenden Beamten.
Und mit artiger Verbeugung entließ er den jungen Mann, welcher dem Beamten folgte, der ihn durch einen langen Korridor führte. Vor einer verschlossenen Tür blieb er stehen und rief aus einem Seitenraume den Schließer, welcher das große, schwere Schloß öffnete.
Herr von Wendenstein trat in einen nicht großen, aber hellen Raum, das breite Fenster war mit starken Eisenstangen dicht vergittert, die Wände kahl und weiß gestrichen, ein einfaches, rein überzogenes Veit stand an der einen Wand, ein Tisch und zwei Stühle an der anderen, eine Wasserflasche und ein Glas vervollständigten die Ausstattung des Zimmers.
Der junge Offizier schauderte leicht zusammen beim Eintritt in dieses Gemach, das so scharf abstach von den eleganten, komfortablen Umgebungen, an welche er gewöhnt war.
»Man wird mir Wäsche und Kleidungsstücke bringen,« sagte er, »darf ich mir auch ein Sofa kommen lassen?«
»Ich sehe kein Hindernis,« antwortete der Beamte.
»Und darf ich Licht brennen?«
»Nach der Hausordnung bis neun Uhr abends, doch zweifle ich nicht, daß man eine Ausnahme gestatten wird.«
»Wollen Sie dann die Güte haben, dem Diener, welcher meine Sachen bringt, zu sagen, daß er mir Kerzen verschaffen solle?«
Der Beamte neigte schweigend den Kopf und entfernte sich.
Die Tür wurde von außen verschlossen, ein Riegel vorgeschoben. Der junge Mann blieb allein.
Er ging mit einigen großen Schlitten in dem bereits dunklen Gemach auf und nieder.
Dann blieb er vor dem vergitterten Fenster stehen und blickte zum Himmel hinauf, an welchem die Steine, noch halb überhellt von dem Schein des sinkenden Tages, in bleichem Licht zu flimmern begannen.
»Da draußen tauscht das volle, reiche Leben,« sagte er leise, »ich habe es zurückgewiesen, um in häuslicher Stille das Glück des Herzens zu finden – und nun? – Eingeschlossen in die öden Mauern des Gefängnisses, vielleicht auf lange –« Er seufzte tief. »Wenn nur wenigstens die anderen zur rechten Zeit entkommen, die anderen, welche hinausziehen wollen – in die Freiheit!«
Er warf sich auf sein Bett und versank in tiefe Träumereien, aus denen ihn das Bedürfnis der jugendlichen Natur bald in wirklichen Schlaf hinüberführte. [leer] Herr von Tschirschnitz hatte inzwischen in dem Restaurationslokal der Georgshalle mit aller Sorglosigkeit eines vollkommen unbeschäftigten jungen Mannes und mit dem ganzen kräftigen Appetit eines Magens von siebenundzwanzig Jahren sein Souper vollendet. – Er hatte sich lange bei dem Dessert aufgehalten, eine halbe Flasche Portwein getrunken, mit einigen hinzukommenden Herren geplaudert, kurz, auf die natürlichste und scheinbar angenehmste Weise von der Welt seine Zeit totgeschlagen, so daß draußen die Dunkeltzeit vollständig herabgesunken war, als er endlich seine Rechnung bezahlte und sich anschickte, das Lokal zu verlassen.
In diesem Augenblick trat rasch ein kleiner, bleicher Mann mit einem nervösen Gesicht und funkelnden, schwarzen Augen herein. Er trug ein kaufmännisch geschlossenes Paket mit einer großen Postadresse unter dem Arm.
Er trat rasch an den Schenktisch und rief dem Kellner zu: »Ein Glas Bier – aber schnell, ich habe noch einen Gang zu machen und bin sehr durstig! – Guten Abend, Herr von Tschirschnitz,« sagte er, während der Kellner ein Glas füllte, »wie geht es Ihnen? ich habe Sie lange nicht gesehen.«
»Wie Sie sehen, Herr Sonntag, ganz gut,« erwiderte Herr von Tschirschnitz lachend, indem er dem Eingetretenen, der sich ihm genähert, die Hand reichte, »man ernährt sich, so gut man kann,« fügte er hinzu, nach den Resten seines Soupers auf dem kleinen Tische hindeutend.
»Ich muh Sie sogleich sprechen – folgen Sie mir,« flüsterte der Kaufmann Sonntag, fast ohne die Lippen zu bewegen, und laut rief er: »Ja, ja, die Herren haben jetzt nichts zu tun. Nun, in Ihren Jahren erträgt sich das leicht, man ist nicht in Verlegenheit, um kleine angenehme Beschäftigungen,« er leerte mit einem durstigen Zuge sein Glas und sagte mit einer Verbeugung gegen den jungen Offizier: »Ich empfehle mich Ihnen, Herr von Tschirschnitz, ich muß versuchen, ob ich die Post noch offen finde, um dies Paket abzusenden.«
Und schnell entfernte er sich durch eine Seitentür, welche nach einem Korridor des Hauses führte, der auf eine dem Bahnhof naheliegende Straße ausmündete.
Herr von Tschirschnitz schlenderte langsam in dem Lokale auf und ab.
»Wenn ich nur wüßte, was man in dieser langweiligen Zeit mit seinem Abende anfangen sollte,« rief er laut und trat zu einer Gruppe von Herren, welche an einem Nebentische saßen.
Nachdem er sich hier einige Zeit unterhalten, ging er wieder langsam auf und nieder und verschwand dann schnell und unbemerkt durch dieselbe Seitentür, durch welche sich der Kaufmann Sonntag entfernt hatte. Dieser stand in dem matt erleuchteten Korridor.
Rasch trat er in eine Tür, welche zu einer Art von Domestikenzimmer führte, in welchem ein Licht brannte.
Herr von Tschirschnitz folgte ihm.
»Die Gefahr ist groß und unmittelbar!« rief der kleine Kaufmann Sonntag, als die Tür geschlossen war, »Sie werden alle überwacht; draußen vor dem Eingänge der Georgshalle steht ein Polizeibeamter, Herr von Wendenstein ist soeben verhaftet, Sie dürfen nicht nach Hause, Sie müssen sofort abreisen!«
»Aber mein Gott,« rief Herr von Tschirschnitz erschrocken – »wie –«
»Haben Sie Geld?« fragte Herr Sonntag, eifrig sein Paket öffnend.
»Genug,« erwiderte Herr von Tschirschnitz, »aber –«
Herr Sonntag breitete den Inhalt seines Paketes auf dem Tische aus.
»Ich bitte Sie um Gottes willen, fragen Sie nicht,« rief er, »tun Sie genau, was ich sage, und alles wird gut gehen. – Zunächst,« fuhr er eifrig fort, »mit dem Bart herunter, das ist ein zu deutliches Kennzeichen.«
Und er stellte einen kleinen Spiegel auf den Tisch, das Licht daneben, drückte Herrn von Tschirschnitz auf den Stuhl davor und reichte ihm ein Rasiermesser
Dann schlug er Seifenschaum und seifte den schönen Vollbart des Offiziers mit einer Geschwindigkeit und Geschicklichkeit ein, welche dem geübtesten Barbier Ehre gemacht hätte.
Herr von Tschirschnitz ließ mit großen, erstaunten Augen diese überraschende Manipulation an sich vollziehen.
Endlich konnte er nicht umhin, laut aufzulachen.
»Ich bitte Sie um Gottes willen, lachen Sie nicht, sondern rasieren Sie sich,« rief der kleine Sonntag, »die Augenblicke sind kostbar, oder soll ich –«
Er streckte die Hand nach dem Messer aus.
»Nein, nein,« rief Herr von Tschirschnitz immer lachend, »Sie könnten mir in Ihrem Eifer die Nase fortnehmen!«
»Diese Herren sind doch nie zum Ernst zu bringen,« rief Sonntag halb lachend, halb unmutig, »schnell, schnell –«
In einigen Minuten war der schöne, braune Bart von dem Gesicht des Offiziers verschwunden.
»Auch den Schnurrbart?« fragte er mit leichtem Zögern.
»Mein Gott, der wächst ja so schnell wieder,« rief Sonntag ungeduldig, »herunter damit!«
Und auch der lange Schnurrbart fiel unter dem scharfen Strich des Messers.
»So,« rief der kleine Sonntag, »jetzt den Rock aus – rasch – rasch – diese Bluse angezogen – hier diese Mütze auf den Kopf – so,« sagte er mit zufriedenem Tone, »das ist gut, das macht ein neues Signalement nötig.« – Er drehte den jungen Mann herum und betrachtete ihn von allen Seiten, es war in der Tat kaum möglich, in dieser einem Arbeiter ähnlichen Gestalt den schönen, eleganten Offizier wiederzuerkennen.
»Und nun?« fragte Herr von Tschirschnitz, eine große Brieftasche aus seinem Rocke nehmend und in die Tasche der Bluse steckend.
»Nun hören Sie wohl zu,« sagte der Kaufmann Sonntag, den Zeigefinger der rechten Hand emporhebend – »Sie gehen hier zur Seitentür nach der Bahnhofsstraße hinaus, ruhig und langsam, an der Ecke gegenüber dem Ernst-August-Denkmal werden Sie einen Dienstmann finden, Sie werden ihn um den Weg nach der Georgs-Marienstadt fragen; wenn er Ihnen antwortet: |›die Georgs-Marienstadt ist mein Viertel, ich werde Ihnen den Weg zeigen‹, so folgen Sie ihm und allen seinen Anordnungen – jetzt kein Wort weiter – glückliche Reise!«
»Aber?« fragte Herr von Tschirschnitz.
»Fort, fort!« rief der Kaufmann Sonntag, »die Augenblicke sind kostbar, Sie haben einen Teil der Nacht, Ihr Beobachter glaubt Sie hier in der Georgshalle, ich werde dafür sorgen, daß bis zum Morgen hier Licht, Lachen und Gläserklirren sein wird, – das wird viele Wahrscheinlichkeit haben und der Mann wird auf seinem Posten bleiben.«
Er drängte Herrn von Tschirschnitz zur Tür hinaus.
Dann legte er den Rock, welchen der junge Mann ausgezogen, in sein Paket, schloß dasselbe wieder und eilte durch das Restaurationslokal zurück, auf die Straße zur Post hin. Hier war die Expedition bereits geschlossen. Herr Sonntag klopfte an alle Türen, trat in verschiedene Bureaus und begehrte, überall seine Uhr hervorziehend und zeigend, daß die Stunde des Schlusses noch nicht lange vorüber sei, eine ausnahmsweise Expedition seines sehr eiligen Pakets. Als ihm dieselbe überall verweigert wurde, entfernte er sich endlich unter Auswechslung mehrerer wenig verbindlicher Redensarten mit den Bureaubeamten, welche ihm erklärten, daß sie ihn bei längerer Störung entfernen lassen würden.
Er hatte vor möglichst zahlreichen Zeugen acte de présence im Postgebäude gemacht.
Herr von Tschirschnitz war unterdessen mit ruhigen, langsamen Schritten die Bahnhofsstraße zu Ende gegangen.
An der Ecke des großen Hotel Royal, gegenüber dem auf der Mitte des Bahnhofsplatzes stehenden Denkmal des König Ernst August, stand gegen die Mauer gelehnt ein Dienstmann in blauer Bluse, das Blechschild mit der Nummer an der Mütze.
»Guter Freund,« sagte Herr von Tschirschnitz, geschickt das Patois des Volkes nachahmend, »könnt Ihr mir den Weg nach der Georgs-Marienstadt zeigen?«
»Die Georgs-Marienstadt ist mein Viertel,« erwiderte der Dienstmann, sich langsam von dem Mauervorsprung aufrichtend, auf den er halb sitzend sich gestützt hatte, »ich werde Sie hinführen, heute ist doch nichts mehr für mich hier zu tun.«
Er reckte die Arme aus, dehnte einige Male seinen ganzen Körper mit einem lauten Atemzuge, dann ging er langsam über den Platz hin. Er sah sich mehrmals um, der Platz war fast leer, nur vor dem Bahnhof standen einige Polizeibeamte in Uniform, eine dunkle Gestalt in Zivilkleidung lehnte am Gitter des Ernst-August-Denkmals.
Als der Dienstmann über den von den großen Gaslaternen überleuchteten Platz gekommen war, bog er in eine kleine, dunkle Nebengasse hinter dem Postgebäude ein und blieb nach wenigen Schritten vor einem Seiteneingange des Bahnhofs stehen.
Hier erwartete ihn, wie es schien, ein Bahnhofsbeamter, der ruhig im Schatten der Tür lehnte.
»Hier ist verbotener Weg«, sagte der Beamte, in der Dunkelheit einen forschenden Blick auf die herannahenden Gestalten richtend.
»Der Mann will zur Georgs-Marienstadt,« antwortete der Dienstmann, »ich wollte ihn gern auf dem kürzesten Wege dahin führen.«
»Folgen Sie mir,« sagte der Eisenbahnbeamte zu Herrn von Tschirschnitz und schritt ihm in den dunkelsten Teil dieser entlegenen Abteilung des Bahnhofs voran. Der Dienstmann verlor sich in der Dunkelheit der Straße.
Herr von Tschirschnitz folgte seinem Führer, welcher in einen großen, vollkommen finsteren Güterschuppen eintrat. Er ergriff die Hand des Offiziers und leitete ihn durch verschiedene, von großen Kisten gebildete Gänge zu einem von ungeheuren Fässern umgebenen kleinen Raum. Hier zog er eine Blendlaterne unter einem kleineren Fäßchen hervor.
Herr von Tschirschnitz blickte forschend auf den Mann, der ihn geführt hatte, er sah ein ihm völlig unbekanntes Gesicht.
»Sie können mir vertrauen,« sagte sein Führer lächelnd und zog unter einem der großen Fässer einen langen weiten Überrock, eine schwarze Perücke, einen runden, breitkrämpigen Hut und eine große Reisetasche hervor.
Herr von Tschirschnitz zog auf die Aufforderung des Beamten schnell seine Bluse aus und legte den Überrock an. Er befestigte die Perücke auf seinem Kopf und setzte den Hut auf; dann brachte er sein großes Portefeuille in der weiten Tasche seiner neuen Bekleidung unter und nahm die Reisetasche in die Hand.
»Vortrefflich!« rief der Beamte, »niemand wird Sie erkennen! – Hier,« sagte er dann, beim Schein der Laterne eine Brieftasche öffnend, »ein Billett nach Osnabrück, hier eine Paßkarte auf den Namen Meyerfeld, erinnern Sie sich wohl, daß Sie Meyerfeld beißen, einige Geschäftsbriefe an Herrn Meyerfelds Adresse in gestempelten Kouverts – zur besseren Legitimation im Notfalle, der hoffentlich nicht eintreten wird, in Osnabrück nehmen Sie sogleich für den anschließenden Zug ein Billett nach Arnheim, und nun kommen Sie, es ist keine Zeit zu verlieren!«
Er löschte die Laterne, reichte Herrn von Tschirschnitz die Hand und führte ihn aus dem Schuppen. Auf den Schienen, weit entfernt von der Halle des Bahnhofs, stand ein einzelner Wagen. Zwei Arbeiter waren in der Nähe.
Der Beamte führte Herrn von Tschirschnitz an diesen Wagen, öffnete geräuschlos den Schlag und ließ den jungen Mann in ein dunkles Kupee zweiter Klasse steigen.
»Verhalten Sie sich hier ganz ruhig,« sagte er, »und glückliche Reise!«
Er schloß den Schlag. »Alles in Ordnung?« fragte er die beiden Arbeiter, an ihnen vorbeigehend.
»Alles in Ordnung,« erwiderten diese mit leiser Stimme. Sie gingen langsam dem belebten Teile des Bahnhofes zu. Eine halbe Stunde später läutete man zum ersten Male für den Zug nach Osnabrück.
An allen Eingängen des Bahnhofsgebäudes nach der Stadt zu standen Polizeibeamte, ebenso an allen Ausgängen nach dem Perron, Die Reisenden, welche ankamen, wurden genau gemustert, – es waren sämtlich harmlose, unverdächtige Personen.
Man stieg ein. Schnell waren die Koupees besetzt, es fand sich, daß nur zwei Personenwagen einrangiert waren. Die Reisenden fanden keine Plätze und zankten ungeduldig mit den Schaffnern.
»Welche Nachlässigkeit!« rief der Zugführer. »Herr Bahnhofinspektor, es sind nicht genug Personenwagen da!« Zwei Arbeiter traten heran. »Wir haben vergessen, den einen Wagen, der noch für den Zug bestimmt war, heranzuschieben,« sagten sie, die Mützen abnehmend.
»Ihr werdet in Strafe genommen für diese Nachlässigkeit,« sagte mit strengem Tone der Bahnhofinspektor. »Jeder einen Taler Abzug, kommt so etwas noch einmal vor, so werdet ihr entlassen, nun schnell, schnell,« rief er heftig, »daß der Wagen herankommt, und noch einen mehr, es sind viele Reisende!«
Die Arbeiter eilten fort, einige andere folgten ihnen.
In kurzer Zeit waren zwei weitere Wagen einrangiert, die Reisenden drängten sich zu denselben hin und stiegen ein, das Signal wurde gegeben, der Zug rollte mit schnaubender und pfeifender Lokomotive in die Nacht hinaus.
Herr von Tschirschnitz saß in der Ecke eines vollkommen besetzten Kupees. – Der Schaffner hatte die Billetts markiert – alles war in Ordnung.
Die Polizeibeamten hatten alle Eingänge besetzt, nach der Polizeidirektion ging die Meldung:
»Zum Osnabrücker Zug niemand Verdächtiges zum Bahnhof gekommen.«
Und es kam der Befehl zurück, den Bahnhof die ganze Nacht besetzt zu halten.
Vor dem Theater aber ging langsamen Schrittes ein Mann auf und nieder, die Tür zur Georgshalle unablässig im Auge haltend. Die Fenster des Restaurationslokals waren hell erleuchtet, Gläserklirren und laute, fröhliche Stimmen ertönten in die Nacht hinaus, von Zeit zu Zeit sah man Gestalten an den hellen Fenstern vorbeigehen.
»Das ist ein schlechtes Geschäft,« murmelte der Mann draußen, »jemand zu bewachen hier in der kalten Nacht, der wohl bis morgen früh hinter dem Glase sitzen wird!«
Und fröstelnd zusammenschauernd nahm er seinen langsamen Spaziergang wieder auf.