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Sie eilte zur ersten Zusammenkunft des Leseausschusses. Mit der Dschungelromantik war es vorbei, aber sie hatte eine religiöse Glut zurückbehalten, eine Flut halbgeformter Gedanken über das Schaffen der Schönheit durch Willenskraft.
Ein Stück von Dunsany wäre für Gopher Prairie zu schwierig. Sie würde sich mit den Ausschußmitgliedern auf Shaw einigen – auf »Androklus und der Löwe«, das eben erschienen war.
Der Ausschuß bestand aus Carola, Vida Sherwin, Guy Pollock, Raymie Wutherspoon und Juanita Haydock. Sich selbst, wie sie zugleich geschäftsmännisch und künstlerisch waren, dieses Bild begeisterte sie alle. Sie wurden von Vida im Salon von Frau Elisha Gurreys Pension empfangen.
Vida sprach davon, sie müßten (wie bei den Komiteesitzungen des Thanatopsis) eine »regelrechte Geschäftsordnung« haben und »Protokolle verlesen«, da aber keine Protokolle zum Verlesen da waren, und da niemand wußte, wie man nach einer regelrechten Geschäftsordnung literarisch zu sein hatte, verzichteten sie darauf, tüchtig zu sein.
Carola fragte als Vorsitzende höflich: »Haben Sie irgendwelche Vorschläge für das erste Stück zu machen?« Sie erwartete, daß alle abwartend und verlegen dasitzen würden, um selbst »Androklus« vorschlagen zu können.
Guy Pollock antwortete mit betrüblicher Promptheit: »Ich will Ihnen sagen: da wir doch etwas Künstlerisches, und nicht einfach herumblödeln wollen, meine ich, wir sollten mit etwas Klassischem anfangen. Wie wär's mit Sherridan, ›Die Lästerschule‹?«
»Aber – meinen Sie nicht, daß das schon sehr oft gespielt worden ist?«
»Ja, das wird wohl stimmen.«
Carola wollte schon sagen: »Wie wär's mit Bernard Shaw?«, als er heimtückischerweise fortfuhr: »Wie wär's dann mit einem griechischen Drama – sagen wir ›König Ödipus‹?«
»Aber, ich glaube nicht –«
Vida Sherwin warf ein: »Das wäre bestimmt zu schwer für uns. Also, ich hab' etwas mitgebracht, was ich für schrecklich nett halte.«
Carola las ungläubig den Titel einer dünnen grauen Broschüre, die ihr in die Hand gedrückt wurde: »McGinertys Schwiegermutter«. Es war eine jener Possen, die in Verzeichnissen für »Schulaufführungen« folgendermaßen angezeigt sind:
»Lustiger, flotter Schlager, 5 männl., 3 weibl. Rollen, Spieldauer 2 Std., sehr beliebt für Aufführungen in Kirchen und höheren Schuljahrgängen.«
Carola blickte von dem widerwärtigen Ding zu Vida hinüber und bemerkte, daß es dieser ernst war.
»Aber das ist – das ist – wieso, das ist doch ganz einfach ein – aber, Vida, ich dachte, Sie wissen – also – Sie wissen die Kunst zu schätzen.«
Vida wurde etwas heftig. »Oh, Kunst. O ja. Ich liebe Kunst. Sie ist sehr nett. Aber schließlich, was liegt denn schon daran, was für ein Stück wir geben, wenn wir überhaupt mal einen Anfang machen? Davon, worauf es wirklich ankommt, hat noch niemand von euch gesprochen: was machen wir mit dem Geld, wenn wir welches verdienen? Ich meine, es wäre schrecklich nett, wenn wir der Hochschule eine vollständige Ausgabe von Stoddards Reisewerken verehrten!«
Carola ächzte: »Ach, aber liebe Vida, verzeihen Sie mir, aber diese Posse – also ich möchte, daß wir etwas Erlesenes geben. Sagen wir Shaws ›Androklus‹. Hat es jemand von Ihnen gelesen?«
»Ja. Gutes Stück«, sagte Guy Pollock.
Dann begann überraschenderweise Raymie Wutherspoon zu sprechen:
»Ich auch. Ich hab' alle Stücke aus der Stadtbibliothek gelesen, um mich für die heutige Sitzung vorzubereiten. Und – Aber ich glaube, Sie verstehen gar nicht die unreligiösen Gedanken in diesem ›Androklus‹, Frau Kennicott. Der weibliche Geist ist wohl zu unschuldig, um alle diese unmoralischen Schriftsteller zu verstehen. Ganz bestimmt will ich Bernard Shaw nicht kritisieren; er soll bei den ganz Gescheiten in Minneapolis sehr beliebt sein; aber trotzdem – soviel ich sehen kann, ist er ganz ungeniert unsauber! Was er alles sagt – Also, es wär' sehr gefährlich, das unseren jungen Leuten zu zeigen. Mir scheint, ein Stück, das nicht einen angenehmen Geschmack im Mund zurückläßt, das gar keine Botschaft hat, ist nichts weiter als – nichts weiter als – also, was es auch ist, Kunst ist es nicht. So – Also, ich hab' ein Stück gefunden, das sauber ist, und es kommen auch ein paar sehr komische Szenen drin vor. Beim Lesen hab' ich laut lachen müssen. Es heißt ›Seiner Mutter Herz‹ und handelt von einem jungen Mann im College, der sich mit einem Haufen Freidenker und Säufer und so einläßt, aber schließlich durch den Einfluß seiner Mutter –«
Juanita Haydock unterbrach ihn spöttisch: »Ach, Quatsch, Raymie! Lassen Sie sich mit dem Einfluß der Mutter einmarinieren! Ich meine, wir sollen was geben, was Klasse hat. Wir könnten ganz bestimmt die Rechte für ›Das Mädchen von Kankakee‹ kriegen, und das ist ein ordentliches Stück. Seit elf Monaten läuft's schon in New York.«
»Das wäre schon sehr nett, wenn's nur nicht zuviel kostet«, überlegte Vida.
Carolas Stimme war die einzige, die gegen »Das Mädchen von Kankakee« abgegeben wurde.
»Das Mädchen von Kankakee« fand sie noch fürchterlicher, als sie erwartet hatte. Es berichtete von dem Erfolg eines Bauernmägdleins, das seinen Bruder glücklich vom Verdacht, Fälschungen begangen zu haben, reinwäscht. Sie wird Sekretärin eines New Yorker Millionärs und Beraterin seiner Frau; nach einer gut abgefaßten Ansprache über die Mißlichkeiten des Geldbesitzes heiratet sie seinen Sohn.
Es kam auch ein humoristischer Laufbursche vor.
Carola merkte, daß sowohl Juanita Haydock wie Ella Stowbody die Hauptrolle spielen wollten. Sie besetzte sie mit Juanita. Juanita küßte sie und setzte überströmend, wie eben ein neuer Star, dem Komitee ihre Theorie auseinander: »Was wir an einem Stück haben wollen, ist Humor und Schwung. Und da sind eben auch die amerikanischen Theaterschriftsteller den dummen alten langweiligen europäischen Sachen über.«
Die von Carola gemachte und vom Komitee bestätigte Besetzung sah folgendermaßen aus:
???tabelle
John Grimm, ein Millionär Guy Pollock
Seine Frau Fräulein Vida Sherwin
Sein Sohn Dr. Harvey Dillon
Sein Konkurrent Raymond T. Wutherspoon
Freundin von Frau Grimm Fräulein Ella Stowbody
Das Mädchen von Kankakee Frau Harold C. Haydock
Ihr Bruder Dr. Terence Gould
Ihre Mutter Frau David Dyer
Eine Stenotypistin Fräulein Rita Simons
Ein Laufbursche Fräulein Myrtle Cass
Dienstmädchen bei Grimms Frau W. P. Kennicott
Zu den geringfügigeren Klagen gehörte, was Maud Dyer vorbrachte: »Also, ich glaub' ja recht gern, daß ich alt genug ausseh', um Juanitas Mutter sein zu können, obwohl Juanita acht Monate älter ist als ich, aber ich glaub', mir liegt nicht g'rade viel daran, daß alle es merken und –«
Carola bat: »Aber, meine Liebe! Ihr seht beide ganz gleich alt aus. Ich hab' nur Sie ausgesucht, weil Sie einen so entzückenden Teint haben, und Sie wissen doch, mit Puder und einer weißen Perücke sieht jeder doppelt so alt aus, als er ist, und die Mutter muß reizend sein, auf jeden Fall.«
Als Ella Stowbody, die Dame vom Fach, merkte, daß man ihr auf Grund einer eifersüchtigen Intrige eine kleine Rolle gegeben hatte, schwankte sie zwischen erhabenem Belustigtsein und christlicher Langmut hin und her.
Carola meinte, das Stück könnte durch Streichungen gewinnen, da aber alle Mitwirkenden außer Vida, Guy und ihr selbst über jede einzelne Zeile jammerten, die sie einbüßen sollten, wurde sie geschlagen. Sie sagte sich, schließlich ließe sich ja mit Regie und Bühnenbild doch sehr viel erreichen.
Sam Clark hatte seinem Schulkameraden, Percy Bresnahan, dem Generaldirektor der Velvet Motor Company in Boston, einen prahlerischen Brief über den Theaterverein geschrieben. Bresnahan schickte einen Scheck auf hundert Dollar, Sam fügte fünfundzwanzig hinzu, überbrachte das Kapital Carola und rief freudig: »Hier! Das wird Ihnen wunderschön über den ersten Anfang hinweghelfen!« Sie mietete für zwei Monate das zweite Stockwerk des Rathauses. Das ganze Frühjahr hindurch begeisterte sich die Gesellschaft in diesem trübseligen Saal an ihren eigenen Talenten.
Nur Kennicott, Guy und Vida halfen ihr. Sie dachten darüber nach, wie man Versatzstücke aneinanderbefestigen könnte, um eine Mauer zu bekommen, sie hängten krokusgelbe Vorhänge an das Fenster; sie polierten den schwarzen Eisenofen; sie banden sich Schürzen vor und fegten. Der Rest der Gesellschaft kam jeden Abend ins Theater und war literarisch und überlegen. Sie hatten sich Carolas Inszenierungshandbücher ausgeliehen und warfen mit den fabelhaftesten Theaterausdrücken um sich.
Juanita Haydock, Rita Simons und Raymie Wutherspoon saßen auf einem Sägebock und sahen Carola zu, die für den ersten Akt die richtige Stelle für ein Bild an der Wand suchte.
»Ich will mich selbst absolut nicht loben, aber ich glaube, im ersten Akt werd' ich blendend sein«, bekannte Juanita. »Wenn nur Carola nicht so alles besser wissen wollte. Sie versteht nichts von Kleidern. Ich möchte ein, oh, ein blendendes Kleid, das ich hab' – ganz scharlachrot – tragen, und da hab' ich zu ihr gesagt: ›Würd' es nicht einen fabelhaften Eindruck machen, wenn ich beim Auftritt in diesem engen scharlachroten Ding dasteh'?‹ Aber sie hat mich nicht gelassen.«
Die junge Rita stimmte zu: »Sie ist so von allen dummen Einzelheiten und von der Zimmermannsarbeit und von allem eingenommen, daß sie das Bild gar nicht mehr als Ganzes sehen kann. Also, ich hab' gemeint, es würde reizend sein, wenn wir eine Bureauszene hätten wie die, die ich in Duluth gesehen hab'. Aber sie hat mich überhaupt nicht anhören wollen.«
Juanita seufzte: »Ich wollte einen Monolog sprechen, wie es Ethel Barrymore in einem solchen Stück machen würde (Harry und ich haben sie mal in Minneapolis gesehen – wir haben blendende Plätze gehabt, Orchestersessel – ich weiß, daß ich sie kopieren könnte). Carola hat sich um meinen Vorschlag überhaupt nicht gekümmert. Ich will nicht kritisieren, aber ich glaube, Ethel versteht mehr vom Theater als Carola!«
»Sagen Sie, glauben Sie, Carola hat recht mit dem Kulissenlicht hinter dem Kamin im zweiten Akt? Ich hab' ihr gesagt, wir sollten Reihenlicht nehmen«, hatte Ramie zu sagen. »Und ich hab' ihr auch vorgeschlagen und gesagt, wie nett es wär', wenn wir vor dem Fenster im ersten Akt einen Rundprospekt hätten, und was meinen Sie, hat sie darauf gesagt? ›Ja, und es wär' auch nett, wenn wir Eleonora Duse die Hauptrolle spielen ließen‹, hat sie gesagt, ›und abgesehen davon, daß der erste Akt am Abend spielt, sind Sie ein großartiger Techniker‹, hat sie gesagt. Ich muß sagen, ich hab' sie recht ironisch gefunden. Ich hab' alles nachstudiert, und ich weiß, ich könnt' einen Rundprospekt bauen, wenn sie nicht alles dirigieren wollte.«
»Ja, und noch so was, ich meine, der Auftritt im ersten Akt sollte links vorne sein, und nicht links hinten«, meinte Juanita.
»Und warum will sie nur glatt weiße Soffitten haben?«
»Was sind Soffitten?« platzte Rita Simons heraus.
Die Wissenden schüttelten über diesen Mangel an Bildung den Kopf.
Solange Carola mit der Dekorationsmalerei beschäftigt war, ärgerte sie sich nicht über diese Krittelei, und nicht allzusehr über diese plötzlichen Kenntnisse. Bei den Proben erst brachen Streitigkeiten aus. Niemand begriff, daß Proben ebenso ernsthafte Verpflichtungen seien wie Bridgepartien oder »Gesellige Zusammenkünfte« in der Anglikanerkirche. Sie kamen fröhlich eine halbe Stunde zu spät oder mit Geschrei zehn Minuten zu früh, und wenn Carola dagegen protestierte, waren sie so beleidigt, daß sie flüsternd davon redeten, zurückzutreten. Sie telephonierten: »Ich glaube, ich geh heute lieber nicht aus; in der Feuchtigkeit könnten meine Zahnschmerzen anfangen«, oder: »Heute abend werd' ich wohl nicht können; Dave möchte, daß ich bei der Pokerpartie mitspiel'.«
Als nach einem Monat voller Arbeit tatsächlich neun Elftel der Mitwirkenden oft bei Proben gewesen waren, die meisten von ihnen ihre Rollen gelernt hatten und manche wie menschliche Wesen sprachen, hatte Carola einen neuen Schrecken: es wurde ihr klar, daß Guy Pollock und sie selbst sehr schlechte Schauspieler waren, und Raymie Wutherspoon ein erstaunlich guter. Bei all ihrer Phantasie hatte sie keine Gewalt über ihre Stimme, und die fünfzigste Wiederholung der wenigen Zeilen, die sie als Mädchen zu sprechen hatte, ekelte sie. Guy zupfte an seinem Schnurrbärtchen, sah unsicher aus und machte aus Herrn Grimm eine leere Attrappe. Raymie aber, als Schurke, hatte keine Hemmungen. Es war voller Charakter, wie er seinen Kopf schief legte; sein Näseln war bewundernswert verrucht.
Einen Abend gab es, an dem Carola hoffte, es würde eine anständige Aufführung werden; eine Probe, während deren Verlauf Guy nicht verlegen aussah.
Von diesem Abend an wurde es immer schlechter.
Sie war müde. »Wir können unsere Rollen jetzt gut genug; was hat es für einen Sinn, sie uns zu verekeln?« klagten sie. Sie begannen Unsinn zu treiben; mit den heiligen Beleuchtungsgegenständen zu spielen; zu kichern, so oft Carola sich bemühte, aus der sentimentalen Myrtle Cass einen lustigen Laufburschen zu machen; alles mögliche zu spielen, nur nicht »Das Mädchen von Kankakee«. Dr. Terry Gould erzielte, nachdem er seine eigene Rolle heruntergeleiert hatte, großen Beifall mit seiner Hamletparodie. Sogar Raymie verlor seinen einfachen Glauben und wollte zeigen, daß er einen Operettentanz könne.
Carola nahm sich ihre Gesellschaft vor. »Hört mal, dieser Unsinn muß aufhören. Wir müssen ganz einfach arbeiten, und sonst nichts.«
Juanita Haydock war die Anführerin der Meuternden: »Hören Sie, Carola, kommandieren Sie nicht so rum. Schließlich machen wir das Ganze hauptsächlich wegen des Spaßes, den wir dran haben, und wenn uns alle möglichen Dummheiten Spaß machen, warum sollen –«
»Ja-a«, schwach.
»Sie haben einmal gesagt, daß die Leute in Gopher Prairie nicht lustig genug sind. Und jetzt, wo wir unseren Spaß haben, wollen Sie, daß wir aufhören!«
Carola antwortete langsam: »Ich weiß nicht, ob ich erklären kann, was ich meine. Es ist so wie der Unterschied zwischen der Witzbeilage und einem Bild von Manet. Ich möchte daran natürlich Spaß haben. Nur – ich glaube, es wäre nicht weniger Spaß, wenn wir die Aufführung so gut machen, wie wir können.« Sie war seltsam erregt; ihre Stimme war angestrengt; sie sah nicht ihre Gesellschaft an, sondern starrte auf die grotesken Kritzeleien auf den Rückseiten der Kulissen, die vergessene Bühnenarbeiter hingemalt hatten. »Ich weiß nicht, ob Sie den ›Spaß‹ verstehen können, den man hat, wenn man an etwas Schönem arbeitet, den Stolz und die Befriedigung, die es gewährt, und die Heiligkeit!«
Die Mitglieder der Gesellschaft sahen einander zweifelnd an. In Gopher Prairie gehörte es nicht zum guten Ton, außerhalb der Kirche Sonntags zwischen zehn Uhr dreißig und zwölf Uhr heilig zu sein.
»Aber wenn wir's tun wollen, müssen wir arbeiten; müssen wir Selbstdisziplin haben.«
Man war gleichzeitig belustigt und verwirrt. Man wollte dieser Verrückten nicht die Stirn bieten. Man zog sich zurück und versuchte zu probieren. Carola hörte nicht, daß Juanita vorne protestierend zu Maud Dyer sagte: »Wenn sie das Spaß und Heiligkeit nennt, was wir bei ihrem dummen alten Stück schwitzen – also, ich kann's nicht finden!«
Carola sah sich das einzige von Berufsschauspielern gespielte Stück an, das in diesem Frühjahr nach Gopher Prairie kam. Es war ein »Zelttheater, spannende neue Dramen unter der Leinwand«. Das Publikum, das im geflickten Zelt auf Bohlen saß, bewunderte den Bart und das lange Gewehr des Hauptdarstellers; trampelte bei dem Anblick seines Heldentums, daß Staub aufwirbelte; brüllte, als der Komödiant einer Stadtdame mit Lorgnon nachäffte, indem er durch einen Pfannkuchen sah, den er auf eine Gabel gespießt hatte.
Carola schüttelte den Kopf. »Juanita hat recht. Ich bin närrisch. Heiligkeit des Dramas! Bernard Shaw! Das einzige Schlechte am ›Mädchen von Kankakee‹ ist, daß es zu fein für Gopher Prairie ist.«
Miles Bjornstam war es, der ihr wieder Kraft gab – er und der Umstand, daß alle Plätze für »Das Mädchen von Kankakee« ausverkauft waren.
Bjornstam »ging« mit Bea. Jeden Abend saß er am Hintereingang. Als Carola einmal auftauchte, brummte er: »Hoffentlich zeigen Sie dem Nest, was anständiges Theater ist. Wenn Sie's nicht tun, wird's wohl nie geschehen.«
Der große Abend, der Abend der Aufführung war da. In den beiden Garderoben wirbelte es von keuchenden, zuckenden, blassen Schauspielern. Del Snafflin, der Friseur, der ebensosehr vom Bau war wie Ella, da er einmal in einem ständigen Theater in Minneapolis bei einer Massenszene mitgewirkt hatte, schminkte sie und bewies seine Verachtung für Dilettanten: »Halten Sie still! Wie soll ich denn um Gottes willen ihre Augenlider dunkel machen können, wenn Sie immer wackeln?« Die Schauspieler flehten: »Del, geben Sie mir doch bißchen Rot in die Naslöcher! Bei Rita haben Sie's gemacht – Sie machen ja fast gar nichts mit meinem Gesicht.«
Sie waren kolossal theatermäßig. Sie untersuchten Dels Schminkkasten, sie schnüffelten den Geruch der Fettschminke ein, jede Minute liefen sie auf die Bühne, um durch das Guckloch im Vorhang zu sehen, kamen wieder zurück, um ihre Perücken und Kostüme zu mustern.
Carola, flott in der Mädchentracht, brachte die Aushilfsbühnenarbeiter mit Schmeicheleien dazu, den ersten Akt fertig zu bauen, jammerte Kennicott, den Beleuchter, an: »Denk um Gottes willen an die Stichwortänderung für das gelbe Licht im zweiten Akt«, lief hinaus, um Dave Dyer, den Billeteur, zu fragen, ob er noch einige Stühle hineinstellen könne, erinnerte die verschüchterte Myrtle Cass daran, sie solle nicht vergessen, den Papierkorb umzuwerfen, wenn John Grimm ruft: »He, du, Reddy.«
Del Snafflins Orchester, das aus Klavier, Violine und Piston bestand, fing an zu stimmen, und alle hinter der magischen Linie der Rampenlichter gerieten in paralytische Angst. Carola wankte zum Guckloch im Vorhang. So viele Menschen waren da draußen, sie sahen so streng aus –
In der zweiten Reihe erblickte sie Miles Bjornstam, ohne Bea, allein. Er wollte wirklich das Stück sehen! Das war ein gutes Zeichen. Was konnte man wissen? Vielleicht würde dieser Abend Gopher Prairie wirklich zum Schönheitssinn bekehren.
Sie lief in die Damengarderobe, weckte Maud Dyer aus ihrem ohnmächtigen Schrecken, schob sie in die Kulissen und ließ den Vorhang aufziehen.
Der ging zögernd hoch, schwankte und zitterte, aber er kam hinauf, ohne hängen zu bleiben – diesmal. Dann merkte sie, daß Kennicott vergessen hatte, das Licht im Zuschauerraum auszuschalten. Ganz vorne lachte jemand.
Sie galoppierte nach links hinüber, schaltete selbst das Licht aus, warf dabei Kennicott einen so wilden Blick zu, daß er murrte, und lief wieder zurück.
Frau Dyer kroch auf die halbdunkle Bühne hinaus. Das Spiel hatte begonnen.
Und in diesem Augenblick erkannte Carola, daß es ein grauenhaft gespieltes, schlechtes Stück war.
Die Spielenden mit verlogenem Lächeln ermutigend, sah sie zu, wie ihre Arbeit in Trümmer ging. Das Bühnenbild war läppisch, die Beleuchtung langweilig. Sie beobachtete, wie Guy Pollock stotterte und an seinem Schnurrbart zupfte, als er ein tyrannischer Magnat sein sollte; wie Vida Sherwin als Grimms schüchterne Frau ins Publikum plauderte, als wäre es ihre Englischklasse in der Hochschule; wie Juanita in der Hauptrolle Herrn Grimm Trotz bot, als wiederholte sie sich eine Liste der Dinge, die sie heute vormittag beim Kaufmann holen müßte; wie Ella Stowbody bemerkte: »Ich möchte eine Tasse Tee«, als ob sie rezitierte: »Priams Feste war gesunken«; und wie Dr. Gould, Rita Simons den Hof machend, quiekte: »Ach – ach – Sie – sind – ein – wunnerbares Mädel.«
Myrtle Cass, als Laufbursche, war vom Beifall ihrer Verwandten so entzückt, dann von den Bemerkungen, die Cy Bogart in der letzten Reihe über ihre Hosen machte, so in Aufregung versetzt, daß sie kaum von der Bühne wegkonnte. Nur Raymie war so ungemütlich, sich ganz dem Theaterspielen hinzugeben.
Daß ihre Ansicht über das Stück richtig war, dessen wurde Carola gewiß, als Miles Bjornstam nach dem ersten Akt hinausging und nicht wiederkam.
Zwischen dem zweiten und dem dritten Akt rief sie die Gesellschaft zusammen und flehte: »Bevor wir uns vielleicht trennen, möchte ich etwas wissen. Ob wir's heute gut oder schlecht machen, es ist ein Anfang. Aber wollen wir es auch nur als Anfang nehmen? Wer von euch will sich verpflichten, gleich morgen mit mir wieder anzufangen und alles für ein zweites Stück zu besprechen, das im September gegeben werden soll?«
Alles starrte sie an und nickte zustimmend bei Juanitas Protestrede: »Ich denke, eines ist vorläufig genug. Es geht heute abend ausgezeichnet, aber ein zweites Stück – mir scheint, im nächsten Herbst haben wir noch immer Zeit, darüber zu reden. Carola! Sie wollen doch hoffentlich nicht Andeutungen machen, daß wir heute abend nicht gut sind? Der Beifall zeigt doch, daß das Publikum alles einfach blendend findet!«
Da wußte Carola, daß sie ganz und gar Schiffbruch erlitten hatte.
Als das Publikum langsam hinausging, hörte sie den Bankier B. J. Gougerling zum Kaufmann Howland sagen: »Na, ich meine, die Leute haben ja fein gespielt; genau so gut wie richtige Schauspieler. Aber ich mach' mir nicht viel aus den Stücken. Mir ist ein guter Film am liebsten, mit Autounfällen und Räubereien, so mit Schwung, aber nicht so 'n Gewäsch.«
Da wußte Carola, daß sie sicherlich immer wieder Schiffbruch erleiden würde.
In ihrer Müdigkeit machte sie niemand einen Vorwurf, weder den Darstellern noch dem Publikum. Nur sich selbst machte sie Vorwürfe wegen ihres Versuchs, Gemmen in gutes, gesundes Fichtenholz zu schneiden.
»Das ist die böseste Niederlage. Ich bin geschlagen. Von der Hauptstraße. ›Ich muß weiterarbeiten.‹ Aber ich kann nicht!«
Es entmutigte sie nicht allzusehr, als sie im »Unverzagten« las:
»… und wäre es unmöglich, Unterscheidungen zwischen den Darstellern zu machen, die alle sich in den schwierigen Rollen dieses wohlbekannten New Yorker Bühnenschlagers auszeichneten … Niemand verdient mehr Ehre als Frau Will Kennicott, deren tüchtige Schultern die Last der Regie zu tragen hatten.«
Das ist so freundlich, überlegte Carola, so gut gemeint, so nachbarlich – und so verflucht unwahr. Ist es wirklich mein Versagen, oder das der anderen?
Sie versuchte vernünftig zu sein; sie erklärte sich mühevoll, daß es hysterisch wäre, Gopher Prairie zu verdammen, weil es nicht vor Begeisterung über das Theater schäumte. Seine Berechtigung hatte es, weil es Marktstadt für die Farmer war. Wie wacker und mutig tat es seine Arbeit, lieferte das Brot der Welt weiter, pflegte und heilte die Farmer!
Dann hörte sie einen Farmer an der Ecke unter dem Büro ihres Mannes sprechen:
»Klar. Natürlich war ich erledigt. Der Verfrachter und die Kaufleute haben uns keinen anständigen Preis für unsere Kartoffeln zahlen wollen, obwohl die Leute in den Städten wirklich danach geschrien haben. Na, da haben wir gesagt, schön, wir nehmen 'ne Frachtkarre und führen sie direkt nach Minneapolis hinein. Aber die Aufkäufer dort haben mit dem Verfrachter hier unter einer Decke gesteckt; sie haben gesagt, sie zahlen uns nicht einen Cent mehr als er, nicht einmal, wenn sie näher am Markt sind. Na, wir haben rausgefunden, daß wir in Chicago höhere Preise kriegen können, aber wie wir Waggons bekommen wollten, um dorthin zu verladen, hat uns die Eisenbahn keine gegeben – obwohl die Wagen hier leer rumgestanden haben. Da haben Sie's – 'n guter Markt, und die Städte lassen uns nicht rankommen. Gus, so machen's die Städte immer. Für unseren Weizen zahlen sie uns, was sie wollen, aber wir müssen ihnen für ihre Kleider zahlen, was sie verlangen. Stowbody und Dawson lassen soviel Hypotheken verfallen, wie sie können, und setzen Pächter aufs Land. Der ›Unverzagte‹ lügt uns an, die Anwälte piesacken uns, die Maschinenlieferanten denken nicht daran, uns in schlechten Jahren zu halten, und dann ziehen ihre Töchter sich feine Kleider an und schauen uns an, als ob wir 'n Haufen Vagabunden wären. Mensch, am liebsten würd' ich die Stadt anzünden!«
Kennicott bemerkte: »Da reißt der alte Narr, der Wes Brannigan, das Maul wieder weit auf. Himmel, hört der sich gern reden! Aus der Stadt raus jagen sollte man den Kerl!«
Während der Schlußprüfungswoche der Hochschule, die das Fest der Jugend in Gopher Prairie ist, kam sie sich alt und beiseitegestellt vor. Sie traf Guy; sie merkte, daß sie ihm nichts zu sagen hatte. Ihr Kopf schmerzte sie ganz sinnlos. Als Kennicott jubelte: »Na, den Sommer werden wir's fein haben; wir werden schon früh an den See raus und alte Kleider tragen und in Natur machen«, lächelte sie, aber es war ein häßliches Lächeln.
In der Präriehitze schleppte sie sich über ewig gleiche Wege, sprach mit gleichgültigen Menschen über nichts und dachte, daß sie ihnen vielleicht nie entrinnen würde.
Sie erschrak, als sie merkte, daß sie das Wort »entrinnen« gebrauchte.
Dann fand sie in den nächsten drei Jahren, die vorübergingen wie ein kurzer Abschnitt, nichts Interessantes außer ihrem Kinde und den Bjornstams.