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Sie war in die Wiese getrippelt, um den Lämmern einen hübschen Tanz beizubringen, und hatte gefunden, daß die Lämmer Wölfe waren. Sie war bedrückt und sah keinen Ausweg. Sie war von Klauen und boshaften Augen umgeben.
Sie konnte den versteckten Hohn nicht länger ertragen. Sie wollte fliehen. Sie wollte sich in der Gleichgültigkeit einer großen Stadt verstecken. Sie übte sich, Kennicott zu sagen: »Ich denke, ich werde auf ein paar Tage nach St. Paul fahren.« Aber sie konnte sich nicht zutrauen, es gleichgültig zu sagen; sie hätte seinen Fragen nicht standhalten können.
Die Stadt reformieren? Alles, was sie wollte, war: geduldet werden!
Sie konnte die Leute nicht offen ansehen. Sie wurde rot und zuckte zusammen vor Bürgern, die ihr noch vor einer Woche amüsante Studienobjekte gewesen waren, und in den ihr zugerufenen Grüßen glaubte sie grausamen Hohn zu hören.
Sie traf Juanita Haydock in Ole Jensons Lebensmittelgeschäft. Sie rief beschwörend: »Oh, guten Tag! Himmel, was ist das für herrlicher Sellerie!«
»Ja, sieht frisch aus, nicht. Harry muß ganz einfach am Sonntag seinen Sellerie haben. Der Teufel soll den Mann holen!«
Carola eilte aus dem Laden und jubelte: »Sie hat sich nicht lustig über mich gemacht … oder doch?
Nach einer Woche hatte sie sich von ihrem Gefühl der Unsicherheit, der Schande und bekrittelten Popularität erholt, doch sie behielt ihre Gewohnheit, den Leuten aus dem Weg zu gehen, bei. Über die Straßen bewegte sie sich mit gesenktem Kopf. Wenn sie Frau McGanum oder Frau Dyer vor sich erblickte, ging sie auf die andere Straßenseite und tat angestrengt, als ob sie einen Anschlag studierte. Immer spielte sie Theater, für jeden, den sie sah – und für die auf der Lauer liegenden scheelen Augen, die sie nicht sah.
Außer Dave Dyer, Sam Clark und Raymie Wutherspoon gab es keinen Geschäftsmann, bei dessen Gruß sich Carola sicher fühlte. Sie wußte, daß sie selbst den Hohn in die Grüße der anderen hineinlegte, aber sie konnte ihren Verdacht nicht loswerden, konnte sich aus ihrem psychischen Zusammenbruch nicht herausarbeiten. Abwechselnd tobte und erschrak sie vor dem Stolz der Kaufleute. Diese wußten nicht, daß sie grob waren, sie wollten nur zu verstehen geben, daß sie wohlhabend waren und »vor keiner Doktorsfrau Angst hatten«. Sie sagten oft: »Ein Mann ist soviel wert wie der andere – und noch zehnmal mehr.« Diese Devise rühmten sie aber nicht Farmern gegenüber, die schlechte Ernten gehabt hatten. Die Yankee-Kaufleute waren mürrisch; und Ole Jenson, Ludelmeyer und Gus Dahl aus dem »Alten Land« wollten für Yankees gehalten werden. James Madison Howland, in New Hampshire, und Ole Jenson, in Schweden geboren, bewiesen beide, daß sie freie amerikanische Bürger waren, indem sie knurrten: »Ich weiß nicht, ob noch was da ist oder nicht«, oder »Also, es kann gar keine Rede davon sein, daß ich's schon zu Mittag da hab'.«
Für die Kunden gehörte es sich, die Antwort nicht schuldig zu bleiben. Juanita Haydock schnatterte lustig:
»Sie haben's um zwölf da, oder ich reiß' dem frechen Botenjungen die Haare aus.« Doch Carola hatte nie die Fähigkeit besessen, das Spiel freundlicher Grobheit zu spielen, und jetzt war sie sicher, daß sie es nie lernen würde. Sie gewöhnte sich aus Feigheit daran, zu Axel Egge zu gehen.
Axel war nicht respektabel und grob. Er war noch immer ein Fremder und war auch darauf gefaßt, es zu bleiben. Er hatte ein schwerfälliges Benehmen und fragte nicht viel. In keinem kleinen Dorfladen könnte es phantastischer aussehen als in seinem Geschäft. Niemand außer Axel selbst konnte etwas finden. Ein Teil seines Kinderstrumpflagers lag auf einem Regal unter einer Decke, ein Teil in einer Gewürzkuchenbüchse aus Zinnblech, der Rest häufte sich wie ein Nest schwarzer Baumwollschlangen auf einer Mehltonne, die von Besen, von norwegischen Bibeln, getrocknetem Kabeljau für »Ludfisk«, Kisten mit Aprikosen und eineinhalb Paaren Holzfällerstiefeln mit Gummisohlen umgeben war. Das Geschäftslokal war voller skandinavischer Bauernfrauen, die in Tüchern und alten braunen Jacken mit Schinkenärmeln müßig herumstanden und auf die Rückkehr ihrer Männer warteten. Sie sprachen norwegisch oder schwedisch und blickten Carola verständnislos an. Sie waren eine Erleichterung für sie – sie flüsterten sich nicht zu, sie posiere.
Aber sie redete sich ein, Axel Egge sei »so pittoresk und romantisch«.
Wenn sie den Mut hatte, in ihrem neuen karierten Kleid mit dem schwarz gestickten gelben Kragen einkaufen zu gehen, war es so gut, als hätte sie ganz Gopher Prairie (das für nichts so viel Interesse hatte wie für neue Kleider und deren Preis) eingeladen, sie zu mustern. Es war ein elegantes Kleid mit einem Schnitt, den die zipfenden gelben und rosa Röcke des Ortes nicht kannten. Der Blick, der aus der Veranda der Witwe Bogart kam, besagte: »Na, so was hab' ich noch nie in meinem Leben gesehen!« Frau McGanum hielt Carola am Kramladen an, um zu bemerken: »Je, ist das ein hübsches Kleid – war es nicht schrecklich teuer?« Die Bande von Jungen vor der Drogerie gab das Kommentar: »Du, Pudgie, spiel' mal 'ne Partie Schach auf dem Kleid.« Carola konnte es nicht ertragen, sie zog ihren Pelzmantel über dem Kleid zusammen und knöpfte ihn hastig zu, während die Jungen kicherten.
Keine Gruppe ärgerte sie so sehr wie diese jungen Roués.
Sie sah sie in dem übelriechenden Zimmer hinter Del Snafflins Friseurladen Billard spielen, im »Rauchhaus« würfeln und, in einen kichernden Haufen zusammengeballt, den »saftigen Geschichten« Bert Tybees, des Mixers aus dem Minniemashie-Hotel, zuhören. Sie hörte sie bei jeder Liebesszene im Filmpalast Rosenknospe mit feuchten Lippen schmatzen. In der griechischen Konditorei verschlangen sie ein fürchterliches Durcheinander von nicht mehr ganz guten Bananen, sauren Kirschen, Schlagsahne und breiigem Gefrorenen und schrien einander dabei zu: »Geh weg, laß mich in Frieden«, »Hör auf, du Schweinskerl, schau, was du gemacht hast, du hast fast mein Glas Wasser ausgeschüttet«. »Einen Dreck hab' ich«, »Du, gib acht, ja, steck nicht deinen Sargnagel in mein Gefrorenes«, und »Ach, du, Batty, wie war's gestern beim Tanzen mit Tillie McGyer? Feste geknutscht, was?«
Jetzt war ihr bekannt, daß diese Lausbuben alles von ihr wußten; daß sie auf irgendeine Affektiertheit warteten, über die sie in wieherndes Gelächter ausbrechen konnten. Kein Schulmädchen ging an ihrem Beobachtungsposten mit röteren Wangen vorüber als Frau Dr. Kennicott. Voll Scham wußte sie, daß die Burschen bewundernde Blicke nach ihren schneeigen Überschuhen warfen und Betrachtungen über ihre Beine anstellten. Sie hatten keine jungen Augen, es gab überhaupt keine Jugend in der ganzen Stadt. Sie waren alt, böse und alt und lauernd und tadelsüchtig auf die Welt gekommen.
Als sie das Gespräch zwischen Cy Bogart und Earl Haydock belauschte, mußte sie wieder über diese senile und grausame Jugend weinen.
An diesem Vormittag in den letzten Januartagen, zwei oder drei Wochen nach Vidas Enthüllungen, war Carola in den Garageschuppen gegangen, um einen Hammer zu suchen. Der Schnee erstickte den Schall ihrer Schritte. Sie hörte Stimmen in dem Speicher über ihr:
»Junge, sind die Zigaretten blendend! Weißt du noch, wie wir noch Jungens waren und immer Maisfasern und Grassamen geraucht haben?«
»Ja. Herrgott!«
Spucken. Schweigen.
»Hör' mal, Earl, Ma sagt, wenn man Tabak kaut, kriegt man die Schwindsucht.«
»Ach, Dreck, deine alte Dame ist verrückt.«
»Ja, das stimmt schon.« Pause. »Aber sie sagt, sie kennt einen, der sie gekriegt hat.«
»Ach, Blödsinn, Doktor Kennicott hat doch auch immer Tabak gekaut, bevor er das Stadtmädel da geheiratet hat. Der hat gespuckt – Mensch! Das war 'n Schütze! Der hat 'nen Baum auf zehn Fuß Entfernung getroffen.«
Das war eine Neuigkeit für das Stadtmädchen.
»Sag' mal, wie ist sie denn?« fragte Earl.
»He? Wer ist wie?«
»Du weißt schon, wen ich mein'. Mach' keine blöden Witze.«
Eine Balgerei, dumpfes Klappern loser Bretter, Schweigen, dann erzählte Cy verdrossen:
»Frau Kennicott? Oh, die ist tadellos, glaub' ich.« Eine Erleichterung für Carola unten. »Mal hat sie mir ein Mordsstück Kuchen gegeben. Aber Ma sagt, sie ist protzig wie der Deibel. Ma redet immer von ihr. Ma sagt, wenn Frau Kennicott so viel an den Doktor denken würde wie an ihre Kleider, würde der Doktor nicht so miserabel aussehen.«
Spucken. Schweigen.
»Ja. Juanita redet auch immer von ihr«, sagte Earl. »Sie sagt, Frau Kennicott glaubt, sie weiß alles. Juanita sagt, sie muß immer lachen, daß sie beinah platzt, wenn sie Frau Kennicott über die Straße stolzieren sieht, mit dieser dämlichen Art, die sie hat: ›Sieh mich mal an, ich bin was Feines!‹ Aber weißt du, ich geb' nicht viel drauf, was Juanita sagt. Sie ist ein ganz gemeines Luder.«
»Ma hat irgendwem erzählt, sie hat gehört, daß Frau Kennicott behauptet, sie hat vierzig Dollar in der Woche verdient, wie sie da irgendeinen Posten in der Stadt gehabt hat, und Ma sagt, sie weiß ganz genau, daß sie nie mehr als achtzehn in der Woche verdient hat – Ma sagt, wenn sie mal 'ne Zeit lang hier gelebt hat, wird sie nicht mehr rumlaufen und sich lächerlich machen, mit dem geschwollenen Zeugs, das sie den Leuten an den Kopf wirft, die viel mehr wissen als sie selbst. Alle lachen sich die Hucke voll über sie.«
»Sag' mal, hast du schon mal gesehen, wie Frau Kennicott im Haus rumtrödelt? Gestern abend, wie ich da rübergekommen bin, da hat sie vergessen, den Vorhang runterzulassen. Und ich hab' ihr zehn Minuten zugeschaut. Mensch, da hätt'st du lachen können. Sie war ganz allein, und's muß so fünf Minuten gedauert haben, bis sie damit fertig war, ein Bild gradezurücken.«
»Aber weißt du, Earl, sie sieht doch verdammt hübsch aus, trotzdem, und, heiliger Strohsack! muß die sich Fetzen für die Hochzeit gekauft haben! Ist dir schon mal aufgefallen, was für ausgeschnittene Kleider und was für dünne Shimmyhemden sie immer anhat? Die hab' ich mir mal gut ansehen können, wie sie mit der Wäsche auf der Leine waren. Und Beine hat die, was?«
Dann floh Carola.
In ihrer Unschuld hatte sie nicht gewußt, daß die ganze Stadt sogar ihre Kleider und ihren Körper besprechen könne. Sie hatte ein Gefühl, als schleifte man sie nackt die Hauptstraße entlang.
Sowie es zu dämmern begann, zog sie die Rouleaux herunter, genau bis zum Fensterbrett, aber dahinter glaubte sie feuchte höhnische Blicke zu spüren.
Sie dachte, suchte es zu vergessen, dachte um so lebhafter daran, daß ihr Mann den alten Landesgewohnheiten gefolgt sei und Tabak gekaut habe. Ein hübscheres Laster wäre ihr lieber gewesen – Spielen oder eine Geliebte. Dafür hätte sie Verständnis und auch Verzeihung aufgebracht. Sie konnte sich keines bezaubernd verruchten Romanhelden erinnern, der Tabak gekaut hätte. Sie sagte sich, das beweise, daß er ein Mann des kühnen freien Westens sei. Sie versuchte ihn als Filmhelden mit behaarter Brust zu sehen. Sie wälzte sich auf dem Ruhebett, kämpfte mit sich und verlor die Schlacht. Das Spucken machte ihn nicht zu einem der Präriereiter, die durch dick und dünn galoppierten; es brachte ihn nur in engere Gemeinschaft mit Gopher Prairie, mit dem Schneider Nat Hicks und dem Mixer Bert Tybee.
»Aber für mich hat er's aufgegeben. Ach, was macht das schon aus! Wir haben alle irgendeine schmutzige Gewohnheit. Ich komme mir so überlegen vor, aber ich muß auch essen und verdauen, muß mir auch meine schmierigen Pfoten waschen und mich kratzen. Ich bin keine kühle, glatte Säulengottheit. So was gibt's überhaupt nicht! Er hat's für mich aufgegeben. Er hält zu mir, er glaubt, daß alle mich lieben. Er ist der Fels der Jahrhunderte – in einem Sturm von Gemeinheit, der mich verrückt macht … es wird mich verrückt machen.«
Den ganzen Abend sang sie Kennicott schottische Balladen vor, und als sie bemerkte, daß er an einer unangezündeten Zigarre kaute, lächelte sie mütterlich über ihr Geheimnis.
Sie konnte es nicht vermeiden, sich zu fragen (in genau den gleichen Worten und dem gleichen Sinn, den Millionen Frauen, armselige Milchmädchen und unheilstiftende Königinnen, vor ihr gebraucht hatten, dessen sich Millionen Frauen nach ihr bedienen sollten): »War es am Ende doch ein fürchterlicher Irrtum, daß ich ihn geheiratet habe?« Sie unterdrückte den Zweifel – ohne sich ihre Frage zu beantworten.
Kennicott war mit ihr an den Lac-Qui-Meurt, in den Urwald gefahren. Dort war der Eingang in eine Indianerreservation der Chippewas, eine Ansiedlung im Sand unter norwegischen Föhren am Ufer eines riesigen, in seiner Schneedecke schimmernden Sees. Sie lernte seine Mutter kennen, die sie bei der Hochzeit nur flüchtig gesehen hatte. Frau Kennicott hatte eine stille, zarte Feinheit, die ihrer vielgescheuerten Hütte mit den abgenützten Kissen auf schwerfälligen Schaukelstühlen eine gewisse Würde verlieh. Sie hatte nie die Wunderkraft des Kindes zum Verwundern verloren. Sie erkundigte sich nach Büchern und nach den Städten. Sie murmelte:
»Will ist ein lieber, fleißiger Junge, aber er neigt dazu, zu ernst zu sein, und du hast ihm beigebracht, wie man spielt. Gestern abend hab' ich gehört, wie ihr beide über den alten indianischen Korbverkäufer gelacht habt; ich habe im Bett gelegen und mich an euerem Glück gefreut.«
In der Sicherheit dieses ruhigen Familienlebens vergaß Carola ihre Jagd nach Sorgen. Sie gehörte zu ihnen; sie kämpfte nicht allein. Wenn sie Frau Kennicott in der Küche umhereilen sah, konnte sie sich Kennicotts Wesen klarer machen. Er war sachlich, ja, und unheilbar erwachsen. Er spielte nicht wirklich; er ließ Carola mit ihm spielen. Aber er hatte das Talent seiner Mutter zum Vertrauen, ihren Widerwillen gegen zudringliche Neugier, ihre nie wankende Lauterkeit.
Die zwei Tage am Lac-Qui-Meurt riefen Carolas Selbstvertrauen wach, und auf der Fahrt nach Gopher Prairie genoß sie eine zitternde Ruhe, ähnlich jenen goldenen betäubten Sekunden, in denen ein kranker Mensch, weil er für einen Augenblick keinen Schmerz empfindet, sich schwelgerisch am Leben freut.
Ein strahlend kalter Wintertag, der Wind pfiff, schwarze Wolken mit Silberrändern jagten über den Himmel, alles war während der kurzen Helligkeit in aufgeregter Bewegung. Sie kämpften gegen den Wind an, arbeiteten sich durch tiefen Schnee. Kennicott war guter Laune. Er rief Loren Wheeler zu: »Habt ihr euch anständig benommen, während ich weg war?« Der Redakteur brüllte zurück: »Weiß Gott, Sie sind so lang' weg gewesen, daß Ihre Patienten alle gesund geworden sind!« und machte sich mit wichtiger Miene Notizen über die Reise für den »Unverzagten«. Jackson Elder schrie: »Na, Herrschaften! Was gibt's im Norden Neues?« Frau McGanum winkte ihnen von ihrer Veranda zu.
»Sie sind froh, daß sie uns sehen. Wir bedeuten hier etwas. Diese Menschen sind zufrieden. Warum kann ich's nicht sein? Aber ich kann nicht mein ganzes Leben lang brav dasitzen und mich mit ›Na, Herrschaften‹ begnügen. Die wollen laute Grüße in der Hauptstraße, und ich will Geigen in einem schönen Zimmer. Warum –?«
Vida Sherwin kam nach der Schule zehn- oder zwölfmal zu ihr. Sie war taktvoll und strömte von Anekdötchen über. Sie war in der Stadt umhergelaufen und hatte Komplimente eingesammelt: Frau Dr. Westlake hatte Carola eine »sehr liebe, kluge, gebildete junge Frau« genannt, und Brad Bemis, der Klempner in Clarks Eisenwarenladen hatte erklärt, sie sei »angenehm zu bedienen und schrecklich angenehm zum Anschauen«.
Aber Carola konnte ihr noch nicht recht vertrauen. Sie ärgerte sich darüber, daß dieser Eindringling von ihrer Schande wußte. Vida blieb auch nicht zu lange duldsam. Sie bemerkte: »Sie sind eine große Grüblerin, mein Kind. Rappeln Sie sich jetzt auf. Die Stadt hat jetzt damit aufgehört, Sie zu bekritteln, fast ganz. Kommen Sie mit mir in den Thanatopsisklub. Die Damen haben dort wirklich ausgezeichnete Vorträge und Diskussionen über aktuelle Ereignisse, sehr interessant.«
Carola spürte in Vidas Bitten einen Zwang, aber sie war zu gleichgültig, um zu folgen.
Doch ihre eigentliche Vertraute war Bea Sorenson.
So liebevoll gegen die unteren Klassen Carola sich auch vorgekommen sein mochte, sie war zum Glauben erzogen worden, daß Dienstboten zu einer anderen und untergeordneten Spielart gehören. Aber sie fand, daß Bea eine ganz außerordentliche Ähnlichkeit mit den Mädchen hatte, die ihr im College lieb gewesen waren, und daß sie als Gefährtin den jungen Ehefrauen der Lustigen Siebzehn durchaus vorzuziehen war. Täglich wurden sie mit mehr Freimut zwei Mädchen, die Hausarbeit spielten. Bea hielt in aller Unschuld Carola für die schönste und gebildetste Dame im Lande; sie rief immer: »Je, ist das ein feiner Hut!« oder: »Ich glaub', die Damen müssen ganz einfach platzen, wenn sie sehen, wie elegant Sie sich frisieren!«
Aber es war weder die Demut eines Dienstboten noch die Heuchelei einer Sklavin, es war die Bewunderung des Fuchses für die Juniorin.
Sie stellten gemeinsam die Tagesmahlzeiten zusammen. Obgleich es in aller Korrektheit damit begann, daß Carola am Küchentisch saß und Bea beim Abguß war oder den Herd putzte, endete die Besprechung fast immer damit, daß beide am Tisch saßen und Bea glucksend von den Versuchen erzählte, die der Eismann gemacht hatte, um sie zu küssen, oder daß Carola sagte: »Jeder Mensch in der Stadt weiß, daß der Doktor viel tüchtiger ist als Dr. McGanum.«
Wenn Carola vom Einholen heimkam, stürzte Bea ins Vorzimmer, um ihr den Mantel abzunehmen, ihr die erfrorenen Hände zu reiben und sie zu fragen: »Waren heute viele Leute in der Stadt?« Das war der Willkomm, auf den Carola wartete.
In den Wochen ihrer Gebrochenheit war in ihrem äußeren Leben keine Änderung zu sehen. Niemand außer Vida merkte, wie sie litt. An den Tagen der größten Verzweiflung plauderte sie mit den Frauen auf der Straße und in den Läden. Aber ohne Kennicotts Schutz wagte sie sich nicht zur Lustigen Siebzehn; sie lieferte sich dem Gericht der Stadt nur aus, wenn sie einkaufen ging, und bei den rituellen Gelegenheiten formeller Nachmittagsbesuche, wenn Frau Lyman Cass oder Frau George Edwin Mott mit sauberen Handschuhen, kleinen Taschentüchern, Sealskintäschchen und Mienen erstarrter Zustimmung auf Stuhlkanten saßen und fragten: »Finden Sie Gopher Prairie angenehm?« Wenn sie abends bei den Haydocks oder den Dyers sein mußte, versteckte sie sich hinter Kennicott und spielte die bescheidene junge Frau.
Jetzt war sie schutzlos. Kennicott hatte einen Patienten einer Operation wegen nach Rochester gebracht. Er mußte zwei oder drei Tage wegbleiben. Sie hatte sich nichts daraus gemacht; sich darauf gefreut, sie würde die Gebundenheit der verheirateten Frau etwas lockern und eine Zeitlang das junge Mädchen spielen. Aber nun, da er gegangen war, war das Haus hörbar leer. Bea hatte an diesem Nachmittag Ausgang – sie war wohl bei ihrer Kusine Tina, trank Kaffee und unterhielt sich über »Schätze«. Es war der Tag, an dem das allmonatliche Abendessen mit der Bridgepartie in der Lustigen Siebzehn stattfand, aber Carola traute sich nicht hinzugehen.
Sie saß allein.