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In der stillen Wohnung der Madame Raimond im kleinen Hause der Rue Mouffetard hatte sich in den wenigen Tagen, seit die Arbeiterin Madame Bernard dort eingezogen war, ein immer freundlicher sich gestaltendes Leben entwickelt.
Die junge Hausgenossin dieses kleinen, einfachen Kreises hatte vom ersten Abend ihrer Anwesenheit an eine Atmosphäre von Reiz und Sympathie um sich her zu verbreiten gewußt. Oftmals kam die alte Frau Raimond während des Tages in das Zimmer ihrer Mieterin und jedesmal machte sie ihr im Tone der aufrichtigsten Überzeugung ihre Komplimente über die saubere Reinlichkeit sowohl, welche in der so bescheidenen Umgebung herrschte, als auch über die Geschicklichkeit und den unverdrossenen Fleiß, mit welchem die junge Frau ihre Arbeit förderte. Sie saß da an dem Fenster ihres Stübchens, das sie schon am ersten Tage mit einer ganz leichten, aber frisch und anmutig arrangierten Gardine von weißem Mull dekoriert hatte, und obwohl sie, so lange die alte Frau bei ihr war, unaufhörlich freundlich und harmlos mit ihr plauderte, so ruhten doch ihre Augen immer auf der zarten, weißen Stickerei, an der sie arbeitete, und ihre feinen, schlanken Finger bewegten sich so eifrig und sicher in ununterbrochener Tätigkeit, daß Madame Raimond bei jedem Besuch, den sie ihrer Mieterin machte, den Fortschritt der Arbeit bemerken konnte, und daß die fertigen Arbeiten schon zweimal in wenigen Tagen hatten fortgetragen werden können, um für einen für die ärmlichen Verhältnisse dieses Haushalts sehr erheblichen Betrag abgeliefert zu werden. Und dabei war die junge Frau so mäßig und anspruchslos – fast ohne Bedürfnisse als die zierliche und feine Wäsche, welche sie trug. Sie trank morgens ihre Milch, sie frühstückte mittags ein Ei und etwas Brot, nur abends ließ sie es sich nicht nehmen, zu dem einfachen Diner, welches sie mit ihrer Wirtin und dem jungen Arbeiter teilte, immer den einen oder andern Leckerbissen herbeizubringen, und was auch die sparsame Frau Raimond sagen mochte, sie bestand darauf, diesen Beitrag zu liefern, der, wie sie sagte, ihre eigene Neigung zur Gourmandise befriedigen solle, obgleich sie von den kleinen, zierlichen Pâtes, welche sie aus einem jener hübschen, einladend ausgestatteten Charkuterieläden mitbrachte, nur eben so viel kostete als nötig war, um die Honneurs ihrer Gabe zu machen.
Und George Lefranc, der finstere, brütend ernste Mensch? Er war wie verwandelt, es war, als ob ein lichter, sonniger Schimmer über sein ganzes Wesen ausgegossen sei; wohl blickte sein dunkles, brennendes Äuge noch tief und sinnend vor sich hin, aber ein mildes und weiches Leuchten lag über dieser stillen, dunklen Glut und seine sonst so fest und streng geschlossenen Lippen öffneten sich oftmals zu einem hellen, fast kindlichen Lächeln. Rasch hörte man um die Stunde des Arbeitsschlusses seinen leichten Schritt die Treppe hinaufeilen, schnell vertauschte er in seinem Zimmer den Arbeitsanzug mit frischer Wäsche und einer reinen Bluse, um in dem kleinen Raum zu erscheinen, welchen Madame Raimond ihren Salon nannte und in welchem sie abends ihre Mieter bei sich versammelte.
Der junge Arbeiter mit seinem sorgfältig geordneten, reichen Haar, das magere, blasse und strenge Gesicht von einem glücklichen Lächeln überstrahlt, entwickelte hier gesellige Eigenschaften, die man nie vorher an ihm bemerkt hatte, er bediente die Frauen mit einer gewissen natürlichen Anmut bei ihrem einfachen Diner, er nahm Teil an dem leichten, heiteren Geplauder, welches die neue Mitbewohnerin so allerliebst fortzuführen verstand, nicht ohne zuweilen einen leisen Seufzer zu unterdrücken und einen wie unwillkürlich traurigen Augenaufschlag unter den schnell gesenkten Augenlidern zu verhüllen. Mit tiefer Teilnahme blickte dann jedesmal der junge Mann zu ihr herüber, oft schien es, als ob eine Frage auf seinen Lippen schwebe, aber sie wurde nicht ausgesprochen, denn rasch kehrte das Lächeln wieder auf das Gesicht seiner schönen Nachbarin zurück und mit verdoppelter, liebenswürdiger Beflissenheit plauderte sie weiter, gleich als wolle sie ihrer Umgebung den Schatten verbergen, welcher wohl aus den Tiefen einer schmerzlichen Vergangenheit hervorstieg.
Madame Raimund betrachtete mit glücklichen und zufriedenen Blicken diese beiden so harmlos mit einander plaudernden jungen Leute, sie schien sich über deren Zukunft ihre ganz besonderen Gedanken zu machen, welche sie jedoch auszusprechen keine Gelegenheit fand. Wohl richtete sie zuweilen an Herrn George die Frage, ob er noch immer der Ansicht sei, daß in den Kreisen der Armut und Arbeit keine heitere und fröhliche Häuslichkeit möglich sei; der junge Mann antwortete auf solche Fragen nicht anders als durch einen tiefen Blick auf die neben ihm sitzende und auch hier immer mit einer leichten Handarbeit beschäftigte Nachbarin, es lag in diesem Blick ein Schimmer warmer Dankbarkeit, verbunden mit dem Ausdruck einer schüchternen Frage, und wenn die junge Frau auch diesen Blick nicht sah, ihre Augen waren ja stets auf ihre Arbeit gerichtet, so schien sie ihn doch zu fühlen, denn jedesmal flog es wie der Hauch eines leichten Errötens über ihre zarten Wangen und dann wurde das Lächeln auf den Lippen des ernsten Arbeiters noch glücklicher, noch hoffnungsvoller.
So waren einige Tage vergangen und während dieser wenigen Tage hatte sich das stille Leben der drei Menschen so ineinander gefügt, daß es schien, als ob sie immer miteinander gelebt hätten, als ob sie immer miteinander fortzuleben bestimmt wären. Madame Raimond sprach dies wenigstens oft in sehr zufriedenem Tone aus, der junge Mann schwieg, aber der Ausdruck seines Gesichts zeigte, daß seine Ansicht durchaus mit der seiner freundlichen Hauswirtin übereinstimmte und die Blicke beider ruhten dann mit sympathischer Freude auf der schönen und anmutigen Frau, welche in ihrer harmlosen Einfachheit es gar nicht zu ahnen schien, daß der stille Reiz ihrer Persönlichkeit allein das Zauberband war, das diesen kleinen, in sich zufriedenen Kreis zusammenschloß.
Dieser Kreis hatte sich einige Tage nach dem Einzug der jungen Weißstickerin noch um eine Person vermehrt; Madame Raimond hatte auch ihr letztes Zimmerchen an einen alten, kränklichen und fast ganz tauben Herrn vermietet, welcher sich durch seine Legitimationspapiere als Herr Martineau ausgewiesen und der gutmütig zuhörenden Frau in einer langen und sehr ausführlichen Auseinandersetzung die an sich ziemlich einfache Geschichte erzählt hatte, daß er sich vor zehn oder fünfzehn Jahren mit einem hübschen Vermögen aus dem kaufmännischen Geschäft zurückgezogen, das er früher betrieben; seine Frau und ein Sohn, den er gehabt, seien gestorben, durch unglückliche Kapitalanlage habe er sein Vermögen fast ganz verloren und er suche nun, allein in der Welt dastehend, eine Wohnung in einem rechtschaffenen Hause, das ihm einige Pflege in seiner Gebrechlichkeit biete und ihm erlaube, mit den geringen ihm übrig gebliebenen Mitteln ruhig das Ende seines Lebens zu erwarten.
Das war ganz der Mieter, wie Madame Raimond ihn sich wünschen konnte, und so war denn der alte Herr Martineau in das noch freistehende Zimmer eingezogen, hatte dasselbe mit einigen altertümlichen, von früherer Wohlhabenheit zeugenden Mobilien ausgestattet, die Schränke mit dem Inhalt seiner ebenfalls alten, aber gut erhaltenen Koffer gefüllt und war freundlich in den kleinen Kreis der Hausgenossen aufgenommen worden, in den der stille, alte Mann übrigens außer seiner persönlichen Anwesenheit keine nennenswerte Veränderung brachte.
Denn nicht nur war der alte Mann mit den scharfgeschnittenen Gesichtszügen, welche zuweilen noch kräftiger und fester erschienen, als seine Jahre es hätten vermuten lassen, so taub, daß eine Teilnahme an der Konversation für ihn unmöglich wurde, sondern auch waren seine Augen so leidend, daß er nur wenig mehr sehen konnte. Er trug stets eine Brille mit großen, dunkelblauen Gläsern, welche seinen Blick vollständig verdeckten und auf seinem Gesicht keinen andern Ausdruck bemerken ließen, als ein stilles, freundlich wohlwollendes Lächeln, das in stereotyper Gleichmäßigkeit auf seinen Lippen ruhte. Er hatte Madame Raimond sehr ausführlich die Geschichte der Entstehung dieses Augenleidens erzählt und ihr die Brille abnehmend, seine geröteten und entzündeten Augenlider gezeigt, die gute Frau hatte ihm sofort, voll Mitleids für den so hart heimgesuchten, alten Mann, das Rezept zu einer vortrefflichen Augensalbe gegeben, welche er auch mit bereitwilligster Gewissenhaftigkeit ihrer Vorschrift gemäß anwendete, ohne daß indes eine Besserung eingetreten wäre, die ihm erlaubt hätte, einen Augenblick die blaue Brille abzunehmen.
So saß denn der alte Mann, die gebückte Gestalt in einen altmodischen, hoch hinauf zugeknöpften Überrock gehüllt, um den Hals eine weite, fast das Kinn einschließende, weiße Halsbinde, auf dem Kopf eine kurze Perrücke von verschossen brauner Farbe, unter welcher an den Schlafen einzelne dünne Locken des natürlichen, weißen Haares hervorsahen, so saß er da am Abend in dem kleinen Wohnzimmer der Madame Raimond, still lächelnd und durch die großen, dunkelblauen Brillengläser bald den einen, bald den anderen anblickend. Die junge Frau Bernard erzeigte ihm mit vieler Liebenswürdigkeit alle jene kleinen Dienste, welche das Alter von einer gut erzogenen Jugend zu beanspruchen das Recht hat, und er machte ihr dafür oft eines jener altfränkischen, förmlichen Komplimente, das sie mit einem höflichen und verbindlichen Lächeln erwiderte. Schnell hatte man sich an seine Anwesenheit gewöhnt: Madame Raimond, an jedem Abend anfangs so heiter und gesprächig, ließ bald ein wenig, dann immer mehr das Haupt sinken und verfiel in einen leichten Schlummer, der alte Herr saß ruhig und still da, und so blieb dann die Unterhaltung den beiden jungen Leuten überlassen, denen übrigens der Stoff dazu selten ausging, und selbst wenn sie zuweilen einige Zeit in sinnendem Nachdenken dasaßen, so schien ihnen dies keine Langeweile zu verursachen. Mit skrupulöser Pünktlichkeit erhob aber um zehn Uhr Madame Raimond das sanft eingenickte Haupt, stand auf und schloß das Beisammensein mit der Bemerkung, daß es Zeit sei, zu Bett zu gehen. Denn man stand früh auf in dieser kleinen Welt der Arbeit, schon um fünf Uhr morgens saß die junge, fleißige Weißstickerin bei ihrer Arbeit zur großen Freude der sorgsamen Wirtin, welche bei ihrer Einwohnerin, wenn sie ihr das Milchfrühstück brachte, stets schon einen bemerkenswerten Fortschritt der Arbeit fand, George aber ging oft schon zu noch früherer Stunde zu seiner Arbeit hinaus.
Eines Morgens hatte sich, als er in seinem Arbeitskostüme sich anschickte, die Treppe hinabzusteigen, die Türe seiner Nachbarin geöffnet, und die junge Frau war auf dem Vorplatz erschienen, ihre Flasche in der Hand, um etwas Wasser aus der Küche zu holen.
Fast erschrocken blieb der junge Mann stehen, als in dem hellen Rahmen der geöffneten Tür vor ihm das reizende Bild dieser zarten, frischen Frau erschien, in dunklem, einfachen Morgenrock, den schlanken Hals mit weißer, sauber gefalteter Krause umgeben, das glänzende Haar halb bedeckt von einem zierlichen Häubchen, welches das schöne Oval des Gesichts einschloß.
»Guten Morgen, mein lieber Nachbar!« rief sie ihm mit ihrer Stimme, die er so gern hörte, entgegen, »ich freue mich, Ihnen zu begegnen und Ihnen Glück zu Ihrer Tagesarbeit wünschen zu können, ich denke immer, die Mühe des Tages trägt sich leichter und freudiger, wenn man den Gruß und den guten Wunsch eines Freundes mit sich hinausnimmt!« Und sie reichte ihm mit einem hellen Lächeln voll herzlicher Freundlichkeit die zarte, weiße Hand.
Zögernd und befangen trat der junge Mann zu ihr und nahm diese Hand in die seine.
»Gewiß freut mich Ihr lieber Morgengruß, Madame,« sagte er mit etwas befangenem Ausdruck, »aber,« fuhr er fort, indem sein Blick über seinen schwarzen, rußigen Arbeitsanzug hinabglitt, »was denken Sie, mich in dieser Gestalt zu sehen, Sie, die Sie immer so zart, so frisch sind, meine Arbeit –«
»Welch ein Gedanke!« rief sie, fest seine Hand drückend, und indem sie ihr Auge einen Augenblick mit fast liebevollem Ausdruck über seine auch in dieser entstellenden Umhüllung schön und kräftig hervortretende Gestalt gleiten ließ, fügte sie in lebhaftem Tone hinzu:
»Wie finde ich ihn schon, diesen Anzug, er ist die Tracht der Arbeit, des ehrlichen, festen Kampfes mit dem Leben um den Preis seiner reinsten und edelsten Freude, der Zufriedenheit und Selbstachtung, kann es für den Mann eine schönere Tracht, eine würdigere Erscheinung geben?«
Ein Blitz heißen Glückes, unendlicher Dankbarkeit sprühte aus seinem Auge, in rascher Bewegung hob er ihre Hand empor und drückte sie fest und innig an seine Lippen.
Es schien, als wolle er in feurigem Ausbruch glühende Worte sprechen, aber er sagte nur mit einer Stimme voll tiefen Gefühls: »Dank, Dank, Sie wissen nicht, wie glücklich mich dies gute, liebe Wort macht, welchen Stolz und welches Selbstgefühl es in mein Herz gießt!«
Sie stand da, die Augen wie in überraschter Verwirrung zu Boden gesenkt, aber sie zog ihre Hand nicht zurück, und mit einem leichten Druck ihrer zarten Finger sagte sie leise:
»Auf Wiedersehen also – diesen Abend!«
Noch einmal umfaßte sein Blick voll innigen Feuers die schlanke Gestalt, dann sagte er mit gepreßter Stimme: »Auf diesen Abend!« und eilte schnell zur Türe des Vorplatzes hinaus die Treppe hinab. Sie sah ihm einen Augenblick nach mit dem Ausdruck stolzen Triumphes, dann senkte sie ein wenig den Kopf und es schien fast, als ob ein leichter Schimmer mitleidiger Teilnahme über ihre Züge glitt, rasch aber wendete sie sich dann zurück und füllte ihr Wassergefäß. Als eine Stunde später Madame Raimond in das Zimmer der jungen Frau trat, fand sie bereits eine am Abend vorher begonnene Stickerei weit vorgeschritten und konnte nicht genug den unermüdlichen Eifer der so fleißigen Arbeiterin loben.
Von diesem Morgen an hatte der junge Arbeiter an jedem Morgen, bevor er ausging, leicht und schüchtern an die Türe dieser so zierlichen und fast eleganten Frau geklopft, die sich nicht scheute, ihn im Kostüme seiner Arbeit zu begrüßen, und hatte ihr durch die Türe zugerufen: »Guten Morgen, liebe Nachbarin!« Jedesmal aber war sie ebenfalls schon auf, freundlich hatte ihre Türe sich geöffnet, sie hatte George die Hand gereicht, seinen Morgengruß mit reizendem Lächeln erwidert und mit herzlichem Tone hinzugefügt: »Viel Glück zu Ihrem Tagewerk, mein lieber Freund.« Dann war er hingezogen zu seiner Arbeit, ganz erfüllt von diesem lichten und ihm schon zur lieben Gewohnheit gewordenen Bilde, und während er in den dunkeln Tiefen der Kamingänge der großen Hotels und der Werkstätten arbeitete in mühevoller und schwerer Tätigkeit, begleitete ihn die Erinnerung an den Morgengruß seiner Freundin, während er zugleich die Stunden zählte, die ihn dem freundlichen, geselligen Abend näher brachten, an welchem sie neben ihm sitzen würde, durch ihre anmutige Geschicklichkeit die ärmliche Umgebung mit tausend kleinen Reizen schmückend und durch ihr sanftes und herzliches Geplauder tausend Gedanken in seinem Geist erweckend, tausend liebliche Bilder aus dem Grunde seiner Seele hervorzaubernd.
So hatte sich das tägliche Leben in dem kleinen Kreise gestaltet. Madame Raimond bemerkte wohl die immer traulichere Freundschaft, welche die beiden jungen Leute verband, aber sie freute sich derselben von Herzen, bildeten doch der kräftige, tüchtige und solide junge Mann und die fleißige und geschickte Frau ein Paar, wie es besser gar nicht zusammengebracht werden konnte, ein Paar, dem Glück und Wohlstand nicht fehlen konnte, und im Geiste malte sich die alte Frau schon aus, wie sie den beiden ihren kleinen Haushalt einrichten wollte, denn bei ihr mußten sie bleiben, das stand bei ihr fest, sie konnte sich gar nicht denken, wie sie wieder ihre Abende ohne diese liebe Gesellschaft zubringen solle. Herr Martineau, der alte, blinde Mann, aber sah von dem allem nichts, er saß still in seinem Zimmer, machte um die Mittagszeit einen kleinen Spaziergang, von welchem er nach einer Stunde, mühsam die Treppe hinaufsteigend, zurückkehrte, und saß am Abend still und freundlich lächelnd in seiner Ecke, die gute Madame Raimond bedauerte den Alten herzlich, für den ja die beiden wichtigsten Fäden, welche die menschliche Seele mit dem Leben der Außenwelt verbinden, das Gehör und das Gesicht, fast abgeschnitten waren.
Es waren kaum zehn bis zwölf Tage vergangen, seitdem Madame Bernard in das Haus der Rue Mouffetard eingezogen war, als eines Abends die kleine Gesellschaft um den Tisch ihrer Wirtin versammelt saß.
George hatte, als er in das Zimmer der Madame Raimond trat, einen prachtvoll blühenden Rosenstock mitgebracht, den roten Blumentopf sauber in weißes Papier gewickelt und mit einem roten Seidenband umwunden.
»Sie erlauben mir, Madame Bernard,« sagte er, zwar noch immer mit einer gewissen zurückhaltenden Schüchternheit in dem Tone seiner Stimme, doch mit einem vertraulich offenen Blick, »daß ich ein wenig zur Ausschmückung Ihres Zimmers beitragen darf, ich sah diese schöne Blume auf dem Markt an der Madeleine und glaubte, es würde Ihnen Freude machen, sie an Ihrem Fenster zu haben.«
Mit dem Ausdruck kindlicher Freude wendete sich die junge Frau zu ihm, und schnell ihm die Hand reichend, rief sie: »O wie schön, wie danke ich Ihnen, mein lieber Freund, wissen Sie, eine Blume hat eigentlich nur dann Wert, wenn sie uns von Freundeshand geschenkt wird, jede Blüte bringt uns dann in ihrem Duft den Gruß eines andern Menschenherzens, das an unsern Freuden und Leiden Teil nimmt!«
Lächelnd nahm sie eine kleine Schere von einem Seitentisch, auf welchem die Arbeit der Madame Raimond lag, schnitt eine voll aufgeblühte Rose ab und steckte dieselbe an ihre Brust.
»Diese Blüte hatte nicht lange mehr zu leben,« rief sie, »ich kann mir wohl die Freude erlauben, mich ein wenig zu putzen, die andern dort, welche sich eben erst erschließen, darf ich ihres Daseins noch nicht berauben.«
George blickte mit entzücktem Auge zu ihr herüber, Madame Raimond aber sagte in sorglichem Tone: »Sie dürfen aber nachts die Blume nicht in Ihrem Zimmer behalten, liebes Kind, man hat Beispiele, daß der Duft Personen getötet hat.«
»So werde ich sie abends auf den Vorflur stellen,« rief die junge Frau, immer mit freudigen Blicken die schönen Rosen betrachtend, »und Herr George wird gewiß die Güte haben, wenn er zur Arbeit geht und mir guten Morgen wünscht, mich daran zu erinnern und mir mein Pflegekind wieder hereinzureichen, so werde ich die Freude des Geschenks immer von neuem haben,« fügte sie mit einem reizenden Blick auf den jungen Mann hinzu. Dann stellte sie den Blumentopf in die Mitte des Tisches, so daß das Licht der kleinen Lampe in wunderbar schönem Farbenspiel die grünen Blätter und die roten Blüten durchleuchtete.
»Welch schöne Blume,« sagte Herr Martineau mit seinem stereotypen Lächeln, und langsam aufstehend, näherte er seine Nase vorsichtig jeder einzelnen Blüte, langsam den Duft einziehend, als wolle er sich durch den Geruchssinn entschädigen für die Genüsse, die er bei dem mangelhaften Zustande seines Gehörs und Gesichts entbehren muhte.
Niemand antwortete ihm, es war ja doch vergeblich, zu ihm zu sprechen, aber mit freundlicher Teilnahme blickte die junge Frau zu ihm hinüber und nickte ihm lächelnd zu, als wolle sie ihre Befriedigung darüber ausdrücken, daß das Geschenk ihres Freundes auch dem armen, alten Mann eine harmlose Freude bereitete.
Bald war das Diner beendet, in leichtem, heiterem Geplauder war eine halbe Stunde verflossen, als Madame Raimond wie gewöhnlich langsam ihr Haupt auf die Brust niedersinken ließ, und nachdem sie noch durch einige kurze, abgerissene und immer seltenere Bemerkungen ihre Teilnahme an der Konversation darzutun versucht hatte, sanft in ihren kleinen Schlummer versank, durch welchen sie sich zu ihrer Nachtruhe vorzubereiten pflegte.
Eine kleine Pause trat ein, während welcher die junge Frau wie träumerisch ihren Blick auf dem vom Lampenlicht durchzitterten Blumenstock ruhen ließ, während George sie mit fast andächtigem Ausdruck anschaute.
»Ich kann Ihnen nicht genug danken,« sagte Madame Bernard endlich, »für dies liebliche, freundliche Geschenk, diese Blume bringt mir einen Gruß von der schönen, weiten, freien Natur da draußen, die ich so sehr liebe, und von der man hier so weit ist in dem großen, heißen und staubigen Paris, so weit, ach, so weit!«
Sie senkte die Augen und seufzte tief.
»Sehen Sie,« fuhr sie fort, »wenn ich diese Blume an meinem Fenster sehen werde, so malt sich meine geschäftige Einbildungskraft einen schönen, grünen Rasen dazu, und Bosketts von dunkeln, schattigen Bäumen, und das freie Sonnenlicht, das draußen so ganz anders ist, als hier in den geschlossenen Häusermassen, und die kleinen Schmetterlinge, und die Luft, o die schöne, freie Luft!«
Und abermals seufzte sie lief mit leicht zitternden Lippen.
»Madame Bernard –« sagte der junge Mann, der mit steigender Bewegung ihren Worten gelauscht hatte.
»Herr Lefranc?« unterbrach sie ihn, den Blick ein wenig erhebend mit dem lächelnden Ausdruck schelmischer Neckerei.
»Louise, meine Freundin!« fuhr er mit entzückten Blicken fort.
»Mein Freund George!« erwiderte sie mit treuherzigem Ausdruck, »ich glaube, so war es abgemacht?«
»O wie gut Sie sind!« rief er, ihre Hand ergreifend, »ich habe meine Freundin, die so gütig mein kleines Geschenk angenommen, noch um etwas zu bitten! Ich hätte es nicht gewagt,« fuhr er fort, indem er wie schüchtern die Augen niederschlug, »aber da Sie eben so sehnsüchtig von dem Glück sprachen, das die frische Luft und die freie Natur da draußen in Wald und Feld gewährt, so – möchte ich um die Erlaubnis bitten, Sie morgen, am Sonntage, hinausführen zu dürfen nach dem Bois de Boulogne, oder weiter hin nach Saint Cloud ober Ville d'Avray.«
Sie blickte ihn wie forschend an und zögerte mit der Antwort.
»Wir kennen uns noch nicht lange Zeit,« sagte er ein wenig betroffen von ihrem Schweigen, »aber ich hoffe doch genug, daß Sie mich Ihres Vertrauens würdig halten sollten?«
»O mein lieber Freund,« rief sie, »es ist nicht das, ich zögerte,« fuhr sie fort, einen Blick auf Madame Raimond werfend, deren Haubenbänder sich in Übereinstimmung mit ihren gleichmäßigen Atemzügen bewegten, »zunächst – weil ich nicht weiß, wie unsere gute Madame Raimund von einem solchen Ausflug denkt – und weil ich ohne ihre Zustimmung –«
»Sie kennt mich,« rief George, »länger schon als Sie,« sagte er leiser im Tone leichten Vorwurfs, »und sie wird sich freuen, wenn wir uns gemeinschaftlich einen so schönen und reinen Genuß verschaffen, nachdem wir lange in strengem Arbeitskreise eingeschlossen waren.«
»Und dann,« sagte sie leise mit gesenktem Blick, während die zarten, seinen Fingerspitzen mit den Blättern der Rose vor ihrer Brust spielten, »es ist nicht das allein –«
»Nicht das allein?« rief er, erschrocken zu ihr aufblickend, »und was –«
»Hören Sie mich an, mein Freund,« sagte sie immerfort in ihren Schoß blickend, »ich will Ihnen nicht verbergen, was ich denke, nur weiß ich nicht, ob es mir gelingt, es so klar auszudrücken, wie ich es möchte, ob ich mich richtig verständlich machen kann.«
»Ich werde alles verstehen, was Sie mir sagen,« rief er, »habe ich doch schon so vieles gelernt, was mir früher unverständlich war,« setzte er in fast unhörbarem Tone hinzu. »Glauben Sie nicht,« sagte sie sinnend, als suche sie die Worte, um ihren Gedanken richtig auszudrücken, »daß es zwischen zwei Personen eine gewisse, von der Natur in sie gelegte, sympathische Anziehungskraft geben könne, welche in unbestimmter Sehnsucht schlummert, wenn beide getrennt von einander durch das Leben gehen, welche aber in rascher und mächtiger Wirkung sie zu einander zieht, wenn ihre Wege sich einander nähern?«
»Ich glaube es,« sagte er mit glänzenden Blicken.
»Wenn nun,« fuhr sie fort, »zwei Menschen, deren Seelentöne in harmonischer Beziehung zu einander stehen, vom Schicksal einander näher geführt werden, so muß – glaube ich – ein Augenblick kommen, in welchem man fühlt, daß die Schranken, welche die äußeren Verhältnisse zwischen ihnen aufrichten, durchbrechen müssen, daß sie sich einander ganz nähern, ganz verstehen, ganz kennen müssen, um entweder zu fortdauernder, voller und untrennbarer Harmonie ineinander zu klingen, oder,« fugte sie seufzend, »in schrillem Mißklang für immer wieder auseinander gerissen zu werden.«
»Wie wäre das Letztere möglich,« sagte er, sie verwundert anblickend, »bei zwei Seelen, die sympathisch für einander geschaffen sind?«
Ein tiefer Atemzug hob ihre Brust. Ihre Finger zerdrückten in unruhig zitternder Bewegung ein Rosenblatt, das sich von der Blüte an ihrer Brust gelöst hatte.
»Wenn nun aber,« sagte sie langsam in noch leiserem Tone, »wenn nun aber trotz aller sympathischen Neigung, bei vollständiger Kenntnis des ganzen Lebens, der ganzen Vergangenheit, Punkte hervortreten könnten, welche – welche – vor denen der Zug des einen Herzens zu dem andern zurückschrecken könnte, welche eine Trennung der – Freundschaft bewirken könnten, wenn solche Punkte bei voller Annäherung, bei freiem Aussprechen nicht umgangen und verborgen werden können, ist es da nicht vielleicht natürlich, daß man – zwar das Fallen der trennenden Schranken, das Ende der Dämmerung ersehnt, und doch vor dem Licht zurückschreckt, weil – weil man die Möglichkeit der Trennung fürchtet?« fügte sie in ganz leise flüsterndem Tone hinzu.
Er hatte ihr zuerst erstaunt, dann in atemloser Spannung, endlich in finsterem Ernst zugehört, bei ihren letzten Worten überflog ein Ausdruck süßen Glückes sein Gesicht, frei und groß sah er sie mit seinen tiefen Blicken an und mit warmem und weichem Tone antwortete er:
»Wenn der sympathische Zug der Herzen gegründet ist auf Vertrauen und auf die Achtung, ohne welche keine wahre Freundschaft, keine wahre Liebe bestehen kann, dann ist es unmöglich, daß die Erörterung irgendwelcher unbekannten Punkte der Vergangenheit den sympathischen Zusammenklang der Seelen zerstöre, denn wo wirklich die wahre und reine Harmonie besteht, da wird jedes Unglück tiefes und treues Mitgefühl, ja,« fuhr er aufatmend und den festen und treuen Blick in ihr langsam und schüchtern sich aufschlagendes Auge tauchend fort, »ja – jede Schuld herzliches Vergeben und Vergessen finden.«
Eine Pause entstand.
»Wollen Sie also morgen mit mir einen Ausflug in die freie Natur machen?« fragte er dann.
Sie sah ihn mit mildem Ernst an, reichte ihm die Hand und sagte mit fester Stimme: »Ja!«
»So wollen wir,« rief er fröhlich, »in der Frühe aufbrechen, um noch den Morgentau auf den Blüten funkeln zu sehen, damit der ganze Tag uns gehöre!«
»Nicht zu früh,« sagte sie mit freundlichem Lächeln, »ich muß die Messe hören, ich pflege das an keinem Sonntage zu versäumen.«
»Die Messe?« fragte er erstaunt, »um in einem dumpfen Steinbau, von betäubenden Weihrauchwolken erfüllt, den unverständlichen Gesang gedankenloser Priester anzuhören, darum wollen Sie eine Stunde opfern, welche Sie der großen Andacht in der heiligen Morgenstille der reinen Natur weihen können?«
Sie sah ihn ernst und nachdenkend an.
»Wohl erfüllt uns die weite, freie Natur mit hoher Freude und Dankbarkeit gegen die Schöpfungskraft,« sagte sie, »aber was uns so freudig in der frischen Luft und unter den grünen Bäumen aufatmen läßt, das ist doch immer nur das jubelnde Aufjauchzen des frischen Sinnengenusses. Die wahre Andacht, mein lieber Freund, besonders die Andacht einer Frau, das ist die stille Einkehr in das eigene Herz, die Demut, welche sich ergebungsvoll beugt nicht vor dem Weltenherrscher, der in leuchtenden Wundern seine Schöpfungsherrlichkeit offenbart, sondern vor dem Gott, der in treuer Liebe das irrende und bangende Menschenherz tröstet und zu sich erhebt.«
Er sah sie erstaunt an. »Und glauben Sie, glauben Sie ernstlich an ein solches persönliches Wesen, das sich um die Leiden und Sorgen des einzelnen Menschenherzens kümmert?«
»Lassen Sie mich,« sagte sie, »auf Ihre Frage mit einer andern Frage antworten, »würden Sie eine Frau lieben können, das heißt einer Ihr Fühlen, Ihr Denken, Ihr Streben und Ihre Ehre anvertrauen können, wenn diese Frau kein anderes Heiligtum kennte, als das unbewußte, einfach natürliche Wohlgefühl, das die Schönheit der Natur, das freie Atmen in der freien Luft den Sinnen des Menschen einflößt, das Wohlgefühl, das wir mit den Tieren, mit den Tieren der untersten Stufe selbst teilen, ja das jene vielleicht in noch höherem Maße genießen, als wir, da ihre Organe durch das rein natürliche Leben empfänglicher sind als die unsrigen für die Sinneneindrücke der Natur? – Würden Sie glauben,« fuhr sie fort, »daß eine Frau, welche nur diesen Kultus in ihrem Herzen trägt, imstande wäre, den stillen, heiligen Frieden des häuslichen Herdes zu behüten, die Entsagungen und Entbehrungen des Lebens nicht nur zu tragen, sondern auch mit reinen und unvergänglichen Blüten zu schmücken? – Müßten Sie nicht jeden Augenblick fürchten, daß eine Frau, deren ganzes Heiligtum nur die Natur wäre, wie sie heute vom natürlichen Triebe zu Ihnen geführt wurde, morgen sich ebenso – einem neuen Eindruck folgend – von Ihnen abwendete, wie die Blume des Feldes, welche ihren duftenden Kelch jedem heranflatternden Schmetterling öffnet –? – Wenn ich,« sagte sie, ihn tief anblickend, »nur jene Naturreligion in meinem Herzen trüge, würde ich hier neben Ihnen sitzen in der Entbehrung und Entsagung des beschränkten, häuslichen Kreises, statt in der weiten Welt den glänzenden, schimmernden Genuß zu suchen? Und wenn ich hier in diesem beschränkten Kreise glücklich bin,« fügte sie mit inniger Betonung hinzu, »so ist es gewiß nicht die Religion der sinnlichen Natur, aus welcher ich dieses Glück schöpfe. Darum,« sagte sie lächelnd, »lassen Sie mir meine Messe und meine Priester, vielleicht ist das Schwäche, werden Sie sagen, aber die Schwäche ist ja das Los der Frauen, unsere Stärke liegt im Herzen, in seiner Hingebung, seiner Treue.«
Der junge Arbeiter stand auf und machte mit gesenktem Haupt einige Schritte hin und her.
Dann trat er zu seiner Freundin heran und sprach mit bewegter Stimme:
»Ihre Worte dringen tiefer in mein Herz als lange Predigten der Priester, es klingt mir aus diesen Worten etwas hervor wie eine alte, längst vergessene Melodie aus den feinen Tagen meiner Kindheit, unklar und dunkel zwar, aber schön und wohltuend, ich werde darüber nachsinnen – und Sie werden öfter mit mir darüber sprechen, ich habe noch mit keiner Frau über solche Dinge gesprochen, freilich,« sagte er leiser und halb für sich, »habe ich auch noch keine Frau gefunden, mit der ich so hätte sprechen mögen.«
Madame Raimond erhob nach einem tiefen Atemzuge den Kopf. »Es tut mir leid,« sagte sie freundlich lächelnd, »unsere Unterhaltung zu unterbrechen, wir sind schon über die Zeit hinausgegangen, es ist zwar Sonntag morgen, aber wir dürfen die guten Gewohnheiten nicht unterbrechen, also – die Soiree ist geschlossen, meine Freunde!«
Die junge Frau stand auf.
»Herr George hat mir vorgeschlagen, morgen den freien Tag zu einem Ausfluge nach Ville d'Avray zu benutzen, bei welchem er so freundlich sein will, mich zu begleiten,« sagte sie.
Madame Raimond sah mit zufriedenen Blicken auf das junge Paar.
»Vortrefflich – vortrefflich, meine Liebe,« erwiderte sie, »Sie haben sich einige Atemzüge frischer Luft wohl verdient durch Ihre fleißige Arbeit. – Nun, Herr George,« fragte sie, sich zu dem jungen Manne wendend, »es ist Ihr Sonnabend, gehen Sie heute nicht noch aus?«
Ein wenig befremdet richtete die junge Frau Bernard ihren Blick auf den Angeredeten.
»Es ist eine Vereinigung von Arbeitern,« sagte dieser mit etwas gedämpfter Stimme und einem kurzen Seitenblick auf den alten Herrn Martineau, welcher sich dem Beispiel der andern folgend ebenfalls von seinem Stuhle in der Ecke erhoben hatte und mit seinem gleichmäßigen Lächeln auf den Lippen dastand, bereit, sein Zimmer aufzusuchen, um sich zur Ruhe zu begeben, »es ist ein Verein von Arbeitern, der wöchentlich zusammenkommt, um die Interessen unseres Standes zu besprechen, ich fehle ungern dabei,« fuhr er wie sich entschuldigend fort, »es ist eine geistige Anregung, ein Gedankenaustausch, den ich ungern entbehre.«
»Und der Ihnen gewiß Wohl tun wird,« sagte die junge Frau, ihm mit einem Blick voll offener Herzlichkeit die Hand reichend, »auf morgen früh also, gute Nacht, mein Freund.«
Dann zog sie sich in ihr Zimmer zurück, Herr Martineau suchte nach einer steifen, altmodischen Verbeugung und nach einigen ebenso steifen Worten des Dankes für den angenehmen, geselligen Abend das seinige auf. George aber stieg langsam die Treppe hinab, schritt nach einem freundlichen Gruß an den alten Concierge, der den Kordon der Türe zog, auf die Straße hinaus und wendete sich nach der Gegend des Faubourg St. Antoine hin.
Die Straßen waren in diesem Stadtteil bereits fast leer. Die Lumpensammler mit ihren Körben auf dem Rücken, ihren Hackenstöcken und ihren kleinen Laternen zogen aus, um sich in die wohlhabenderen Quartiere zu begeben und aus den Tausenden von Dingen, welche Paris am Tage zuvor unter Schutt und Unrat als unbrauchbar fortgeworfen hatte, alles dasjenige hervorzusuchen, was noch zu irgend einer industriellen oder wirtschaftlichen Verwertung benutzt werden konnte. Diese nächtlichen Gestalten zogen bald in Trupps, bald einzeln an dem jungen Arbeiter vorüber, der in tiefem Nachdenken, zuweilen halblaute Worte vor sich hinmurmelnd, durch die laue, Nacht dahinschritt, bald den hellen Lichtkreis einer Gaslaterne durchschreitend, bald vom Schatten der Häuser bedeckt.
Seinen Kopf und sein Herz erfüllte ein Bild – eine kleine, stille Häuslichkeit, in welcher nach den Mühen des Tages anmutige Behaglichkeit und stiller Frieden die arbeitsmüde Seele umfängt, und in dem Kreise dieser Häuslichkeit bewegte sich diese junge Frau mit den seinen Zügen, den zarten Händen und den dunkeln Augen voll süßer Beredsamkeit.
»Sollte doch in diesen Tempeln voll Orgelklang und Weihrauchduft etwas anderes in die Menschenbrust herabsinken,« flüsterte er, einen Augenblick stehen bleibend, »als der freie, durstige Atemzug aus dem Lichtquell der großen Naturschöpfung uns zu geben vermag?«
Und sinnend das Haupt senkend, schritt er weiter.