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Unter den jagenden Wolken bewegt sich eine Stahlmasse über die Prärie. Ein unerträgliches Klirren und Rattern, darüber ein unaufhörliches Brüllen. Scharfer Orangenduft zerschneidet den dumpfigen Geruch ungebadeter Menschen und alten Gepäcks.
Ortschaften, so planlos gebaut, wie wenn man Pappschachteln auf einem Kammerboden verstreut. Die Fläche blaßgoldener Stoppeln wird nur von Weidengebüschen unterbrochen, die um weiße Häuser und rote Scheunen stehen.
Es ist September, heiß, sehr staubig.
Der Zug hat keinen bequemen Pullmanwagen, keine Bedienung ist da, keine Kissen, keine Schlafgelegenheit, den ganzen Tag und die ganze Nacht werden sie in dieser langen Stahlschachtel reisen – Farmer mit ewig müden Frauen und Kindern, die alle gleichaltrig zu sein scheinen; Arbeiter, die in neue Stellungen fahren; Reisende mit steifen Hüten und frisch geputzten Schuhen.
Sie richten sich in verrenkten Stellungen zum Schlafen ein, die Köpfe an den Fensterscheiben oder auf zusammengerollten Mänteln auf den Lehnen, die Beine in den Gang gestellt. Sie lesen nicht; sie scheinen nicht zu denken. Sie warten.
Für jeden der Mitfahrenden war sein Sitz sein zeitweiliges Heim, und die meisten von ihnen waren nachlässige Hauswirte. Eine Bank aber sah sauber und täuschend kühl aus. Auf ihr saßen ein offenbar wohlhabender Mann und ein schwarzhaariges, feinhäutiges Mädchen, dessen Schuhe auf einer sauberen Roßledertasche ruhten.
Es waren Dr. Will Kennicott und seine junge Frau Carola.
Sie hatten nach einem Jahr wortreicher Verlobtheit geheiratet und waren nach einer Hochzeitsreise in den Colorado-Bergen auf der Fahrt nach Gopher Prairie.
Carola hatte Kopfschmerzen von dem Gerüttel.
Sie sah die Prärie – ebene Grasflächen und langgestreckte Hügelwellen. Die Größe und Weite begann sie zu entsetzen. Es dehnte sich so aus; es ging so unkontrollierbar weiter; sie konnte es gar nicht begreifen. Kennicott war in seinen Detektivroman vertieft.
Nur eine dünne Hecke trennte sie von den Ebenen – herbstlich abgeschorenes Weizenland, jedes Feld etwa hundert Morgen groß, stachlig und grau in der nächsten Nähe, in der verschwommenen Ferne aber wie lohfarbener Samt über die sanften Hügel gebreitet. Die langen Reihen der Weizenpuppen marschierten wie Soldaten in abgetragenen gelben Mänteln. Die frischgepflügten Felder waren schwarze Fahnen, die auf die fernen Hügel gefallen waren. Es war eine kriegerische Unendlichkeit, kraftvoll, ein wenig rauh, ungelindert von freundlichen Gärten.
Dann schrak sie auf; Kennicott lachte fröhlich: »Weißt du, daß die nächste Station Gopher Prairie ist! Zu Hause!«
Das eine Wort – zu Hause – erschreckte sie. Hatte sie sich wirklich daran gebunden, ohne Entrinnen, in dieser Stadt, die Gopher Prairie hieß, zu leben? Und dieser dicke Mann neben ihr, der es wagte, über ihre Zukunft zu bestimmen, er war ein Fremder! Sie drehte sich auf ihrem Sitz um, starrte ihn an. Wer war er? Warum saß er neben ihr? Er war nicht von ihrer Art! Sein Hals war schwer; seine Sprache war schwer; er war zwölf oder dreizehn Jahre älter als sie; und nichts von dem Zauber gemeinsamer Erlebnisse und Ziele umgab ihn. Sie konnte nicht glauben, daß sie je in seinen Armen geschlafen hatte. Das war einer jener Träume, die man träumt, sich aber nicht eingesteht.
Jetzt kam der Zug an dem Speicher vorbei, an den häßlichen Öltanks, an einer Butterei, einem Holzhof, einem schmutzigen, zertrampelten, stinkenden Viehhof. Jetzt hielten sie an einem geduckten hölzernen Stationsgebäude; auf dem Bahnsteig drängten sich unrasierte Bauern und Nichtstuer, platte Menschen mit leeren Augen. Sie war da. Sie konnte nicht weiter. Es war das Ende – das Ende der Welt. Mit geschlossenen Augen saß sie da, am liebsten hätte sie sich an Kennicott vorbeigeschlichen, sich irgendwo im Zug versteckt, wäre sie weiter dem Pacific zu geflohen. Kennicott sah durch das Fenster hinaus.
»Schau! Schau! Die sind alle gekommen, um uns zu begrüßen! Sam Clark mit seiner Frau und Dave Dyer und Jack Elder, und, wirklich, Harry Haydock mit Juanita, und eine ganze Menge! Ich glaub', jetzt sehen sie uns. Ja, ganz bestimmt, sie sehen uns! Schau, wie sie winken!«
Gehorsam beugte sie den Kopf, um hinauszusehen. Sie hatte sich wieder in der Hand. Sie war bereit, diese Menschen zu lieben. Doch die Herzlichkeit der freudig rufenden Gruppe verwirrte sie. Durch das Fenster winkte sie ihnen zu, aber dann zögerte sie eine Sekunde am Arm des Bremsers, der ihr hinunter half, bevor sie den Mut aufbrachte, sich in den Katarakt händedrückender Leute zu stürzen – Leute, die sie nicht unterscheiden konnte.
Sie fühlte, daß sie sie willkommen hießen. Die Hände, das Lächeln, die Rufe, die liebevollen Augen überwältigten sie. Sie stammelte: »Danke, oh, danke!«
Einer der Männer rief Kennicott zu: »Ich hab' meinen Wagen da, um Sie nach Hause zu bringen, Doktor.«
Als sie im Wagen saßen, drehte er sich um und sagte zu Carola: »Also, ich bin Sam Clark, der Eisenhändler. Sie können Sam zu mir sagen – auf jeden Fall werd' ich Carrie zu Ihnen sagen, wo Sie doch schon mal den armseligen Nichtstuer von Arzt geheiratet haben, der bei uns ist. Die dicke komische Dame da hinten neben Ihnen, die so tut, als ob sie nicht hörte, daß ich von ihr rede, ist Frau Sam'l Clark; und das hungrig aussehende Eichhörnchen da neben mir ist Dave Dyer, der die Drogerie hat! So. Hören Sie, Doktor, ich werd' Ihnen den Candersen-Platz für dreitausend Dollar verkaufen. Sie müssen schon dran denken, ein neues Haus für Carrie zu bauen. Die hübscheste Frau in Gopher Prairie, wenn Sie meine Meinung hören wollen!«
Kennicott hatte ihr erzählt, daß er mit seiner verwitweten Mutter in einem alten Haus gewohnt habe, aber »sehr nett und geräumig, gut geheizt, mit der besten Heizung, die ich hab' auftreiben können«. Seine Mutter, die ihm die Wirtschaft geführt hatte, ließ Carola grüßen, sie war an den Lac-qui-Meurt zurückgekehrt.
Es mußte wunderbar sein, jubelte sie, nicht im Haus anderer Leute leben zu müssen, sein eigenes Heiligtum zu haben. Sie hielt seine Hand fest und starrte nach vorne, als der Wagen um eine Ecke bog und vor einem prosaischen Fachwerkhaus hielt, das von einer kleinen verdorrten Rasenfläche umgeben war.
Der Zug, in dem Carola nach Gopher Prairie fuhr, brachte auch Fräulein Bea Sorenson dorthin.
Fräulein Bea war ein handfestes, maisblondes, lachendes, junges Weib, das von der Landarbeit genug hatte. Sie sehnte sich nach den Aufregungen des Stadtlebens, und die Methode, um zu diesem frohen Stadtleben zu kommen, war ihrer Meinung nach, »als Dienstmädchen nach Gopher Prairie gehen«. Sie schleppte zufrieden ihre Pappschachtel vom Bahnhof zu ihrer Kusine Tina Malmquist, die Mädchen für alles bei Frau Luke Dawson war.
»Also, du bist in die Stadt gekommen«, sagte Tina.
»Ja. Ich will 'nen Posten«, sagte Bea.
»Also … Hast du 'n Schatz?«
»Ja. Jim Jacobson.«
»Also. Schön, daß du da bist. Wieviel willst du in der Woche?«
»Sechs Dollar.«
»So viel zahlt hier keiner. Wart! Doktor Kennicott, der hat, glaub' ich, ein Stadtmädel geheiratet. Vielleicht zahlt die so viel. Also. Du gehst spazieren.«
»Ja«, sagte Bea.
So kam es, daß Carola Kennicott und Bea Sorenson die Hauptstraße zur gleichen Zeit besichtigten.
Bea war noch nie in einer größeren Stadt gewesen als Scandia Crossing, das siebenundsechzig Einwohner hat.
Während sie die Straße hinaufmarschierte, überlegte sie, wie es möglich wäre, daß so viele Menschen auf einmal in einem Ort sein können. Je! Das mußte ja Jahre dauern, bis man alle kennenlernte. Und feine Leute noch dazu! Ein schöner großer Herr in einem neuen rosa Hemd, mit einem Diamanten, und nicht in so einem ausgewaschenen blauen Baumwollhemd. Eine hübsche Dame in einem Leinenkleid (aber dieses Kleid mußte schrecklich schwer zu waschen sein). Und die Läden!
Nicht bloß drei wie in Scandia Crossing, nein, mehr als vier ganze Blocks!
Der Bon Ton-Laden – so groß wie vier Scheunen – je! da mußte man ja ganz einfach Angst haben hineinzugehen, wo drinnen sieben oder acht Kommis einen alle anstarrten. Und die Herrenanzüge, auf Puppen, die ganz wie Menschen aussahen. Und Axel Egge, eine Menge Schweden und Norweger, wie zu Hause, und eine Karte mit feinen. Knöpfen, wie Rubine.
Eine Drogerie mit einem Sodaschanktisch, der ungeheuer war, schrecklich lang, und lauter schöner Marmor; und darauf stand eine große, große Lampe mit dem größten Schirm, den man sich denken kann – aus lauter verschiedenen Arten von buntem Glas zusammengesetzt; und die Sodaröhren, die waren aus Silber und kamen direkt aus dem Fuß der Lampe! Hinter dem Schanktisch waren Glasregale und Flaschen mit neuen Arten von alkoholfreien Getränken, von denen noch kein Mensch etwas gehört hatte. Wenn einer einen hierher mitnehmen sollte!
Ein Hotel, schrecklich hoch, noch höher als Oscar Tollefsons neue rote Scheune; drei Stockwerke, eines direkt über dem anderen; man mußte den Kopf zurücklegen, um ganz bis hinauf sehen zu können. Da war ein feiner Reisender drin – der war wahrscheinlich schon viele Male in Chicago gewesen.
Oh, so feine Leute waren da, die man kennenlernen konnte! Da ging eine Dame vorbei, man könnte kaum sagen, daß sie älter war als Bea selbst. Sie hatte ein feines graues Kleid an und schwarze ausgeschnittene Schuhe. Sie sah fast so aus, als ob sie sich auch die Stadt ansähe. Aber man hätte nie wissen können, was sie dachte. Bea wäre auch gern so gewesen – ein bißchen still, so daß keiner frech werden kann. Ein bißchen – ach, elegant.
Eine Lutheranerkirche. Hier in der Stadt würde es nette Predigten geben. Und zweimal an jedem Sonntag Kirche, an jedem Sonntag.
Und ein Kinotheater!
Ein richtiges Theater nur für Kino. Mit der Aufschrift: »Programmwechsel jeden Abend.« Jeden Abend Vorstellung!
In Scandia Crossing gab es auch Kinovorstellungen, aber nur einmal in vierzehn Tagen, und die Sorensons hatten eine Stunde zu fahren – Papa war ein solcher Geizkragen, daß er sich nie einen Ford anschaffen würde. Aber hier konnte sie sich jeden Abend den Hut aufsetzen und in drei Minuten im Kino sein und hübsche Burschen im Smoking sehen und Bill Hart und alles!
Wie konnten sie nur so viel Läden haben? Herrgott! Da war ja einer nur für Tabak, und einer (ein reizender – der Kunstladen) für Bilder und Vasen und so Sachen, mit der blendendsten Vase, die man sich denken konnte, wie ein Baumstumpf!
Bea stand an der Ecke der Hauptstraße und der Washington Avenue. Der Lärm der Stadt begann ihr Angst zu machen. Fünf Automobile waren auf der Straße, und alle auf einmal – und eines davon war ein großer, großer Wagen, der mußte zweitausend Dollar gekostet haben – und der Bus fuhr zur Bahn mit fünf elegant angezogenen Männern; und ein Mann klebte rote Zettel an, auf denen hübsche Bilder von Waschmaschinen waren, und der Juwelier legte Armbänder und Armbanduhren aus, alle auf echten Samt.
Was lag ihr daran, ob sie sechs Dollar in der Woche bekäme? Oder zwei? Es wäre ja wert, umsonst zu arbeiten, wenn man nur hierbleiben darf. Und wie es am Abend sein würde, alles beleuchtet – und nicht mit Lampen, mit Elektrizität! Und vielleicht ein Freund, der einen ins Kino führt und einem Erdbeergefrorenes mit Soda kauft!
Bea schleppte sich zurück.
»Also? Gefällt's dir?« fragte Tina.
»Ja. 's gefällt mir. Ich glaub', ich werd' dableiben«, sagte Bea.
Das neuerbaute Haus Sam Clarks, in dem die Gesellschaft zur Begrüßung Carolas gegeben wurde, war eines der größten Gebäude in Gopher Prairie. Es war mit sauberen Schindeln gedeckt, es hatte einen Turm und eine große gedeckte Veranda. Drinnen war es so schimmernd, so hart und so munter wie ein neues Eichenpianino.
Carola blickte Sam Clark flehend an, als dieser die Tür öffnete und brüllte: »Willkommen, kleine Dame! Die Schlüssel der Stadt gehören Ihnen!«
Hinter ihm, in der Diele und im Wohnzimmer sah sie die Gäste in einem weiten, steifen Kreis sitzen, als wohnten sie einem Begräbnis bei. Sie warteten so! Sie warteten auf sie! Ihr Entschluß, ganz zierlich bescheidenes Blümchen zu sein, verflüchtigte sich. Sie bat Sam: »Ich trau' mich nicht hineinzugehen! Sie erwarten so viel! Mit einem Schluck werden sie mich verschlingen!«
»Aber, Schwester, sie werden Sie alle lieben, genau so wie ich, wenn ich nicht Angst davor hätte, daß mich der Doktor da verhaut!«
»A–aber – ich trau' mich nicht! überall Gesichter rechts, links, vor mir, und alle so neugierig!«
Sie kam sich hysterisch vor, Sam mußte sie für wahnsinnig halten. Der aber kicherte: »Jetzt kuscheln Sie sich ganz einfach unter Sams Flügel, und wenn einer einen zu langen Hals nach Ihnen macht, jag' ich ihn weg. Da sind wir!«
Den Arm um sie, führte er sie hinein und rief schallend: »Meine Damen und schlechteren Hälften, die junge Frau! Wir wollen sie noch nicht ringsherum vorstellen, weil sie eure blöden Namen doch nicht richtig verstehen würde. Und jetzt Schluß mit der Gerichtsfeierlichkeit!«
Sie kicherten höflich, bewegten sich aber nicht aus der Sicherheit heraus, die ihnen ihr Kreis gab, und hörten nicht auf zu glotzen.
Carola hatte viel Mühe darauf verwendet, sich für das Ereignis anzuziehen. Ihre Frisur war züchtig, das Haar niedrig in die Stirn gekämmt, mit einem Scheitel und eingerollten Flechten. Jetzt wollte sie, sie hätte es hoch aufgetürmt. Ihr Kleid war unschuldig fallender Batist, mit einer breiten Goldschärpe und einem kleinen viereckigen Halsausschnitt, der den Halsansatz und schöne Schultern ahnen ließ. Während sie aber gemustert wurde, war sie überzeugt, das alles sei falsch. Einmal wünschte sie, sie hätte ein altjüngferliches hochgeschlossenes Kleid an, dann wieder, sie hätte den Mut gehabt, die Leute mit einem grellen, leuchtend roten Schal, den sie in Chicago gekauft hatte, in Empörung zu versetzen.
Sie wurde im Kreis herumgeführt. Ihre Stimme produzierte mechanisch Worte:
»Ach, sicher wird es mir hier ausgezeichnet gefallen.« »Ja, wir haben es wunderschön in den Colorado-Bergen gehabt« und »Ja, ich war einige Jahre in St. Paul. Euclid P. Tinker? Nein, ich kann mich nicht erinnern, ihn kennengelernt zu haben. Aber ich glaube ganz bestimmt, ich habe von ihm gehört.«
Kennicott nahm sie beiseite und flüsterte: »Jetzt werd' ich sie dir vorstellen, jeden einzeln.«
»Erzähl mir zuerst von ihnen.«
»Also, das hübsche Paar dort drüben sind Harry Haydock und seine Frau Juanita. Harrys Vater gehört der Bon Ton zum größten Teil, aber Harry leitet ihn und bringt Schwung in die Sache. Er ist ein flotter Geschäftsmann. Neben ihm ist Dave Dyer, der Drogist – du hast ihn am Nachmittag kennengelernt – ein fabelhafter Entenschütze. Der Riese neben ihm ist Jack Elder – Jackson Elder – dem gehört die Hobelwerkstatt, das Minniemashie-Hotel und 'n ziemlich großer Anteil an der Bauern-Nationalbank. Er und seine Frau sind feine Kerle – er und Sam und ich gehen viel miteinander jagen. Der alte Käse dort ist Luke Dawson, der reichste Mann in der Stadt. Neben ihm sitzt Nat Hicks, der Schneider.«
»Wirklich, ein Schneider?«
»Freilich, warum nicht? Vielleicht sind wir nicht ganz modern, aber demokratisch sind wir. Ich geh mit Nat ebenso gern jagen wie mit Jack Elder.«
»Das ist nett. Ich habe noch nie einen Schneider in Gesellschaft kennengelernt. Es muß angenehm sein, einen Schneider zu sehen und nicht immer daran denken zu müssen, was man ihm schuldig ist. Und gehst du – Würdest du mit deinem Friseur auch auf die Jagd gehen?«
»Nein, aber – Es hat doch keinen Sinn, diese demokratischen Sachen zu übertreiben. Übrigens, ich kenn' Nat seit Jahren und außerdem ist er ein ausgezeichneter Schütze, und – Also, so ist die Sache, verstehst du? Neben Nat ist Chet Dashaway. Ein großer Redner vor dem Herrn. Der redet dir ein Loch, über Religion und Politik und Bücher und alles.«
Carola warf einen höflichen, nahezu interessierten Blick auf Herrn Dashaway, einen braungebrannten Menschen mit großem Mund. »Oh, ich weiß! Er ist der Mann vom Möbelladen!« Sie war sehr zufrieden mit sich.
»Ja, und er ist auch der Leichenbestatter. Er wird dir gefallen. Komm, gib ihm mal die Hand.«
»Ach nein, nein! Er macht doch – er macht doch nicht das Einbalsamieren und alle die Sachen selber? Ich könnt' einem Leichenbestatter nicht die Hand geben!«
»Warum denn nicht? Du wärst stolz darauf, einem großen Chirurgen die Hand zu geben, gleich nachdem er jemand den Bauch aufgeschnitten hat!«
Sie suchte ihre reife Besonnenheit vom Nachmittag wiederzugewinnen. »Ja. Du hast recht. Ich möchte, ach, Lieber, weißt du, wie ich mir wünsche, die Leute gern zu haben, die du gern hast? Ich möchte die Leute so sehen, wie sie sind.«
»Schön, dann denk' aber auch daran, in den Menschen dasselbe zu sehen wie andere Leute! Sie haben was los. Weißt du, daß Percy Bresnahan von hier ist? Hier geboren und aufgewachsen!«
»Bresnahan?«
»Ja – du weißt – der Generaldirektor von der Velvet Motor Company in Boston – die den Velvet-Zwölf-Zylinder macht – die größte Automobilfabrik in Neu-England!«
»Ich glaube, ich hab' von ihm gehört.«
»Aber sicher. Ja, der ist vielfacher Millionär! Also, Percy kommt fast jeden Sommer zum Fischen her, und er sagt, wenn ihn das Geschäft freigäbe, würd' er lieber hier leben als in Boston oder New York oder sonstwo. Er macht sich nichts draus, daß Chet Leichenbestatter ist.«
»Bitte! Ich will – ich will alle gern haben! Ich will zu der ganzen Gesellschaft nett sein!«
Er führte sie zu den Dawsons.
Luke Dawson, der Geld auf Hypotheken verlieh und neugerodetes Land im Norden besaß, war ein unsicherer Mann in einem ungebügelten taubengrauen Anzug, er hatte vorquellende Augen in einem milchweißen Gesicht. Die Wangen seiner Frau waren farblos, farblos waren ihr Haar, ihre Stimme und ihr Benehmen. Sie trug ihr teures grünes Kleid mit der bortenbesetzten Taille, mit Troddeln und mit klaffenden Stellen zwischen den Knöpfen am Rücken, als hätte sie es alt gekauft und fürchtete, die frühere Besitzerin zu treffen. Sie waren schüchtern. ›Professor‹ George Edwin Mott, der Schulinspektor, ein braungebrannter chinesischer Mandarin, hielt Carola bei der Hand und hieß sie willkommen.
Als die Dawsons und Herr Mott behauptet hatten, sie wären »entzückt, sie kennenzulernen«, schien alles gesagt zu sein, aber die Konversation lief automatisch weiter.
»Gefällt Ihnen Gopher Prairie?« winselte Frau Dawson.
»Oh, ich bin überzeugt, ich werde sehr glücklich hier sein.«
»Es sind so viel nette Leute hier.« Frau Dawson suchte mit einem Blick bei Herrn Mott gesellschaftliche und intellektuelle Hilfe. Er ließ sich vernehmen:
»Das ist hier eine feine Menschenklasse. Wissen Sie schon, daß Percy Bresnahan aus unserer Stadt stammt? Er ist hier in die Schule gegangen, als noch das alte Gebäude stand!«
»Ich habe davon gehört.«
»Ja. Er ist ein großartiger Mann. Wir, er und ich, haben zusammen gefischt, als er das letztemal hier war.«
Die Dawsons und Herr Mott schwankten auf müden Beinen und lächelten Carola mit erstarrten Mienen zu. Sie setzte das Gespräch fort:
»Sagen Sie, Herr Mott, haben Sie schon einmal Versuche mit einem von den neuen Erziehungssystemen gemacht? Mit den modernen Kindergartenmethoden oder dem Gary-System?«
»Oh, die. Die meisten Leute, die sich als Reformer aufspielen, sind ganz einfach Menschen, die bekannt werden wollen. Ich halte was vom Handfertigkeitsunterricht, aber Latein und Mathematik werden immer das Rückgrat eines gesunden Amerikanismus sein, was auch diese Theoretiker sonst empfehlen wollen – weiß der Himmel, was die alles wünschen, stricken, glaub' ich, und Unterricht im Ohrenwackeln!«
Die Dawsons lächelten voll Anerkennung dafür, daß sie einem Weisen lauschen durften. Carola wartete darauf, daß Kennicott sie befreite. Der Rest der Gesellschaft wartete auf das Wunder, sich zu unterhalten.
Harry und Juanita Haydock, Rita Simons und Dr. Terry Gould – die jungen flotten Leute Gopher Prairies. Sie wurde ihnen zugeführt. Juanita Haydock begann mit ihrer hohen, schnatternden, freundlichen Stimme:
»Also, es ist ja so nett, daß wir Sie hier haben. Wir werden uns gut unterhalten – tanzen und alles mögliche. Sie werden in die ›Lustige Siebzehn‹ eintreten müssen. Wir spielen Bridge und haben einmal im Monat ein Abendessen. Sie spielen doch natürlich?«
»Wirklich? In St. Paul?«
»Ich bin immer so ein Bücherwurm gewesen.«
»Wir werden's Ihnen beibringen müssen. Bridge ist fast das netteste, was es gibt.« Juanita hatte zu begönnern angefangen und warf jetzt einen respektlosen Blick auf Carolas goldene Schärpe, die sie vorher bewundert hatte.
Harry Haydock fragte höflich: »Was glauben Sie, wie wird es Ihnen in unserem alten Nest gefallen?«
»Ich bin überzeugt, es wird mir ausgezeichnet gefallen.«
»Die besten Leute von der Welt hier. Und auch sehr tüchtige Menschen. Natürlich hab' ich sehr oft Gelegenheit gehabt, nach Minneapolis zu übersiedeln. Aber es gefällt uns hier. Wissen Sie, daß Percy Bresnahan von hier ist?«
Carola bemerkte, daß sie durch das Eingeständnis ihrer Bridgeunkenntnis eine kleine Niederlage im Kampf ums Leben erlitten hatte. Von dem nervösen Wunsch getrieben, ihre Stellung zurückzugewinnen, wandte sie sich an Dr. Terry Gould, den jungen billardspielenden Konkurrenten ihres Mannes. Ihre Augen kokettierten mit ihm, während sie sagte:
»Ich will Bridge lernen. Aber was ich wirklich liebe, das ist die freie Natur. Können wir nicht alle eine Kahnpartie machen und fischen, oder was man sonst tut, und nachher ein Picknick veranstalten?«
»Das ist mal ein Wort!« bestätigte Dr. Gould. Er blickte etwas zu unverhohlen auf die glatte Kurve ihrer Schulter.
»Fischen Sie gern? Mir ist das Fischen das Liebste auf der Welt. Ich werd' Ihnen das Bridge beibringen. Spielen Sie überhaupt gern Karten?«
»Ich habe mal ziemlich gut Bésigue gespielt.«
Sie wußte, daß Bésigue ein Kartenspiel sei – oder irgendein anderes Spiel. Vielleicht auch Roulette. Aber ihre Lüge war ein Triumph. Auf Juanitas hübschem Pferdegesicht mit den lebhaften Farben zeigte sich Unsicherheit. Harry fuhr sich über die Nase und fragte demütig: »Bésigue? Das ist doch ein Hasardspiel, nicht?«
Während noch andere sich zu ihrer Gruppe schlugen, belebte Carola die Konversation. Sie lachte, war leichtfertig und ziemlich unsicher. Sie konnte die Augen der Leute nicht sehen. Sie bildeten ein verschwommenes Theaterauditorium, vor dem sie ganz bewußt die Komödie spielte, die kluge kleine Frau Doktor Kennicotts zu sein:
»Ja, die berühmte freie Natur, die suche ich. Ich will nie wieder etwas lesen außer dem Sportteil der Zeitung. Will hat mich auf unserem Colorado-Trip bekehrt. Es waren so viele Touristchen da, die Angst davor hatten, aus dem Autobus zu steigen, daß ich beschloß, Annie Oakley, der Wildwest-Vampyr, zu werden, und ich hab' mir, oh! ein schreckliches Kleid gekauft, das meine reizenden Fesseln den Presbyterianerblicken aller Provinzschullehrerinnen gezeigt hat, und bin von Fels zu Fels gesprungen wie eine Gemse, und – Sie halten Doktor Kennicott vielleicht für einen Nimrod, aber Sie hätten ihn sehen sollen, wie ich ihn dazu gebracht habe, sich ganz auszuziehen und in einem eiskalten Gebirgsbach zu schwimmen.«
Sie wußte, daß ihre Zuhörer daran dachten, empört zu werden, aber Juanita Haydock bewunderte sie wenigstens. Sie schwadronierte weiter:
»Ich weiß ja, daß ich Wills Ruf als anständiger Doktor untergrabe – ist er ein guter Arzt, Doktor Gould?«
Kennicotts Rivale schnappte bei diesem Angriff auf die Berufsmoral nach Luft, es dauerte eine ziemliche Weile, bis er seine Höflichkeit wiedergewann. »Ich will Ihnen etwas sagen, Frau Kennicott.« Er lächelte Kennicott zu, um zu verstehen zu geben, daß alles, was er in seiner Bemühung, witzig zu sein, auch sagen mochte, im medico-kommerziellen Krieg nicht gegen ihn sprechen sollte. »Es gibt ein paar Leute in der Stadt, die sagen, daß der Doktor ein ganz brauchbarer mittelmäßiger Diagnostiker und Rezepteverschreiber ist, aber ich will Ihnen ins Ohr sagen – und erzählen Sie ihm um Gottes willen nichts davon – man wendet sich nie mit etwas Ernsthafterem an ihn, als mit einer Appendektomie am linken Ohr oder einem Strabismus des Cardiographen.«
Niemand außer Kennicott wußte, was das heißen sollte, aber man lachte. Carola merkte, daß George Edwin Mott und das farblose Ehepaar Dawson noch nicht hypnotisiert waren. Sie sahen aus, wie wenn sie nicht wüßten, ob sie so aussehen sollten, als wären sie nicht zufrieden. Sie wandte sich ihnen zu:
»Aber ich weiß, mit wem ich mich nicht getraut hätte, nach Colorado zu gehen! Mit Herrn Dawson! Ich bin überzeugt, der ist ein regelrechter Herzensknicker. Als ich ihm vorgestellt worden bin, hat er meine Hand festgehalten und fürchterlich gedrückt.«
»Ha! Ha! Ha!« Die ganze Gesellschaft applaudierte. Herr Dawson war selig. Er hatte schon viele Namen bekommen – Wucherer, Schinder, Geizkragen, Schleicher – aber einen Poussierstengel hatte ihn noch niemand genannt.
»Er ist ein ganz schlechter Kerl, nicht wahr, Frau Dawson. Müssen Sie ihn nicht einsperren?«
»Ach nein, aber vielleicht wäre 's doch besser«, versuchte Frau Dawson zu scherzen, und ihr bleiches Gesicht rötete sich sanft.
Fünfzehn Minuten hielt Carola es aus. Sie erklärte, sie wolle eine komische Oper aufführen, Café Parfait sei ihr lieber als Beefsteak, sie hoffe, Dr. Kennicott werde nie verlernen, reizenden Frauen den Hof zu machen, und sie besitze ein Paar Goldstrümpfe. Man riß den Mund auf und wollte mehr hören. Aber sie konnte nicht weiter. Sie zog sich auf einen Sessel hinter Sam Clarks breitem Rücken zurück. Die Lachfältchen auf den Gesichtern aller anderen, die an der Unterhaltung mitarbeiteten, glätteten sich feierlich, wieder standen sie herum und hofften, erwarteten aber nicht mehr, sich zu vergnügen.
Carola lauschte. Sie entdeckte, daß es so etwas wie Konversation in Gopher Prairie nicht gab. Sogar bei dieser Gelegenheit, welche die flotten jungen Leute, die jagenden Edelmänner, die wohlanständigen Intellektuellen und die soliden Finanzmänner aufbot, saßen sie bei dem Fest wie bei einer Leiche.
Juanita Haydock redete ziemlich viel mit ihrer knarrenden Stimme, aber es war immer wieder Klatsch: das Gerücht, daß Raymie Wutherspoon ein Paar Lackschuhe mit grauen Knopfeinsätzen bestellen, werde; der Rheumatismus Champ Perrys; der Zustand von Guy Pollocks Grippe und die Verrücktheit Jim Howlands, seinen Zaun lachsrosa zu streichen.
Sam Clark hatte sich mit Carola über Automobile unterhalten, aber er war sich seiner Pflichten als Gastgeber bewußt. Während er langsam sprach, stiegen seine Augenbrauen auf und nieder. Er unterbrach sich selbst: »Ich muß Leben in die Leute bringen.« Er fragte seine Frau: »Meinst du nicht auch?« Er stapfte in die Mitte des Zimmers und rief:
»Es muß einer was zum besten geben, Herrschaften.«
»Ja, los!« kreischte Juanita Haydock.
»Hören Sie, Dave, machen Sie doch die Sache mit dem Norweger, der die Henne fängt.«
»Klar; das ist eine feine Nummer; machen Sie's, Dave!« frohlockte Chet Dashaway.
Herr Dave Dyer war so freundlich.
Alle Gäste bewegten die Lippen in der Erwartung, nach ihren eigenen Spezialitäten gefragt zu werden.
»Ella, kommen Sie, tragen Sie für uns ›Mein süßes Lieb‹ vor«, bat Sam.
Fräulein Ella Stowbody, die jungfräuliche Tochter der Bank, rieb ihre trockenen Handflächen aneinander und errötete: »Ach, ihr wollt das alte Zeug doch nicht wieder hören.«
»Und ob wir wollen! Na klar!« versicherte Sam.
»Ich bin heute abend nicht bei Stimme.«
»Papperlapapp! Fangen Sie an!«
Sam erklärte Carola laut: »Ella ist unser großes Tier im Rezitieren. Sie hat eine richtige Berufsausbildung gehabt. Sie hat ein Jahr Gesang, Redekunst, Schauspielkunst und Stenographie in Milwaukee studiert.«
Fräulein Stowbody trug vor. Als Zugabe brachte sie nach »Meinem süßen Lieb« ein außerordentlich optimistisches Gedicht über den Wert des Lächelns.
Es folgten vier weitere »Nummern«: eine jüdische, eine irische, eine Kindersache und Nat Hicks Parodie auf Marc Antons Leichenrede.
Im Verlauf des Winters hörte Carola Dave Dyers »Hennenfang« siebenmal, »Mein süßes Lieb« neunmal, die jüdische Geschichte und die Leichenrede zweimal, aber jetzt war sie voll Eifer, und weil sie glücklich und einfältig sein wollte, war sie ebenso enttäuscht wie die anderen, als die Darbietungen vorüber waren und die Gesellschaft unverzüglich wieder in ihre Schlafsucht zurücksank.
Sie gaben es auf, festlich sein zu wollen; sie begannen natürlich zu reden, wie sie es daheim und in ihren Geschäften taten.
Männer und Frauen trennten sich, worauf sie schon den ganzen Abend gewartet hatten. Carola wurde von den Männern verlassen und einer Gruppe von Matronen übergeben, die geruhig von Kindern, Krankheiten und Köchinnen plapperten. Sie ärgerte sich. Es fiel ihr wieder ein, daß sie sich in Visionen als elegante verheiratete Frau in einem Salon mit klugen Männern Wortgefechte führen gesehen hatte. Ihre Niedergeschlagenheit wurde von der Überlegung abgelöst, was die Männer wohl in der Ecke zwischen dem Klavier und dem Grammophon besprechen mochten. Erhoben sie sich über diesen Hausfrauenklatsch zu einer größeren Welt abstrakter Gedanken und wichtiger Angelegenheiten?
Sie machte Frau Dawson ihre schönste Verbeugung, sie zwitscherte: »Ich will nicht, daß mein Mann so bald schon wo anders ist als ich! Ich gehe hinüber und ziehe ihn an den Ohren.« Sie erhob sich mit einem Jungmädchenknicks, ging quer durch das Zimmer und setzte sich zum interessierten Wohlgefallen aller, die es sahen, auf die Lehne von Kennicotts Stuhl.
Er plauderte mit Sam Clark, Luke Dawson, Jackson Eider von der Hobelwerkstatt, Chet Dashaway, Dave Dyer, Harry Haydock und Ezra Stowbody, dem Bankdirektor.
Ezra Stowbody gehörte zu den Ureinwohnern. Er war im Jahre 1865 nach Gopher Prairie gekommen. Er war ein vornehmer Raubvogel – geschwungene schmale Nase, dünne Lippen, starke Augenbrauen, Portweinwangen, eine weiße Haarmähne, hochmütige Augen. Er war nicht zufrieden mit den sozialen Veränderungen der letzten dreißig Jahre. Vor drei Jahrzehnten waren Dr. Westlake, der Rechtsanwalt Julius Flickerbaugh, der Kongregationalistenpastor Merriman Peedy und er selbst die Führer gewesen. Das war, wie es sein sollte; die schönen Künste – Medizin, Jus, Religion und Finanz – als aristokratisch anerkannt; vier Yankees, die mit den Leuten aus Ohio und Illinois und mit den Schweden und Deutschen, die es riskiert hatten, mit ihnen zu kommen, wohl demokratisch plauderten, sie aber auch regierten. Doch Westlake war alt, fast emeritiert; Julius Flickerbaugh hatte viel von seiner Praxis an tätigere Anwälte verloren, Reverend Peedy war tot; und kein Mensch in diesem miserablen Zeitalter der Automobile hatte Interesse für die »schnellen Grauschimmel«, die Ezra noch immer fuhr. Die Stadt war ebenso in zwei verschiedene Hälften gespalten wie Chicago. Norweger und Deutsche besaßen Läden. Die Führer der Gesellschaft waren gewöhnliche Kaufleute. Nägelverkaufen galt als ebenso heilig wie Bankier sein. Diese Emporkömmlinge – die Clarks, die Haydocks – hatten keine Würde. In der Politik waren sie vernünftig und konservativ, aber sie redeten von Automobilen, Luftdruckgewehren und, weiß der Himmel, was für anderen neumodischen Firlefanzereien. Herr Stowbody kam sich bei ihnen nicht heimisch vor. Aber sein Ziegelhaus mit dem Mansardendach war immer noch das größte Gebäude in der Stadt, und er bewahrte sich seine Position als Edelmann, indem er unter den jüngeren Leuten auftauchte und sie durch einen frostigen Blick daran erinnerte, daß ohne den Bankier keiner von ihnen sein ordinäres Geschäft fortführen könnte.
Als Carola dem Anstand trotzte, indem sie sich zu den Männern setzte, fragte Herr Stowbody gerade Herrn Dawson: »Sagen Sie, Luke, wann hat Biggins sich im Winnebagohof niedergelassen? War das nicht achtzehnhundertneunundsiebzig?«
»Aber nein, gar keine Spur!« Herr Dawson war empört. »Er ist achtzehnhundertsiebenundsechzig – nein, warten Sie, achtzehnhundertachtundsechzig muß es gewesen sein – aus Vermont gekommen und hat sich einen Claim am Rum River genommen, ein ziemliches Stück oberhalb von Anoka.«
»Gar keine Rede!« schrie Herr Stowbody. »Er hat sich zuerst in Blue Earth angesiedelt, er und sein Vater!«
(»Wovon reden sie denn?« fragte Carola flüsternd Kennicott.)
(»Ob der alte Biggins einen englischen Setter oder einen anderen Hund gehabt hat. Sie streiten schon den ganzen Abend drüber!«)
Dave Dyer unterbrach sie, um zu berichten: »Hab' ich euch schon erzählt, daß Clara Biggins vor ein paar Tagen hier war? Sie hat sich eine Wärmflasche gekauft – eine teure noch dazu – zwei Dollar und dreißig Cents!«
»Ja!« schnaubte Herr Stowbody. »'türlich. Sie ist genau so, wie ihr Großvater war. Nie einen Cent sparen. Zwei Dollar und zwanzig – dreißig waren's, nicht? – zwei Dollar und dreißig Cents für eine Wärmflasche! Ein Ziegel in einem Flanellunterrock ist genau so gut! Mindestens!«
»Was machen Ellas Mandeln?« gähnte Chet Dashaway.
Während Herr Stowbody einen somatischen und psychischen Abriß darüber lieferte, überlegte Carola: »Haben sie wirklich solches Interesse für Ellas Mandeln, oder auch für Ellas Speiseröhre? Ob ich sie wohl vom Klatsch abbringen könnte? Ich will's mal probieren.«
»Hier hat es nicht viel Arbeiterunruhen gegeben, nicht wahr, Herr Stowbody?« fragte sie unschuldig.
»Nein, Ma'am, Gott sei Dank, wir sind davon verschont geblieben, abgesehen vielleicht von den Dienstmädchen und den Landarbeitern. Es gibt Scherereien genug mit den ausländischen Landarbeitern und den Farmern. Wenn man die Schweden nicht im Auge behält, kehren sie einem im Augenblick den Sozialisten, den Populisten oder sonst etwas Albernes hervor. Natürlich, wenn sie Kreditschulden haben, kann man sie zur Vernunft bringen. Dann lass' ich sie ganz einfach zu einer Unterredung in die Bank kommen und erzähl' ihnen ein paar Sachen. Ich hab' nichts dagegen, daß sie Demokraten sind, gar nichts, aber Sozialisten kann ich hier in der Gegend nicht brauchen. Aber, Gott sei Dank, wir haben hier nicht die Arbeiterunruhen, wie sie in den Städten waren. Sogar Jack Eider kommt mit seinen Leuten in der Hobelwerkstatt ganz gut aus. Nicht wahr, Jack?«
»Ja. Freilich. Ich brauch' nicht allzuviel tüchtige Arbeiter bei mir, und meistens sind's ja diese verrückten, lohntreibenden, halbgrünen gelernten Mechaniker, die Unruhen anfangen – lesen eine Menge von der anarchistischen Literatur und Gewerkschaftszeitungen und so weiter.«
»Halten Sie etwas von den Gewerkschaften?« fragte Carola Herrn Eider.
»Ich? O nein! Die Sache ist so: ich hab' gar nichts dagegen, mit meinen Leuten zu verhandeln, wenn sie glauben, daß sie irgendwelche Sorgen haben – obwohl der Himmel wissen mag, was heute über die Arbeiter gekommen ist – sie haben für einen guten Posten nichts übrig. Aber trotzdem, wenn sie anständig zu mir kommen, als ein Mann zum anderen, besprech' ich alles mit ihnen. Aber ich will nichts mit Leuten von außerhalb zu tun haben, mit solchen Gewerkschaftsbevollmächtigten, oder mit was für komischen Namen sie sich jetzt nennen – mit der ganzen Blase von reichen Schmarotzern, die von den unwissenden Arbeitern leben! Ich will mir nicht gefallen lassen, daß einer von den Kerlen seine Nase reinsteckt und mir erzählt, wie ich mein Geschäft leiten soll.«
Herr Elder wurde immer erregter, immer kriegerischer und patriotischer. »Ich bin für Freiheit und verfassungsmäßige Rechte. Wenn einem mein Leben nicht paßt, kann er zusammenpacken und gehen. Und genau so, wenn er mir nicht paßt, geht er. Und damit ist die Sache erledigt. Ich kann ganz einfach alle die Komplikationen, das Hin und Her und die Regierungsberichte, die Lohntarife und, weiß Gott, was die Kerle sonst noch alles erfinden, das kann ich alles nicht verstehen, wo doch alles so einfach ist. Den Leuten ist recht, was ich ihnen bezahl', oder sie gehen. Damit ist die Sache erledigt!«
»Was halten Sie von der Gewinnbeteiligung?« wagte Carola zu fragen.
Herr Elder donnerte seine Antwort heraus, und die anderen nickten dazu, feierlich und im gleichen Rhythmus wie Gelenkpuppen in einem Schaufenster, komische Mandarine und Richter, Enten und Clowns, die ein Luftzug durch die offene Tür in Bewegung gesetzt hat:
»Diese ganze Profitbeteiligung, Wohltätigkeitsarbeit, Versicherung und Altersrente ist ganz einfach Mist. Das schwächt die Unabhängigkeit des Arbeiters und frißt eine Menge von ehrlichem Einkommen auf. Die halbausgebackenen Denker, die noch nicht trocken hinter den Ohren sind, und diese Frauenrechtlerinnen und, Gott weiß, was für Revolutionäre sonst noch, die einem Geschäftsmann erzählen wollen, wie er sein Geschäft führen soll, und ein paar von den Collegeprofessoren sind genau so schlimm, die ganze Blase miteinander ist nichts weiter als verkleideter Sozialismus! Und es ist meine verdammte Pflicht und Schuldigkeit als Unternehmer, jedem Angriff auf die Integrität der amerikanischen Industrie bis zum letzten Atemzug Widerstand zu leisten. Jawohl, Herrschaften!«
Herr Elder trocknete sich die Stirn.
Dave Dyer fügte hinzu:
»Freilich! Selbstverständlich! Man sollte ganz einfach jeden einzelnen von diesen Agitatoren aufhängen, und damit wäre die ganze Sache in Ordnung gebracht. Glauben Sie nicht auch, Doktor?«
»Selbstverständlich«, stimmte Kennicott zu.
Die Konversation hatte sich endlich von Carolas lästigen Einmischungen befreit, man ließ sich wieder behaglich nieder und untersuchte die Frage, ob der Friedensrichter jenen betrunkenen Vagabunden auf zehn oder auf zwölf Tage ins Loch gesteckt habe. Es war eine Angelegenheit, die nicht leicht zu klären war. Dann erzählte Dave Dyer von seinen munteren Abenteuern auf der Wanderfahrt:
»Ja. Ich hab' schon was aus der Karre rausgeholt. Vorige Woche bin ich nach Neu-Württemberg rausgefahren. Das sind dreiundvierzig – nein, wollen mal nachrechnen: siebzehn Meilen sind's bis Belldale und an die sechsdreiviertel, sagen wir sieben, nach Torgenquist, und von da sind noch gute neunzehn Meilen bis Neu-Württemberg – siebzehn und sieben und neunzehn, das macht, äh, wollen mal sehen: siebzehn und sieben ist vierundzwanzig, plus neunzehn, na, sagen wir, plus zwanzig, das macht vierundvierzig, also, na, sagen wir ungefähr drei- bis vierundvierzig Meilen von hier bis Neu-Württemberg. Um sieben fünfzehn sind wir losgefahren, wahrscheinlich war's sieben zwanzig, weil ich anhalten und den Kühler füllen mußte, und dann sind wir gefahren, immer mit 'ner anständigen gleichmäßigen Geschwindigkeit –«
Herr Dyer gelangte schließlich, aus Gründen und zu Zwecken, die zugestanden und berechtigt gefunden wurden, nach Neu-Württemberg.
Einmal – ein einziges Mal – nahm man von der Anwesenheit der fremden Carola Notiz. Chet Dashaway beugte sich zu ihr und fragte asthmatisch: »Sagen Sie, haben Sie den Fortsetzungsroman ›Zwei auf der Fahrt‹ gelesen? Blendende Sache!«
Die anderen versuchten, literarische Mienen aufzusetzen. Harry Haydock sagte: »Juanita liest eine ganze Menge erstklassige Sachen. Feine Bücher. Aber ich,« er sah sich wichtig um wie jemand, der davon überzeugt ist, daß vor ihm noch kein Held sich in einer so absonderlichen und mißlichen Lage befunden hätte, »ich hab' so lausig viel zu tun, daß mir keine Zeit zum Lesen bleibt.«
»Ich les' überhaupt nie was, solang ich mich dagegen wehren kann«, sagte Sam Clark.
Damit endete der literarische Teil der Konversation, und sieben Minuten lang zählte Jackson Elder Gründe für seine Annahme auf, daß der Hechtfang an der Westküste des Minniemashiesees besser sei als im Osten – obwohl sich andererseits durchaus nicht leugnen lasse, daß Nat Hicks einen wirklich großartigen Hecht an der Ostküste gefangen habe.
Das Gespräch ging weiter. Es ging wirklich weiter! Die Stimmen waren dick, monoton, laut. Alle waren voll derber Pomphaftigkeit wie Männer in den Raucherabteilen von Pullmanwagen. Sie langweilten Carola nicht. Sie erschreckten sie. Sie keuchte innerlich: »Sie wollen nett zu mir sein, weil mein Mann zu ihrem Stamm gehört. Gott steh' mir bei, wenn ich ein Outsider sein sollte.«
Mit einem gleichmäßigen Lächeln wie eine Elfenbeinfigurine saß sie still da, vermied es, zu denken, blickte sich im Wohnzimmer und in der Diele um, sah die phantasielose Zurschaustellung kaufmännischer Wohlhabenheit. Kennicott sagte: »Blendende Einrichtung, was? So stell' ich mir vor, daß 'ne Wohnung möbliert sein muß. Modern.« Sie machte eine höfliche Miene und betrachtete die geölten Fußböden, die Hartholztreppe, den unbenützten Kachelkamin, der wie braunes Linoleum aussah, die geschliffenen Vasen, die auf kleinen Deckchen standen, und die versperrten, fest verschlossenen häßlichen Einheitsbücherschränke, die zur Hälfte mit Raufboldromanen und ungelesenen Ausgaben von Dickens, Kipling, O. Henry und Elbert Hubbard angefüllt waren.
Sie bemerkte, daß es nicht einmal mehr dem Klatsch gelang, die Gesellschaft aufrechtzuerhalten. Das Zimmer füllte sich mit Unschlüssigkeit wie mit einem Nebel. Man räusperte sich, versuchte ein Gähnen zu unterdrücken. Die Männer arbeiteten an ihren Manschetten herum, und die Frauen steckten sich die Kämme fester in die Haarknoten.
Dann ein Geräusch, kühne Hoffnung in allen Augen, eine Tür öffnete sich, der Geruch von starkem Kaffee, Dave Dyers miauende Stimme triumphierte: »Das Essen!« Man begann zu plaudern, man hatte etwas zu tun, man konnte sich selbst entrinnen, man fiel über das Essen her – belegte Brote mit kaltem Huhn, Kuchen, Gefrorenes aus der Drogerie. Sogar als das Essen vorbei war, blieb man heiter. Man konnte jetzt jederzeit nach Hause, zu Bett gehen!
Man ging, Mäntel raschelten, Tücher rauschten, man sagte sich Adieu.
Carola und Kennicott gingen heim.
»Haben sie dir gefallen?« fragte er.
»Sie waren schrecklich lieb zu mir.«
»Ach, Carrie – du solltest bißchen vorsichtiger sein und die Leute nicht so shockieren. Von Goldstrümpfen reden und erzählen, daß du deine Fesseln Schullehrerinnen gezeigt hast, und das alles!« Sanfter: »Du hast sie gut amüsiert, aber an deiner Stelle würd' ich drauf achtgeben. Juanita Haydock ist so eine verdammte Katze. Ich würd' ihr keine Gelegenheit zum Kritteln geben.«
»Meine armselige Anstrengung, zur Unterhaltung beizutragen! War's nicht richtig von mir, daß ich versucht habe, sie zu amüsieren?«
»Aber nein! Nein! Schatz, ich hab' nichts sagen wollen – du warst der einzige vernünftige Mensch in der Gesellschaft. Ich meine nur – red' nicht von Beinen und lauter so unmoralischen Sachen. Das sind ziemlich konservative Leute.«
Sie war still, der Gedanke, daß der aufmerksame Kreis Kritik an ihr geübt, über sie gelacht haben könnte, kränkte sie.
»Mach dir keine Gedanken, bitte!« flehte er.
Schweigen.
»Weiß Gott, es tut mir leid, daß ich davon geredet hab'. Ich wollte nur sagen – aber sie waren ja ganz verrückt nach dir. Sam hat zu mir gesagt: ›Ihre kleine Dame ist die netteste Person, die überhaupt zu uns in die Stadt gekommen ist‹, hat er gesagt. Und Ma Dawson – ich hab' mir gar nicht vorstellen können, ob du ihr gefallen wirst oder nicht, sie ist so ein vertrocknetes altes Huhn – aber sie hat gesagt: ›Ihre junge Frau ist so lebendig und lustig, ich sage Ihnen, sie hat mich ganz einfach aufgeweckt.‹«
Carola liebte es, gelobt zu werden, sie liebte den Duft des Lobes, aber sie tat sich so energisch leid, daß sie an dieser Belobung keinen Geschmack finden konnte.
»Bitte! Komm! Sei wieder lustig!« Seine Lippen sagten es, seine ängstliche Schulter sagte es, der Arm, den er um sie gelegt hatte, sagte es, als sie am finsteren Eingang ihres Hauses stehenblieben.
»Macht es dir was, wenn sie mich für oberflächlich halten, Will?«
»Mir? Ho, mir würde nichts dran liegen, wenn die ganze Welt denkt, daß du dies oder das oder irgendwas bist. Du bist mein – also du bist meine Seele!«
Er war eine unbestimmte Masse, sah so fest aus wie ein Fels. Sie fand seinen Ärmel, faßte ihn, rief: »Ich bin froh! Es ist schön, wenn man gebraucht wird! Du mußt dich mit meiner Leichtfertigkeit abfinden. Du bist alles, was ich habe!«
Er hob sie auf, trug sie ins Haus, und als seine Arme um ihren Hals waren, vergaß sie die Hauptstraße.