Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
O'Briens guter Rat. – Kapitän Kearney geht wieder ins Wunderbare.
—————
Ich entsinne mich keines Umstandes aus der damaligen Zeit meines Lebens, der mein Gemüt so schwer betroffen hätte, als der Verlust des armen Bootsmannes Chucks, den ich sicherlich nicht wieder zu sehen hoffen durfte. Ich glaube, der Hauptgrund war der, daß, als ich in den Dienst trat, und mich jedermann als den Familiengimpel betrachtete, Herr Chucks und O'Brien die einzigen waren, die mich anders beurteilten und behandelten; und gerade ihr Benehmen veranlaßte mich, immer mehr mich anzustrengen, und ermutigte mich in meinen Bemühungen. Ich glaube, daß mancher Knabe, der bei gehöriger Beschützung und Anleitung zum guten ausschlagen würde, durch die unvernünftige Methode mürrischen Anfahrens und Lächerlichmachens mit Gewalt auf den Weg des Bösen getrieben wird, sodaß er dann in seiner Verzweiflung alles Selbstvertrauen verliert und sich vom Strome des Verderbens hinreißen läßt.
O'Brien liebte nicht besonders, selbst etwas zu lesen: er spielte die Flöte ausgezeichnet gut und besaß eine vorzügliche Stimme. Sein Vortrag auf der Flöte war nicht bloß eine Übung, sondern vielmehr der Ausdruck eines künstlerischen Gefühles, was bekanntlich ein großer Unterschied ist; obgleich er übrigens sich selbst nicht mit Lesen beschäftigte, so ließ er mich doch jeden Tag ein paar Stunden in seine Kajütte kommen, um ihm dann allemal den Inhalt des von mir Gelesenen vorzutragen. Auf diese Art unterrichtete er nicht nur mich, sondern schöpfte auch für sich selbst manche Belehrung, denn er machte über das, was ich gelesen hatte, so viele Bemerkungen, daß es sich uns beiden fest ins Gedächtnis prägte.
»Gut, Peter«, konnte er wohl sagen, wenn er in die Kajütte kam, »was hast Du mir heute zu sagen? Unstreitig bist Du der Schulmeister, nicht ich – denn ich lerne jeden Tag von Dir.«
»Ich habe heute nicht viel zu sagen, O'Brien, denn ich dachte an den armen Herrn Chucks.«
»Ganz recht von Dir, Peter, vergiß Deine Freunde ja nicht so schnell, denn Du wirst bei dem Hintraben auf der großen Heerstraße des Lebens deren nicht zu viele finden.«
»Ich möchte nur wissen, ob er tot ist?«
»Das ist eine Frage, die ich nicht beantworten kann: eine Kugel durch die Brust pflegt die Tage eines Mannes nicht zu verlängern, das ist einmal gewiß; aber das weiß ich auch, daß er, wenn er es machen kann, jetzt nicht stirbt, da er ja des Kapitäns Jacke anhat.«
»Ja freilich, er strebte immer danach, für einen Gentleman zu gelten – was thöricht genug war von einem Bootsmann.«
»Gar nicht thöricht, Peter, aber ganz thöricht von Dir, so unüberlegt herauszusprechen: wann sah je einer von uns Herrn Chucks eine gemeine oder unrechte Handlung begehen? Nimmer – und warum? Weil er für einen Gentleman gelten wollte, und dies Gefühl erhob ihn. Eitelkeit ist ein verfluchter Reitesel, ganz geeignet, den Kopf zwischen die Füße zu stecken und uns herunterzuschmeißen; Stolz dagegen ist ein schönes Pferd, das uns über den Erdboden hinträgt und in stand setzt, unsern Reisegefährten vorauszueilen. Wie oft hast Du schon von Leuten gelesen, die aus dem Nichts hervorgingen und große Männer wurden? Allerdings durch ihr Talent, dieses Talent übrigens wurde durch Stolz vorwärts getrieben und durch Eitelkeit gehemmt.«
»Du hast ganz recht, O'Brien, ich sprach thöricht.«
»Laß gut sein, Peter, es hörte es ja niemand außer mir, und so hat es nichts zu bedeuten. Speisest Du heute in der Kajütte?«
»Ja.«
»Auch ich; der Kapitän ist diesen Morgen in der wundersamsten Laune. Er hat mir ein paar Garne gesponnen, die meine Artigkeit und meinen Respekt gegen ihn auf dem Hinterdeck ganz wankend machten. Wie schade, daß ein Mann eine so häßliche Gewohnheit annehmen kann!«
»Ich besorge nur, sie ist ganz unheilbar«, antwortete ich; »doch sind seine Aufschneidereien in der That harmlos, und wie man so sagt, weiße Lügen; auch glaube ich nicht, daß er im Ernste eine Lüge sagen würde, das heißt eine Lüge, welche man herabwürdigend für einen Gentleman halten müßte.«
»Peter, alle Lügen, weiße oder schwarze, sind herabwürdigend für einen Gentleman, obgleich ich allerdings einigen Unterschied zugebe. Gelinde gesagt, es ist immer eine schlimme Gewohnheit, denn weiße Lügen sind nur die nobeln Einführer der schwarzen. Ich kenne nur einen Fall, wo eine Lüge zu entschuldigen ist, da nämlich, wenn man den Feind täuschen will. Die Pflichten gegen das Vaterland rechtfertigen Dich in einem solchen Falle, wenn Du lügst, bis Du schwarz im Gesichte wirst, und gerade darum, weil es Deinem innern Gefühle widerstrebt, wird es eine Art von Tugend.«
»Was gab es denn diesen Morgen für einen Streit zwischen dem Marineoffizier und Phillott?«
»An und für sich gar nichts – der Marineoffizier ist so 'n bißchen ein einfältiger Mensch und glaubt sich beleidigt, wo nicht daran zu denken ist. Herr Phillott hat eine böse Zunge, aber ein gutes Herz.«
»Wie schade!«
»Allerdings, denn er ist ein tüchtiger Offizier; die Sache ist aber die, Peter, daß jüngere Offiziere oft gar zu gern geneigt sind, die Manieren ihrer Vorgesetzten nachzuahmen, und darum ist es höchst wichtig, daß ein junger Gentleman nur mit einem Kapitän segelt, der ein wirklicher Gentleman ist. Nun brachte Herr Phillott seine besten Dienstjahre bei Kapitän Ballover zu, der ob seiner unanständigen und beleidigenden Sprache in der ganzen Flotte bekannt ist. Was war nun die Folge davon? – Phillott hat, wie so manche, die unter ihm dienten, seine üble Gewohnheit angenommen.«
»Ich sollte glauben, O'Brien, daß gerade der Umstand, als jüngerer Offizier durch eine solche Sprache in seinem Innern verletzt worden zu sein, einen doppelt vorsichtig machen müßte, solche Ausdrücke zu gebrauchen, wenn man einmal im Dienste vorrückt.«
»Peter, das ist nur das Gefühl des ersten Augenblicks, das nach einiger Zeit verschwindet, aber zuletzt wird auch Dein eigenes Gefühl des Unwillens abgestumpft und Du wirst gleichgiltig dagegen; auf diese Art vergißt Du dann auch, daß Du andere verletzen könntest, und Du behältst so die Gewohnheit bei, zum großen Nachteil und zur Schmach des Dienstes. Doch jetzt ist es Zeit, sich zum Diner anzukleiden, und deshalb wirst Du besser daran thun, jetzt fortzugehen, während ich mich ein bißchen zurecht stutze, nach den Vorschriften und Regeln von Seiner Majestät Dienst, für den Fall, daß man beim Schiffsbefehlshaber zum Essen eingeladen ist.«
Wir trafen uns wieder an des Kapitäns Tafel, wo wir wie gewöhnlich eine große prunkende Ausstellung von Platten, aber wenig anderes als die gewöhnliche Schiffskost fanden. Wir hatten allerdings jetzt schon einige Zeit gekreuzt, und dies war eine Entschuldigung, übrigens würden sich wenige Kapitäne so schlecht vorgesehen haben.
»Ich befürchte, Gentlemen, Sie werden kein zu großartiges Diner antreffen«, bemerkte der Kapitän, als der Steward die Deckel von den Schüsseln wegnahm, »aber wenn man im Dienste ist, so muß man sich einrichten, so gut man kann. Herr O'Brien, Erbsensuppe? Ich erinnere mich, schon einmal bei einem Kreuzen auf einem Flütschiffe schlechter gelebt zu haben. Wir standen dreizehn Wochen bis an die Kniee im Wasser und lebten die ganze Zeit nur von rohem Schweinefleisch – denn wir waren bei der ganzen Fahrt nicht imstande, Feuer anzumachen.«
»Bitte, Kapitän Kearney, dürfte ich wohl fragen, wo das geschehen ist?«
»Allerdings, auf der Höhe der Bermuden. Wir kreuzten sieben Wochen lang, ehe wir sie finden konnten, und fingen schon an, zu glauben, die Bermuden seien selbst auf ein Kreuzen ausgegangen.«
»Ich denke wohl, Sir, Sie waren sehr erfreut, wieder Feuer zum Kochen Ihrer Speisen zu bekommen, als Sie ankerten?« sagte O'Brien.
»Ich bitte sehr um Verzeihung«, antwortete Kapitän Kearney, »wir hatten uns so an ungekochte Speisen und nasse Füße gewöhnt, daß wir lange Zeit nachher keine gekochten Mahlzeiten mehr einnehmen konnten, und uns nicht anders zu helfen wußten, als daß wir unsere Füße über die Seite hinab ins Wasser steckten. Ich sah, wie einer der Bootswächter eine große Barrakute fing und sie lebendig verschlang – und in der That, wenn ich nicht die strengsten Befehle gegeben und ein halb Dutzend Burschen hätte durchpeitschen lassen, so zweifle ich, ob sie nicht bis auf den heutigen Tag noch ihre Portionen roh verzehren würden. Die Macht der Gewohnheit ist erstaunlich.«
»Das ist sie fürwahr«, entgegnete Herr Phillott spöttisch, und winkte uns zu, auf des Kapitäns unglaubliche Geschichte anspielend.
»Das ist sie fürwahr«, wiederholte O'Brien; »wir sehen den Splitter in unsers Nachbars Auge und können den Balken im eigenen nicht gewahren«, und dabei winkte er mir zu und hatte Phillott's Gewohnheit, unanständige Ausdrücke zu gebrauchen, im Auge.
»Ich kannte einen verheirateten Mann«, bemerkte jetzt der Kapitän, »der fortwährend gewöhnt war, mit der Hand auf dem Kopf seiner Frau einzuschlafen, und ihr darum nicht erlauben wollte, eine Nachthaube zu tragen. Sie erkältete sich nun einmal und starb, und von da an konnte er auch nicht mehr einschlafen, bis er eine Kleiderbürste mit ins Bett nahm und seine Hand auf diese hinlegte, die ihm also seiner Frau Kopf ersetzen mußte – so stark war die Macht der Gewohnheit.«
»Ich sah einmal, wie ein toter Körper galvanisiert wurde«, fing nun Herr Phillott an: »es war der Leichnam eines Mannes, der sein Leben hindurch eine schöne Portion geschnupft hatte, und sobald die galvanische Ladung sich nach dem Rückgrat hin entladen hatte, hob der Leichnam ganz artig seine Arme auf und hielt die Finger an die Nase hin, als wollte er eine Prise nehmen.«
»Sahen Sie das selbst, Herr Phillott?« fragte der Kapitän und sah dem Leutnant ganz ernsthaft ins Gesicht.
»Ja, Sir«, antwortete Herr Phillott kaltblütig.
»Haben Sie diese Geschichte schon oft erzählt?«
»Ich frage deshalb, weil ich weiß, daß manche Leute, wenn sie eine Geschichte öfters erzählen, zuletzt selbst glauben, sie sei wahr; nicht, als ob ich das auf Sie beziehen wollte, Herr Phillott; aber ich möchte Ihnen gleichwohl anraten, diese Geschichte nur da zu erzählen, wo Sie sehr gut bekannt sind, sonst möchten die Leute deren Glaubwürdigkeit in Zweifel ziehen.«
»Ich mache mir zur Regel, aus Höflichkeit alles zu glauben«, antwortete Herr Phillott, »und erwarte dieselbe Höflichkeit auch von andern.«
»Dann, bei meiner Seele, muten Sie unserer guten Lebensart viel zu, wenn Sie diese Geschichte erzählen. Da wir gerade von Artigkeit sprechen, so wünschte ich, daß Sie einen meiner Freunde treffen möchten, der sein ganzes Leben lang ein Komplimentenmacher gewesen ist; er kann nicht anders als sich verbeugen. Ich habe mitangesehen, wie er beim Absteigen von seinem Pferde sich vor diesem verneigte und sich bei ihm bedankte; desgleichen wie er einen jungen Hund, auf dessen Schwanz er getreten war, um Verzeihung bat; eines Tages sogar, als er über ein Schabeisen gefallen war, zog er seinen Hut ab und machte diesem tausend Entschuldigungen wegen seiner Unachtsamkeit.«
»Wiederum die Macht der Gewohnheit«, sagte O'Brien.
»Allerdings nichts anderes. Herr Simpel, mögen Sie ein Stück von diesem Schweinefleisch, und vielleicht erweisen Sie mir auch die Ehre, ein Glas Wein mit mir zu trinken? Lord Privilege würde unsere heutige Mahlzeit nicht sehr loben, oder doch – was meinen Sie, Herr Simpel?«
»Zur Abwechslung vielleicht schon, Sir, aber nicht für immer.«
»Ganz richtig bemerkt. Veränderung giebt Reiz. Die Neger hier werden der gesalzenen Fische und der Occabrühe so überdrüssig, daß sie Schlamm als Delikatesse essen. Herr O'Brien, die Sonate von Pleydel spielten Sie diesen Morgen ausgezeichnet gut.
»Ich schätze mich jedenfalls glücklich, zu hören, daß ich Sie nicht belästigte, Kapitän Kearney«, erwiderte O'Brien.
»Im Gegenteil, ich bin ein sehr großer Liebhaber von guter Musik. Meine Mutter war eine große Virtuosin. Ich erinnere mich noch, wie sie einmal eine Pièce auf dem Piano vortrug, worin sie ein Gewitter nachzuahmen hatte, und dies führte sie so bewunderungswürdig gut aus, daß, als wir uns zum Thee niedersetzten, aller Rahm sauer geworden war, so wie drei Fässer Bier, die im Keller lagen.«
Auf dies hin konnte sich Herr Phillott nicht mehr länger halten, sondern brach in ein lautes Gelächter aus, und da er ein Glas Wein an den Mund gesetzt hatte, so verspritzte er dies über den Tisch und namentlich über mich, da ich ihm unglücklicherweise gegenübersaß.
»Ich bitte in der That um Verzeihung, Kapitän Kearney, aber der Gedanke an ein so ausgezeichnetes Talent war zu köstlich. Wollen Sie mir eine Frage erlauben? Da denn doch dem Donner der Blitz folgen mußte – wurde nicht auch jemand von dem elektrischen Fluidum getötet?«
»Nun, Sir«, antwortete Kapitän Kearney ganz ärgerlich, »aber ihre Virtuosität elektrisierte uns, was so ziemlich das gleiche war. Da Sie Ihr letztes Glas Wein verschüttet haben, Herr Phillott, so erlauben Sie mir wohl, ein anderes mit Ihnen zu nehmen?«
»Mit großem Vergnügen«, entgegnete der erste Leutnant, der nun einsah, daß er weit genug gegangen war.
»Gentlemen«, sagte der Kapitän, »bald werden wir im Lande des Überflusses sein. Ich werde noch etwa vierzehn Tage kreuzen und dann in Jamaika zum Admiral stoßen. Wir müssen nun den Bericht über das Herausholen der Sylvia (so hieß die Kaperbrigg) machen, und ich freue mich, Ihnen sagen zu können, daß ich es für eine Pflicht erachten werde, Ihrer aller ehrenvoll zu erwähnen. Steward, Kaffee!«
Der erste Leutnant, O'Brien und ich verbeugten uns bei dieser schmeichelhaften Anerkennung von seiten des Kapitäns; ich war ganz entzückt. Der Gedanke, meinen Namen in der amtlichen Zeitung aufgeführt zu finden, und die Freude, die das meinen Eltern gewähren würde, trieb mir das Blut ins Gesicht, daß ich so rot wurde wie ein kalekuttischer Hahn.
» Vetter Simpel«, sagte der Kapitän ganz gutmütig, »Sie haben nicht Ursache, zu erröten; Ihr Benehmen verdient dieses Lob und Sie sind Herrn Phillott, der mich von Ihrer tapferen Aufführung in Kenntnis setzte, zu Dank verpflichtet.«
Der Kaffee war bald getrunken, und ich fühlte mich froh, die Kajütte verlassen und allein sein zu können, um mein bewegtes Gemüt zu sammeln; ich war wirklich überglücklich. Ich sagte übrigens meinen Kameraden keine Silbe davon, weil es leicht hätte Neid erregen können. O'Brien, den ich nachher traf, gab mir auch in diesem Sinne eine Warnung, und so war ich wirklich froh, daß ich mich so vorsichtig benommen hatte.