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Sie fand Beschäftigung im Kriegsversicherungsamt. Obgleich der Waffenstillstand mit Deutschland wenige Wochen nach ihrer Ankunft in Washington unterzeichnet wurde, arbeitete das Büro weiter. Täglich hatte sie Korrespondenzen zu registrieren; später beantwortete sie Anfragen. Es war ein Einerlei langweiliger Einzelheiten, doch sie versuchte sich einzureden, sie hätte »richtige Arbeit« gefunden.
Sie bemerkte, daß sie Büroarbeit tun konnte, ohne etwas von der vorgeblichen Frauentugend der Häuslichkeit zu verkehren; daß das Kochen und Aufräumen, wenn man nicht wichtigtuerisch herumwirtschaftete wie die Bessietanten, nur ein Zehntel von der Zeit in Anspruch nimmt, die in Gopher Prairie als anständig gilt.
Daß sie sich nicht bei der Lustigen Siebzehn für ihre Gedanken entschuldigen, daß sie am Ende des Tages nicht Kennicott Bericht darüber erstatten mußte, was sie getan hatte oder noch tun wollte, war eine Erlösung, welche die Büroermüdung wett machte. Sie fühlte, daß sie nicht mehr die Hälfte einer Ehe, sondern ein ganzer Mensch für sich war.
Nach einem Kreisler-Konzert, das für die Regierungsangestellten gegeben wurde, ging sie einmal die Sechzehnte Straße entlang; die Lampen flammten in sanften Lichtkreisen auf, Wind blies durch die Straße, frisch wie die Präriewinde, nur freundlicher, sie blickte die Ulmenallee der Massachusetts Avenue entlang, sie freute sich an den reinen Linien des Schottischen Freimaurertempels: da wußte sie, daß sie die Stadt liebte wie nichts außer Hugh. Ihre Tage vergingen schnell, und sie erkannte, daß sie in ihrer Dummheit des Davonlaufens den Mut zur Klugheit gefunden hatte.
Der erste Monat war ein verzweifeltes Jagen nach Wohnung in der übervölkerten Stadt. Sie mußte in einem ungemütlichen großen Zimmer in einer schäbigen Pension hausen, die von einer unwilligen, verarmten Dame geführt wurde, und Hugh der Obhut einer zweifelhaften Kinderpflegerin überlassen. Aber später fand sie ein Heim.
Immer mußte sie Washington (wie es ihr zweifellos auch in New York oder London gegangen wäre) eine gehörige Portion Hauptstraße gewähren. Die vorsichtige Stumpfheit eines Gopher Prairie zeigte sich in den Pensionen, in denen damenhafte Büroangestellte mit jungen Offizieren über das Kino schwatzten; tausend Sam Clarks und einige Witwen Bogart waren im sonntäglichen Automobilkorso zu erkennen, in Gesellschaften nach dem Theater und bei den offiziellen Dinners, zu denen sich die Auswanderer aus Texas und Michigan drängten, um sich in ihrem Glauben zu stärken, daß ihre verschiedenen Gopher Prairies entschieden »gehörig schmissiger und gemütlicher seien als dieser protzige Osten«.
Allein sie fand ein Washington, das nichts mit der Hauptstraße zu tun hatte.
Guy Pollock schrieb einem Vetter, der jetzt Hauptmann war, einem liebenswürdigen, freundlichen jungen Menschen, der Carola zu Tanztees mitnahm und mit ihr lachte; sie hatte ja immer jemand gebraucht, mit dem sie lachen könnte. Der Hauptmann machte sie mit der Sekretärin eines Abgeordneten bekannt, einer zynischen jungen Witwe, die viele Bekannte in der Marine hatte. Durch sie lernte Carola Marineoffiziere und Majore, Journalisten, Chemiker, Geographen und Finanzexperten aus den Ämtern kennen, und eine Lehrerin, die im Hauptquartier der kriegerischen Frauenrechtlerinnen ein und aus ging. In dieses Hauptquartier nahm die Lehrerin sie mit. Carola wurde nie eine hervorragende Frauenrechtlerin. Man erkannte sie lediglich als tüchtige Adressenschreiberin an. Aber sie wurde gleichmütig von dieser Familie freundlicher Frauen aufgenommen, die, wenn sie nicht von Pöbelhaufen bedrängt oder verhaftet wurden, Tanzstunden besuchten, Picknicks am Chesapeake Canal veranstalteten oder über die Politik der American Federation of Labor sprachen.
Zusammen mit der Sekretärin des Abgeordneten und der Lehrerin mietete Carola eine kleine Wohnung. Hier war ihr Heim, hier kam sie mit ihren Menschen zusammen. Obgleich es den größten Teil ihres Gehalts verschlang, hielt sie sich eine ausgezeichnete Pflegerin für Hugh. Sie selbst brachte ihn zu Bett und spielte an Feiertagen mit ihm. Manches Mal war sie über diese Mädchen mit ihren Zigaretten und ihrem unheimlichen Wissen ebenso empört, wie sie sich über Gopher Prairie empört hatte.
Die graphische Darstellung, die Carolas Fortschritte verzeichnet, ist nicht leicht zu lesen. Die Kurven sind gebrochen und wechseln oft die Richtung; häufig sinken sie, statt zu steigen, in gebrochene Linien. Einige Züge aber lassen sich verfolgen.
Unglücklichen Frauen ist es gegeben, ihre Empfindsamkeit durch zynischen Klatsch, durch Jammern, durch Religionen (Hochkirche oder »Neudenken«) oder durch einen Nebel von Unbestimmtheiten zu schützen. Carola hatte sich in keine dieser Möglichkeiten vor der Wirklichkeit geflüchtet, aber Gopher Prairie hatte sie, die zärtlich und heiter war, ängstlich gemacht. Sogar ihre Flucht war nichts weiter als der vorübergehende Mut des Entsetzens gewesen. Was sie in Washington gewann, war nicht Kenntnis von Amtsmethoden und Gewerkschaften, sondern erneuter Mut, jene freundliche Zufriedenheit, die Gleichgewicht heißt. Was sie von Arbeiten sah, die sich auf Millionen von Menschen und viele Völker auswirkten, reduzierte die Hauptstraße von aufgeblasener Wirklichkeit auf ihre tatsächliche Bedeutungslosigkeit. Sie konnte nie wieder so viel erschrockene Ehrfurcht vor der Macht empfinden, mit der sie selbst die Vidas und Blaussers und Bogarts ausgestattet hatte.
In ihrer Arbeit und in ihrem Zusammensein mit Frauen, die Frauenrechtlerinnen-Vereinigungen in feindseligen Städten organisiert oder politische Häftlinge verteidigt hatten, gewann sie ein wenig Objektivität; erkannte sie, daß sie ebenso empfindlich persönlich gewesen war wie Maud Dyer.
Und warum, so begann sie sich zu fragen, wütete sie über Individuen? Nicht Individuen, sondern Institutionen sind die Feinde, und diese tun gerade den Jüngern am meisten weh, die ihnen am hingebungsvollsten dienen. Sie verbergen ihre Tyrannei unter hundert Masken und pompösen Namen, wie Gesellschaft, Familie, Kirche, Geschäft, Partei, Land, weiße Rasse; und der einzige Schutz gegen sie, erkannte Carola, ist Lachen ohne jede Bitterkeit.
Seit einem Jahr lebte sie in Washington. Sie war ihrer Büroarbeit müde. Diese war erträglich, viel erträglicher als Hausarbeit, aber sie brachte kein Erleben.
Eines Abends sah sie in der Connecticut Avenue plötzlich Harry und Juanita Haydock auf sich zukommen. Das Herz stand ihr vor Freude still, sie begrüßte sie mit stürmischer Zärtlichkeit und bedauerte aufrichtig, daß sie schon um neun Uhr abends wieder abreisen mußten.
»Will hat mir geschrieben, daß dieser Herr Blausser nicht mehr in der Stadt ist. Wie ist es denn mit ihm gegangen?«
»Großartig! Großartig! Ein kolossaler Verlust für die Stadt. Das war mal ein Mensch, der wirklichen Sinn für die Allgemeinheit hatte!«
Sie entdeckte, daß sie jetzt über Herrn Blausser überhaupt keine Ansicht mehr hatte, und sagte mitfühlend:
»Werden Sie den Propagandafeldzug für die Stadt weiterführen?«
Harry rief eifrig: »Also, wir haben ihn nur auf einige Zeit unterbrochen, aber – freilich, klar! Hören Sie, hat der Doktor Ihnen von dem Glück geschrieben, das B. J. Gougerling in Texas bei der Entenjagd gehabt hat?«
Einmal saß sie mit dem Hauptmann auf dem Dach des Powhatan Hotels. Ein Mann mit einem breiten Rücken, den sie kannte, saß in ihrer Nähe und bestellte lärmend unwahrscheinliche »alkoholfreie Getränke« für zwei Mädchen.
»Oh! Ich glaube, ich kenne ihn«, murmelte sie.
»Wen? Dort drüben? Ach, Bresnahan, Percy Bresnahan.«
»Ja, Sie kennen ihn? Was für ein Mensch ist er?«
»Er ist ein gutmütiger Trottel. Ich habe ihn ganz gern und glaube, als Automobilverkäufer ist er ein Prachtkerl. Aber im Departement für Flugwesen hat er nichts zu suchen. Er gibt sich alle mögliche Mühe, nützlich zu sein, aber er weiß nicht – er weiß nicht das geringste. Ziemlich rührend: ein reicher Mann fuhrwerkt herum und möchte nützlich sein. Wollen Sie mit ihm sprechen?«
»Nein – nein – ich glaube nicht.«
Sie war im Kino. Der Film langweilte sie, sie wollte gehen.
Auf der Leinwand erschien in der Rolle eines Komponisten ein Schauspieler namens Eric Valour. Erschrocken erkannte sie, daß es Erik Valborg war.
Er hatte eine farblose Rolle und spielte weder gut noch schlecht. Sie dachte: »Ich hätte so viel aus ihm machen können –« Sie führte ihren Gedanken nicht zu Ende.
Sie ging nach Hause und las Kennicotts Briefe. Sie waren ihr steif und langweilig vorgekommen, doch jetzt entdeckte sie in ihnen eine Persönlichkeit, eine Persönlichkeit, ganz anders als der schmachtende junge Mann in der Samtjoppe, der an einer Atrappe in einem Ateliersalon Klavier spielte.
Kennicott besuchte sie das erstemal im November, dreizehn Monate nach ihrer Ankunft in Washington. Als er ihr mitteilte, daß er kommen werde, wußte sie nicht recht, ob sie den Wunsch hatte, ihn zu sehen. Es war ihr lieb, daß er selbst die Entscheidung getroffen hatte.
Sie bekam zwei Tage Urlaub vom Amt.
Sie sah ihn aus dem Zug kommen, ruhig, sicher, seinen schweren Koffer tragend, und war scheu – er war so schwer zu behandeln. Sie küßten einander unsicher und sagten gleichzeitig: »Du siehst gut aus; wie geht's dem Kind?« und: »Du siehst schrecklich gut aus, Lieber; wie geht alles?«
Er brummte: »Ich will dich in nichts stören, was du mit deinen Freunden oder sonst vor hast, aber wenn du Zeit hast, würd' ich mir gern Washington ansehen und einige Zeit nicht an meine Arbeit denken.«
Er erzählte ihr die Neuigkeiten: man arbeitete an der Fundamentierung eines neuen Schulgebäudes, Vida »ging ihm auf die Nerven mit ihrer Art, wie sie immer den Maje ansah«, der arme Chet Dashaway war bei einem Automobilunfall ums Leben gekommen.
Am Abend, beim Essen, wurde aus seiner Herzlichkeit und Feiertagsfreude an allem Nervosität; er wollte alle möglichen interessanten Dinge wissen, so unter anderem, ob sie noch immer verheiratet wären. Aber er stellte keine Fragen und sprach nicht von ihrer Rückkehr. Er räusperte sich und sagte: »Ach ja, hör mal, ich hab' den alten Apparat wieder ausprobiert. Findest du die Aufnahmen da nicht ganz gut?«
Er schob ihr dreißig Bilder von Gopher Prairie und seiner Umgebung hin. Es fiel ihr ein, daß er sie in den Tagen der ersten Liebe mit Bildern gelockt hatte; sie konstatierte, daß er noch derselbe war, daß er sich mit der Taktik begnügte, die sich schon früher als gut erwiesen hatte; aber beim Anblick der wohlbekannten Bilder vergaß sie es. Sie sah die im Sonnenlicht gesprenkelten Farnkräuter unter den Birken am Ufer des Minnimashie-Sees, vom Wind gefurchte Weizenflächen, die Veranda ihres eigenen Hauses, auf der Hugh gespielt hatte, die Hauptstraße, in der sie jedes Fenster und jedes Gesicht kannte.
»Im ganzen gefallen dir diese Bilder von Gopher Prairie recht gut, nicht!«
»Ja, natürlich.«
»Wär' gar nicht so schlecht, wieder mal was von dem alten Nest zu sehen, was!«
»Nein, wirklich nicht. Genau so, wie ich mich schrecklich gefreut habe, die Haydocks zu sehen. Aber, bitte, versteh mich recht! Das soll nicht heißen, daß ich alles zurückziehe, was ich auszusetzen hatte. Daß ich gern wieder einmal alte Freunde sehe, steht in gar keinem Zusammenhang mit der Frage, ob Gopher Prairie Feste und Hammelkoteletts haben soll.«
Hastig: »Nein, nein! Natürlich nicht, ich verstehe!«
»Aber ich weiß, daß es ziemlich lästig gewesen sein muß, mit jemand zu leben, der so vollkommen war wie ich.«
Er grinste. Sein Grinsen gefiel ihr.
Wieder saßen sie beim Essen.
Er meinte: »Schon bevor du mir heute alles das in der Stadt gezeigt hast, war ich entschlossen, wenn ich das neue Haus bau', von dem wir früher geredet haben, werd' ich's so machen, wie du's haben wolltest. Ich verstehe ja was von Fundamentierung und Heizungen und solchen Sachen, aber von Architektur weiß ich wohl nicht grad' übermäßig viel.«
»Mein Lieber, es erschreckt mich einigermaßen, aber ich komme plötzlich darauf, daß ich auch nichts davon verstehe!«
»Na – auf jeden Fall – laß mich die Garage und die Licht- und Wassersachen ausdenken, und mach du das übrige, wenn du mal – ich meine – wenn du überhaupt willst.«
Unsicher: »Das ist lieb von dir.«
»Pass mal auf, Carrie; du meinst, ich werd' dich bitten, du sollst mich lieben. Das tu' ich nicht. Und ich werd' dich auch nicht bitten, nach Gopher Prairie zurückzukommen!«
Sie riß den Mund auf.
»Es war schon ein schwerer Kampf. Aber ich glaub', ich hab' mich so weit gebracht, daß ich einseh', du wirst's in Gopher Prairie nie aushalten, wenn du nicht von selber zurückkommen willst. Ich brauch' dir nicht zu sagen, daß ich ganz verrückt danach bin, dich wieder zu haben. Aber ich will dich nicht bitten. Ich möchte nur, daß du weißt, wie ich auf dich warte. Mit jeder Post erwart' ich einen Brief, und wenn ich einen bekomm', hab' ich ein bißchen Angst davor, ihn zu öffnen, so sehr hoff ich, daß du zurückkommst. An den Abenden – du weißt, ich hab' das Häuschen draußen am See im letzten Sommer gar nicht bezogen. Ich hätt's ganz einfach nicht aushalten können, daß alle anderen lachen und schwimmen und du nicht da bist. Ich habe immer auf der Veranda gesessen, in der Stadt, und ich – ich hab' immer denken müssen, daß du bloß in die Drogerie gelaufen bist und gleich wieder zurück sein wirst, und bis es finster geworden ist, habe ich immer dagesessen und hab' die Straße entlang gesehen, und nie bist du gekommen, das Haus war so leer und still, daß ich nicht hineingehen wollte. Und manchmal bin ich dort draußen eingeschlafen in meinem Sessel und erst nach Mitternacht aufgewacht, und das Haus – Ach, Teufel! bitte, versteh mich, Carrie. Ich möchte nur, daß du weißt, wie sehr ich mich freuen würde, wann immer du kommst. Aber ich bitte dich nicht.«
»Du bist – Das ist schrecklich –«
»Noch was. Ich will aufrichtig sein. Ich bin nicht immer ganz, äh, ganz sauber gewesen. Ich hab' dich immer lieber gehabt als alles andere auf der Welt, dich und das Kind. Aber manchmal, wenn du so kalt zu mir warst, da bin ich dann so einsam und böse geworden, und da bin ich durchgebrannt und – Ich hab' wirklich nie –«
Sie erlöste ihn mitleidig: »Laß gut sein, vergessen wir's.«
»Aber vor unserer Heirat hast du gesagt, wenn dein Mann irgendwas Schlechtes tut, willst du, daß er dir's erzählt.«
»So? Ich kann mich gar nicht daran erinnern. Und mir scheint, ich kann überhaupt nicht denken. Ach, mein Lieber, ich weiß wirklich, wie sehr du dir Mühe gegeben hast, mich glücklich zu machen. Nur – Ich kann nicht denken. Ich weiß nicht, was ich denke.«
»Dann hör mich an! Denk nicht! Ich möcht' gern, daß du folgendes machst! Nimm dir zwei Wochen Urlaub von deinem Amt. Es fängt hier an kalt zu werden. Fahren wir hinunter nach Charleston und Savannah oder auch nach Florida.«
»Zweite Flitterwochen?« unschlüssig.
»Nein. So möchte ich's nicht einmal nennen. Nenn's ein zweites Werben. Ich werd' um gar nichts bitten. Ich möchte nur die Gelegenheit haben, mit dir zusammen zu sein. Mir scheint, ich hab' nie zu würdigen gewußt, was für ein Glück es für mich war, daß ich ein Mädel mit Phantasie zum Spielen hatte. Deshalb – Könntest du dich nicht frei machen und dir mit mir den Süden ansehen? Wenn du willst, kannst du ja ganz einfach – kannst du ja ganz einfach so tun, als ob du meine Schwester wärst und – und ich will eine Extrapflegerin für Hugh nehmen! Ich will die allerbeste Pflegerin nehmen, die's in Washington gibt!«
Sie waren im Süden gewesen; Carola arbeitete wieder in Washington, Kennicott war in Gopher Prairie und schrieb so trocken wie immer über Wasserleitungsrohre, über die Jagd auf Wildgänse und über Frau Fageros' Mastoiditis.
Bei einem Bankett sprach sie mit. einer Führerin der Frauenrechtlerinnen. Sollte sie wieder nach Hause?
Die Führerin sagte müde:
»Meine Liebe, ich bin völlig egoistisch. Ich kann mir die Bedürfnisse Ihres Mannes nicht recht vorstellen, und mir scheint, für Ihr Kind wird es in den Schulen hier ebenso gut sein wie in Ihren Baracken zu Hause.«
»Dann meinen Sie also, ich sollte lieber nicht zurück?« Es klang enttäuscht.
»So einfach ist das nicht. Wenn ich sage, daß ich egoistisch bin, so meine ich damit, daß mich an Frauen lediglich interessiert, ob sie sich wahrscheinlich als geeignet erweisen werden, wirkliche politische Macht für die Frauen zu gewinnen. Und Sie? Soll ich aufrichtig sein? Denken Sie daran, daß ich, wenn ich ›Sie‹ sage, nicht Sie allein meine. Ich denke an Tausende von Frauen, die alljährlich nach Washington und New York und Chicago kommen, die zu Hause unbefriedigt waren und ein Zeichen am Himmel suchen – Frauen aller Arten, von verschüchterten fünfzigjährigen Müttern mit Baumwollhandschuhen bis zu Mädchen, die eben aus dem Vassar College kommen und in den Fabriken ihrer eigenen Väter Streiks organisieren! Sie alle sind für mich mehr oder weniger von Nutzen, aber nur ganz wenige können meine Stellung einnehmen, weil ich eine Tugend habe (es ist meine einzige): ich habe Vater und Mutter und Kinder verlassen, um meinem Gott zu dienen.
Das ist die Probe für Sie: kommen Sie, um ›den Osten zu erobern‹, wie die Leute sagen, oder kommen Sie, um sich selbst zu erobern?«
Carola wußte, daß sie zurückkehren würde, schon um das Kind nicht in der Stadt aufwachsen zu lassen. Aber trotzdem, so sagte sie sich, würde sie nicht ganz geschlagen sein, sie freute sich ihrer Rebellion. Die Prärie war nicht mehr leeres Land im Sonnenglast; es war das lebendige, lohgelbe Tier, mit dem sie gekämpft, das sie im Kampf schön gemacht hatte; in den Dorfstraßen wohnten die Schatten ihrer Wünsche und klang das Echo ihrer Schritte, keimte die Saat des Geheimnisvollen und der Größe.
Ihr lebendiger Haß gegen Gopher Prairie war versiegt. Jetzt sah sie es als schwerarbeitende Neuansiedlung. Gerührt dachte sie daran, wie Kennicott seine Bürger verteidigt hatte als »recht gute Leute, die hart arbeiten und ihre Familien aufziehen wollen, so gut wie sie nur können«. Sie entsann sich mit Zärtlichkeit der jungen Häßlichkeit der Hauptstraße; sie empfand Mitleid mit dieser Armseligkeit und Isoliertheit und mit diesen Bildungsbestrebungen. Sie sah die Hauptstraße im dunklen Prärie-Sonnenuntergang, eine Reihe von Grenzerhütten mit feierlich einsamen Leuten, die auf sie warteten, feierlich und einsam wie ein alter Mann, der seine Freunde überlebt hat. Es fiel ihr ein, daß Kennicott und Sam Clark zugehört hatten, wenn sie sang, und sie wollte zu ihnen laufen und singen.
Um drei Uhr morgens erwachte sie aus einem Traum, in dem sie von Ella Stowbody und der Witwe Bogart gequält worden war.
»Ich habe aus der Stadt einen Mythos gemacht. Genau so, wie wenn die Menschen sich die Tradition der vollkommenen Heimatstadt, der glücklichen Kindheit und der herrlichen Collegefreunde bewahren. Wir vergessen so leicht. Ich habe vergessen, daß die Hauptstraße sich nicht im mindesten für so einsam und jämmerlich hält. Sie hält sich für ›Gottes Land‹. Sie wartet nicht auf mich. Es liegt ihr gar nichts daran.«
Allein am nächsten Abend sah sie Gopher Prairie wieder als ihre Heimat, die im Sonnenuntergang auf sie wartete, rings von Strahlenglanz umgeben.
Erst nach fünf Monaten kehrte sie zurück; nach fünf Monaten, in denen sie gierig Klänge und Farben gesammelt hatte, um sie für die langen stillen Tage mitzunehmen.
Sie hatte nahezu zwei Jahre in Washington verbracht.
Als sie im Juni nach Gopher Prairie abreiste, regte ihr zweites Kind sich in ihr.