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Achtzehntes Kapitel

1

In den drei Jahren ihrer Verbannung von sich selbst wurden Carola manche Ereignisse vom »Unverzagten« als wichtig berichtet oder in der Lustigen Siebzehn diskutiert, aber das nicht berichtete, nicht diskutierte und wesentliche Geschehen war, daß sie sich allmählich ihre Sehnsucht, ihre Menschen zu finden, eingestand.

2

Bea und Miles Bjornstam heirateten im Juni, einen Monat nach dem Theaterabend. Miles war respektabel geworden. Er hatte auf seine Kritteleien über Staat und Gesellschaft verzichtet; er hatte das Herumvagabundieren als Pferdehändler und das Tragen roter Decken im Holzfällerlager aufgegeben; er arbeitete als Maschinist in Jackson Elders Hobelwerkstatt; man sah ihn auf der Straße, wie er sich bemühte, nachbarliche Beziehungen mit argwöhnischen Männern anzuknüpfen, die er seit Jahren verhöhnt hatte.

Carola protegierte die Hochzeit und richtete sie aus. Juanita Haydock spottete: »Sie sind schön dumm, daß Sie ein gutes Dienstmädel wie die Bea gehen lassen. Übrigens, woher wissen Sie denn, daß es für sie gut ist, wenn sie einen unverschämten Trottel wie den schrecklichen roten Schweden heiratet? Seien Sie vernünftig! Jagen Sie den Kerl mit einem Scheuerlappen davon und halten Sie sich Ihre Schwedin, solang es geht. Was? Ich zu der skandinavischen Hochzeit gehen? Ausgeschlossen!«

Die anderen Ehefrauen waren Juanitas Echo. Diese gleichgültige Grausamkeit betrübte Carola, aber sie gab nicht nach. Miles Bjornstam hatte ihr in freudiger Erregung mitgeteilt: »Jack Elder hat gesagt, er kommt vielleicht zur Hochzeit! Herrje, es war' nett, wenn Bea als regelrechte verheiratete Dame mit dem Boss zusammenkäme. Mal wird's mir so gut gehen, daß Bea mit Frau Elder – und mit Ihnen – Karten spielen kann! Passen Sie nur auf!«

Ein unbehagliches Grüppchen von nur neun Gästen wohnte der Trauung in der kahlen Lutheranerkirche bei – Carola, Kennicott, Guy Pollock und die Champ Perrys, alle von Carola zusammengetrommelt; Beas verschüchterte Bauerneltern, ihre Kusine Tina und Pete, Miles' gewesener Sozius im Pferdehandel, ein mürrischer, behaarter Mann, der sich für dieses Ereignis einen schwarzen Anzug gekauft hatte und zwölfhundert Meilen weit von Spokane herbeigekommen war.

Miles sah sich immer wieder nach der Kirchentür um. Jackson Elder erschien nicht. Nicht ein einziges Mal öffnete sich die Tür nach dem schüchternen Eintreten der ersten Gäste. Miles Hand schloß sich um Beas Arm.

Mit Carolas Hilfe hatte er seine Bretterbude in ein hübsches Häuschen mit weißen Vorhängen, einem Kanarienvogel und einem kattunüberzogenen Stuhl verwandelt.

Carola redete den mächtigen Ehefrauen schmeichelnd zu, sie sollten Bea besuchen. Halb machten sie sich lustig, halb versprachen sie es zu tun.

Beas Nachfolgerin war die ältliche, breite, schweigsame Oscarina, die ihrer leichtfertigen Herrin einen Monat lang mit Mißtrauen begegnete, so daß Juanita Haydock krächzen konnte: »So, Sie Ganzgescheite, ich hab' Ihnen ja gesagt, Sie werden noch Schwierigkeiten im Haus haben!« Doch Oscarina nahm Carola als Tochter an, und da sie ebenso pflichtgetreu der Küche diente wie Bea, hatte sich in Carolas Leben nichts geändert.

3

Ganz unerwarteterweise wurde sie von Ole Jenson, dem neuen Bürgermeister, zum Mitglied des städtischen Bibliotheksausschusses ernannt. Die anderen Mitglieder waren Dr. Westlake, Lyman Cass, der Anwalt Julius Flickerbough, Guy Pollock und Martin Mahoney, der frühere Mietsstallbesitzer, der jetzt eine Garage hatte. Sie war entzückt. Zur ersten Sitzung ging sie ziemlich herablassend, da sie außer Guy sich selbst für den einzigen Menschen hielt, der etwas von Büchern oder Bibliotheksmethoden verstand. Sie hatte vor, das ganze System zu revolutionieren.

Der Zwischenfall mit den siebzehn Cents machte ihrem Interesse ein Ende.

Sie hatte eine Liste dreißig europäischer Romane aus den letzten zehn Jahren und zwanzig wichtiger Werke über Psychologie, Pädagogik und Volkswirtschaft zusammengestellt, die der Bibliothek fehlten. Sie hatte Kennicott das Versprechen abgerungen, fünfzehn Dollar zu spenden. Wenn alle Ausschußmitglieder den gleichen Betrag stifteten, konnten die Bücher erworben werden.

Lym Cass sah erschrocken aus, kratzte sich und protestierte: »Ich glaube, damit wäre eine Präzedenzfall für Geldbeiträge von den Ausschußmitgliedern da – äh – nicht daß mir was dran liegt, aber es wäre nicht anständig, einen Präzedenzfall zu schaffen. Du lieber Himmel! Man zahlt uns keinen Cent für unsere Dienste! Da kann doch auch niemand erwarten, daß wir noch dafür bezahlen, daß wir ihnen diese Dienste leisten dürfen!«

Nur Guy zeigte eine zustimmende Miene, er trommelte auf den Tisch und sagte nichts.

Der Rest der Sitzung wurde einer kriegerischen Untersuchung gewidmet, die sich damit befaßte, daß siebzehn Cents weniger in der Kasse waren, als da sein sollten. Fräulein Villets wurde hereingerufen; sie verbrachte eine halbe Stunde mit zornigen Verteidigungen; die siebzehn Cents wurden durchgekaut, Pfennig für Pfennig; Carola warf einen Blick auf die sorgfältig geschriebene Liste, die noch vor einer Stunde so hübsch und interessant gewesen war, bedauerte Fräulein Villets und bedauerte sich selbst noch mehr.

Sie wohnte den Sitzungen ziemlich regelmäßig bei, bis ihre zwei Jahre um waren und Vida Sherwin an ihrer Stelle in den Ausschuß geschickt wurde, aber sie versuchte nie wieder, revolutionär zu sein. Im Trott ihres Lebens änderte sich nichts, geschah nichts Neues.

4

Kennicott machte ein ausgezeichnetes Terraingeschäft, aber da er ihr nichts von den Einzelheiten erzählte, war sie weder sehr begeistert noch sehr aufgeregt. In Erregung geriet sie aber durch seine teils geflüsterte und teils herausgeschriene, teils zärtliche und teils kühl medizinische Mitteilung, daß sie »jetzt, wo sie sichs leisten könnten, ein Kind haben müßten«. Sie hatte so lange zugegeben, daß es »vielleicht am besten wäre, vorläufig keine Kinder zu haben«, bis die Kinderlosigkeit ein natürlicher Zustand für sie geworden war. Jetzt war sie ängstlich und sehnte sich und wußte nicht recht; zögernd stimmte sie zu und wünschte, sie hätte nicht zugestimmt.

Da sich aber kein Wechsel in ihren verschlafenen Beziehungen zeigte, vergaß sie wieder alles, und das Leben hatte kein Ziel.

5

Züge!

Im Häuschen am See fehlten ihr die vorüberfahrenden Züge. Jetzt merkte sie, daß sie ihr in der Stadt notwendig gewesen waren als sicheres Symbol dafür, daß es draußen noch immer eine Welt gab.

Die Eisenbahn war für Gopher Prairie mehr als ein Transportmittel. Sie war ein neuer Gott; ein schrecklicher Götze mit stählernen Gliedern, Eichenrippen und steinernem Fleisch, mit einem verblüffenden Hunger nach Fracht; eine Gottheit, die der Mensch geschaffen hatte, um sich die Ehrfurcht vor dem Eigentum zu erhalten, wie er anderwärts Bergwerke, Baumwollspinnereien, Automobilfabriken, Colleges und Heere als Stammesgötter aufgerichtet hatte, denen er diente.

Der Osten wußte noch von Generationen, die keine Eisenbahn gekannt hatten, und empfand keine ehrfürchtige Scheu vor ihr; aber hier hatte es schon vor der Zeit Eisenbahnen gegeben. Die Städte waren auf der kahlen Prärie als passende Haltepunkte für die künftigen Bahnen angelegt worden; und in der Zeit von 1860 und 1870 hatte es viel Gewinn und viel Gelegenheit zur Gründung aristokratischer Familien gebracht, im voraus zu wissen, wo Städte entstehen würden.

Wenn eine Stadt in Ungnade war, konnte die Eisenbahn sie vernachlässigen, vom Handel abschneiden, töten. Für Gopher Prairie waren die Geleise ewige Wahrheiten und Eisenbahndirektionsausschüsse eine Allmacht. Der kleinste Junge und das zurückgezogenste Großmütterchen konnten einem sagen, ob Nr. 32 am letzten Dienstag eine heißgelaufene Achse hatte, ob Nr. 7 einen Wagen mehr anhängen würde; und der Name des Eisenbahnpräsidenten wurde täglich an jedem Frühstückstisch genannt.

Sogar in dieser neuen Ära der Automobile gingen die Bürger zum Bahnhof hinaus, um die Züge durchfahren zu sehen. Das war ihre Romantik; ihr einziges Mysterium außer der Messe in der katholischen Kirche; und aus den Zügen stiegen große Herren der Außenwelt – Geschäftsreisende mit eingefaßten Westenausschnitten, und Vettern, die aus Milwaukee zu Besuch kamen.

Der Nachttelegraphist im Bahnhof war die tragischste Gestalt in der Stadt: um drei Uhr morgens wachend, allein in einem Raum, in dem das Geklapper des Telegraphentasters zitterte. Die ganze Nacht »redete« er mit Telegraphisten, die zwanzig, fünfzig, hundert Meilen weit weg waren. Immer erwartete man, daß er von Räubern ausgehoben wurde. Das geschah nie, aber es umgab ihn die Vision maskierter Gesichter am Fenster, entgegengestreckter Revolver, fester Seile, die ihn an einen Stuhl fesselten, wütender Anstrengungen, zum Taster zu kriechen, bevor das Bewußtsein entschwände.

Bei Schneestürmen war alles, was mit der Eisenbahn zu tun hatte, tragisch. Es gab Tage, an denen die Stadt völlig abgeschnitten war, an denen sie keine Post, keinen Schnellzug, kein frisches Fleisch, keine Zeitungen hatten. Endlich kam der Schneepflug durch, bekämpfte die Verwehungen, schickte einen Geiser empor, und der Weg zur Außenwelt war wieder offen. Die Bremser, mit Halstüchern und Pelzkappen, liefen die Dächer der vereisten Güterwagen entlang; die Lokomotivführer kratzten das Eis von den Fenstern des Führerstandes ab und sahen hinaus, unerforschlich, geheimnisvoll, Lotsen des Präriemeeres …

Den kleinen Jungen war die Eisenbahn als Spielplatz vertraut. Sie erstiegen die Eisenleitern an den Seitenwänden der gedeckten Güterwagen, schichteten hinter den Stapeln alter Schwellen Holz für ein Feuer auf und winkten ihren Lieblingsbremsern zu. Doch für Carola war sie ein Zauber.

Sie fuhr mit Kennicott im Automobil, der Wagen holperte durch die Dunkelheit, die Scheinwerfer beleuchteten Schlammpfützen und zerzauste Stauden an der Straße. Ein Zug kam! Ein rasches Tschk-schk, Tschk-tschk, Tschk-tschk. Er raste vorbei – der Pacifik-Expreß, ein goldflammender Pfeil. Aus dem Schornstein flogen glimmende Funken. Im Nu war alles wieder vorbei; Carola war wieder in der langen Dunkelheit; und Kennicott sagte das seine über dieses Feuerwunder: »Nr. 19, muß ungefähr zehn Minuten Verspätung haben.«

In der Stadt lauschte sie in ihrem Bett dem Schnellzug, der in dem Durchlaß im Norden pfiff. Uuuuuuh! – schwach, nervös, nachlässig, das Horn der freien Nachtreiter, die in die großen Städte reisen, wo es Lachen und Fahnen und Glockenklang gibt – Uuuuuuh! Uuuuh! – die Welt fährt vorbei – Uuuuuuh! – schwächer, sehnsüchtiger, weg.

Hier draußen gab es keine Züge. Die Stille war übergroß. Die Prärie umschloß den See, lag rings um ihn, rauh, staubig, schwer. Nur der Zug konnte sie zerschneiden. Eines Tages würde sie in einen Zug steigen; und das würde eine große Unternehmung sein.

6

Bald darauf brach in Europa der Weltkrieg aus.

Eine Woche lang genoß Gopher Prairie die Wonne des Bebens, dann, als der Krieg zu einer geschäftlichen Angelegenheit mit Schützengrabenkämpfen wurde, vergaß man ihn.

Als Carola über den Balkan und über die Möglichkeit einer deutschen Revolution sprach, gähnte Kennicott: »Ach ja, es ist schon 'ne Mordsbalgerei, aber uns geht's nichts an. Hier haben die Leute zu viel damit zu tun, ihren Mais zu bauen, als daß sie sich mit einem idiotischen Krieg abgeben könnten, den diese Ausländer durchaus haben wollen.«

Miles Bjornstam aber sagte: »Ich find' mich nicht zurecht. Ich bin gegen Kriege, aber trotzdem, es scheint, Deutschland muß Hiebe beziehen, weil die Junker dem Fortschritt im Weg stehen.«

Im Frühherbst besuchte sie Miles und Bea. Sie empfingen sie mit freudigen Ausrufen, staubten Stühle ab und liefen Wasser holen zum Kaffeekochen. Miles stand da, lächelte sie strahlend an. Er kehrte oft und mit Freuden zu seiner alten Respektlosigkeit vor den Herren Gopher Prairies zurück, aber immer hängte er – mit einiger Schwierigkeit – etwas gut Klingendes und Anerkennendes daran.

»Ziemlich viel Leute haben Sie besucht, nicht wahr?« erkundigte sich Carola.

»Ach, na ja, Beas Kusine Tina kommt recht oft her, und der Vorarbeiter von der Mühle, und – oh, wir unterhalten uns recht gut. Hören Sie, sehen Sie sich doch mal die Bea an! Sollte man nicht meinen, daß sie ein Kanarienvogel ist, wenn man ihr zuhört und den Flachskopf sieht, den sie hat? Aber wissen Sie, was sie ist? Sie ist 'ne Mutterglucke! Was sie immer an mir rumzuschaffen hat – wie sie den alten Miles dazu bringt, daß er sich 'ne Krawatte umbindet! Ich will sie nicht verderben, deshalb soll sie's nicht hören, aber sie ist 'ne recht lausig nette – nette – Teufel auch! Was liegt denn uns dran, ob einer von den dreckigen Affen herkommt oder nicht? Wir haben uns.«

Carola bereiteten die Anstrengungen der beiden eine Zeitlang Kümmernisse, aber in ihrer Krankheit und Angst dachte sie nicht mehr daran. Denn in diesem Herbst wußte sie, daß sie ein Kind erwartete, daß endlich das Leben durch die Gefahr dieser großen Veränderung interessant zu werden versprach.


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