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Sechstes Kapitel

1

Gopher Prairie arbeitete angestrengt für den Winter. Ende November und den ganzen Dezember schneite es täglich; das Thermometer zeigte Null Grad und konnte auf zwanzig oder dreißig Grad Kälte fallen. Der Winter ist im nördlichen Mittelwesten keine Jahreszeit, er ist eine Industrie. Vor jeder Tür werden Schneewehren aufgerichtet. In jedem Block sah man die Hausbesitzer – Sam Clark, den reichen Herrn Dawson, alle außer dem asthmatischen Ezra Stowbody, der extravagant genug war, einen Jungen dafür anzustellen – gefährliche Leitern hinaufsteigen, Winterfenster herbeibringen und sie in den Gewänden im zweiten Stock einschrauben. Während Kennicott seine Fenster einsetzte, tanzte Carola drinnen in den Schlafzimmern umher und bat ihn, die Schrauben nicht zu verschlucken, die er wie ein absonderliches falsches Gebiß im Mund hatte.

Das allgemeine Wintersignal war das Faktotum der Stadt – Miles Bjornstam, ein großer, dicker Junggeselle mit rotem Schnurrbart, überzeugter Atheist, Polemiker in allen Läden, ein zynischer St. Nikolaus. Die Kinder liebten ihn, und er schlich sich von der Arbeit weg, um ihnen unwahrscheinliche Geschichten vom Pferdehandel, von Seefahrten und Bären zu erzählen. Die Eltern der Kinder lachten entweder über ihn oder haßten ihn. Er war der einzige Demokrat in der Stadt. Er rief sowohl Lymann Cass, den Müller, wie den finnischen Heimstättner vom Verlorenen See beim Vornamen. Er war als der »Rote Schwede« bekannt und wurde für nicht ganz normal gehalten.

Bjornstam konnte mit seinen Händen alles machen – Pfannen löten, Automobilfedern schweißen, erschrockene Fohlen beruhigen, an Uhren basteln, Schiffe schnitzen, die zauberhafterweise in Flaschen gingen. Jetzt war er auf eine Woche Generalkommissar von Gopher Prairie. Er war außer dem Monteur bei Sam Clark der einzige Mensch in der Stadt, der sich aufs Installieren verstand. Alles bat ihn, die Heizungen und die Wasserleitungsrohre nachzusehen. Er eilte bis in den späten Abend, bis zehn Uhr, von Haus zu Haus. Eiszapfen von geborstenen Leitungsrohren hingen am Saum seines braunen Hundefellmantels; seine Plüschkappe, die er im Haus nie abnahm, war eine undefinierbare Masse aus Eis und Kohlenstaub; seine Hände waren rissig; er kaute an einem Zigarrenstummel.

Aber gegen Carola war er höflich. Er bückte sich, um die Heizung zu untersuchen; er richtete sich auf, sah an ihr herunter und stotterte: »Ihre Heizung muß ich in Ordnung bringen, ganz wurscht, was ich sonst noch zu tun hab'.«

Die Farmer kamen auf selbstgemachten Schlitten in die Stadt, in den rohen Schlittenkästen hatten sie Bettdecken und Heuballen.

Pelzmäntel, Pelzmützen, Pelzfäustlinge, Überschuhe, die fast bis an die Knie reichten, zehn Fuß lange gestrickte graue Schals, dicke Wollsocken, Segeltuchjacken, die mit weicher gelber Wolle wie mit Flaumfedern gefüttert waren, Mokassins, rote Flanellpulswärmer für die aufgesprungenen Handgelenke der Jungen – alle diese Schutzmittel gegen den Winter wurden eifrig aus den Schubläden und Schränken, in denen sie eingemottet waren, herausgezogen, und in der ganzen Stadt kreischten Jungen: »Oh, da sind meine Fäustlinge!« oder: »Sieh mal, meine Riemenschuhe!« Der keuchende Sommer und der stechend kalte Winter der Ebenen im Norden sind so scharf voneinander getrennt, daß sie mit einem Gefühl der Überraschung und des Heldenmuts diese Polarforscherausrüstung wiederentdeckten.

Die Winterkleider schlugen sogar den persönlichen Klatsch als Gesprächsthema der Gesellschaften aus dem Felde. Es gehörte zum guten Ton, zu fragen: »Tragen Sie schon Ihre warme Wäsche?« Es gab ebensoviel Unterschiede zwischen Mänteln wie zwischen Automobilen. Die Geringeren erschienen in gelbschwarzen Hundefellmänteln, Kennicott aber strahlte in einem langen Waschbärulster und einer neuen Sealkappe. Als der Schnee für sein Automobil zu tief geworden war, übte er seine Landpraxis in einem funkelnden, eleganten, verstählten Schlitten aus, und nur seine gerötete Nase und die Zigarre sahen aus dem Pelz hervor.

Carola selbst erregte in der Hauptstraße mit einem weiten Nutriamantel Aufsehen. Ihre Fingerspitzen liebten den seidigen Pelz.

Ihre Hauptbeschäftigung bestand jetzt darin, in dieser automobilwahnsinnigen Stadt sportliche Veranstaltungen im Freien zu organisieren.

Automobil und Bridge hatten nicht nur die sozialen Unterschiede in Gopher Prairie deutlicher gemacht, sie hatten auch der Liebe zur Bewegung Abbruch getan. Man sah so reich aus, wenn man dasaß und fuhr – und es war so leicht. Skilaufen und Rodeln war »idiotisch« und »altmodisch«. Das Dorf sehnte sich tatsächlich ebenso nach den eleganten Zerstreuungen der Stadt, wie die Städte nach dem ländlichen Sport; und Gopher Prairie war ebenso stolz darauf, nicht zu rodeln, wie St. Paul – oder New York – stolz darauf war, rodeln zu gehen. Mitte November veranstaltete Carola ein schönes Eisfest. Der Regenpfeifersee glitzerte in graugrünem Eis, klirrte unter den Schlittschuhen. Am Ufer klapperte das vereiste Schilf, im Wind, hingen Eichenzweige mit hartnäckigen letzten Blättern vor einem milchweißen Himmel. Harry Haydock lief Achter, und Carola war sicher, die Vollkommenheit des Lebens entdeckt zu haben. Als aber der Schnee dem Schlittschuhlaufen ein Ende machte und sie eine Schlittenpartie im Mondschein zustande bringen wollte, zögerten die Ehefrauen und wollten sich nicht von ihren Heizungen und den täglichen Bridgeimitationen der Großstadt losreißen. Sie mußte ihnen zusetzen. Sie schossen einen langen Abhang auf einem Bobsleigh hinunter, sie warfen um und bekamen Schnee in den Hals, sie riefen, sie würden es sofort wiederholen, und taten es nie wieder.

Sie plagte eine andere Gruppe, bis man Ski lief. Sie riefen, warfen Schneeballen und erzählten ihr, es sei so lustig und sie würden gleich am nächsten Tag wieder einen Skiausflug machen; sie gingen vergnügt heim und verließen nie wieder ihre Bridgeblocks.

Am Nachmittag desselben Tages wurde Kennicott über Land gerufen. Bea hatte ihren Abendausgang – ihren Ausgang für den Lutheranerball. Carola war von drei Uhr bis Mitternacht allein. Sie war es müde geworden, keusche Liebesgeschichten in den Magazinen zu lesen, saß an der Heizung und begann zu grübeln.

So kam sie darauf, daß sie nichts zu tun hatte.

2

Carola grübelte. Die Neuheit des Stadtbesichtigens und Leutekennenlernens, die Neuheit des Eislaufens, Rodelns und Jagens hatte sie hinter sich. Bea war tüchtig, es gab keine Hausarbeit außer Nähen, Stopfen und dem Plaudern, wenn sie Bea beim Bettmachen half. Ihrer Begabung zum Erfinden von Mahlzeiten konnte sie nicht Genüge tun. In Dahl & Olesons Fleischerei machte man nicht Bestellungen – man fragte ängstlich, ob es heute außer Steak, Schweinefleisch und Schinken noch etwas anderes gebe. Die Rindfleischschnitten waren keine Schnitten, sie waren Fetzen. Hammelkoteletts waren etwas ebenso Exotisches wie Haifischflossen. Die Fleischlieferanten verluden ihre beste Ware in die Städte, zu höheren Preisen.

In allen Läden gab es gleich wenig Auswahl. Sie konnte keinen Bildernagel mit Glaskopf im Ort bekommen; sie suchte nicht nach dem Schleier, den sie haben wollte – sie nahm, was sie bekam; und nur bei Howland & Gould gab es solche Luxusgegenstände wie Büchsenspargel. Ordnung und Pünktlichkeit war alles, was sie dem Haus widmen konnte. Nur mit Trödeleien, wie die der Witwe Bogart, hätte sie ihre Zeit ausfüllen können.

Sie konnte keinen Posten annehmen. Für die Frau des Dorfarztes war das tabu.

Sie war eine Frau mit arbeitendem Hirn, die keine Arbeit hatte.

Es gab nur drei Dinge, die sie tun konnte: Kinder haben; mit ihren Reformarbeiten beginnen; oder endgültig ein Teil der Stadt werden, so daß sie von Kirche, Studierklub und Bridgepartie ausgefüllt gewesen wäre.

Kinder, ja, sie wollte sie haben, aber – Sie war noch nicht ganz bereit. Sie war von Kennicotts Freimut in Verlegenheit gesetzt worden, sah aber ein, daß es in dieser wahnsinnigen Zivilisation, die das Aufziehen von Bürgern kostspieliger und gefährlicher machte als jedes andere Verbrechen, nicht ratsam sei, Kinder zu haben, bevor er mehr Geld verdient hätte. Es tat ihr leid – Vielleicht hatte er das ganze Mysterium der Liebe zu mechanischer Behutsamkeit gemacht, aber – Sie entfloh dem Gedanken mit einem fragwürdigen »Später«.

Ihre »Reformen«, ihre Wünsche zur Verschönerung der kulturlosen Hauptstraße waren unklar geworden. Aber jetzt würde sie damit anfangen. Ja, sie würde! Sie schwor es und schlug zur Bekräftigung mit ihrer zarten Faust auf die Kanten der Heizung. Und als sie mit allen Gelübden fertig war, hatte sie keine Ahnung, wann und wo der Feldzug beginnen sollte.

Wirklich ein Teil der Stadt werden? Sie begann den Gedanken in unangenehmer Klarheit zu betrachten. Sie kam darauf, daß sie gar nicht wußte, ob die Leute sie gern hätten. Sie war zu den Nachmittagskaffees der Frauen, in die Läden der Kaufleute mit so viel vorgefaßten Meinungen und Grillen gekommen, daß sie es allen unmöglich gemacht hatte, ihre Ansichten über sie zu verraten. Die Männer lächelten – aber war sie ihnen sympathisch? Sie war munter bei den Frauen – aber gehörte sie zu ihnen? Sie konnte sich nicht darauf besinnen, daß sie oft zu dem Geflüster über Skandalgeschichten zugezogen worden wäre, das der geheime Gerichtshof der Gopher-Prairie-Konversation ist.

Als sie ins Bett ging, war sie von Zweifeln vergiftet.

Am nächsten Tag setzte ihr Geist sich beim Einkaufen in Positur und beobachtete. Dave Dyer und Sam Clark waren so freundlich, wie sie gedacht hatte; aber lag nicht unpersönliche Kürze in dem »Tag« Chet Dashaways? Howland war barsch, war das nichts weiter als seine gewöhnliche Art?

»Es ist zum Verzweifeln, darauf achten zu müssen, was die Leute denken. In St. Paul hab' ich mich nicht drum gekümmert. Aber hier werde ich ausspioniert. Man beobachtet mich. Ich darf dadurch mich nicht einschüchtern lassen«, redete sie sich zu – von dem Gift des Denkens überreizt, in ihrer Verteidigung offensiv werdend.

3

Tauwetter, das den Schnee von den Bürgersteigen verschwinden ließ, eine klingende Nacht, in der man die Seen donnern hören konnte, ein klarer, geräuschvoller Morgen. In Pudelmütze und Stoffkleid kam Carola sich wie eine College-Juniorin vor, die Hockey spielen geht. Sie wollte schreien, ihre Beine wollten laufen. Am Heimweg vom Einkaufen gab sie sich nach wie ein junger Hund.

Sie galoppierte einen Block entlang, und als sie über eine Schneewasserpfütze hüpfte, stieß sie einen lauten Jubelruf aus.

Sie sah, daß in einem Fenster drei alte Weiber sie mit Blicken verschlangen. Dieser dreifache Blick war lähmend. Auf der anderen Seite der Straße, an einem anderen Fenster, hatte der Vorhang sich heimlich bewegt. Sie blieb stehen, ging ruhigen Schrittes weiter, aus dem Mädchen Carola wieder zur Frau Dr. Kennicott geworden.

Nie wieder fühlte sie sich jung und mutig und frei genug, auf den Straßen zu laufen und zu jubeln; und dem nächsten wöchentlichen Bridge der Lustigen Siebzehn wohnte sie als brave Ehefrau bei.

4

Die Lustige Siebzehn (deren Mitgliederzahl zwischen vierzehn und sechsundzwanzig wechselte) war die Krone des gesellschaftlichen Lebens von Gopher Prairie. Sie war der Landklub, die Diplomatengesellschaft, das runde Zimmer bei Ritz, der Club de Vingt. Ihr anzugehören, hieß »dabei« sein. Obgleich ein Teil ihrer Mitglieder auch dem Thanatopsis-Studierklub angehörte, verlachte die Lustige Siebzehn als Ganzes den Thanatopsis und betrachtete seine Mitglieder als Mittelklasse, und sogar als »Gescheittuer«.

Zum größten Teil waren die Angehörigen der Lustigen Siebzehn junge verheiratete Frauen, deren Ehemänner als Gäste im Klub verkehrten. Einmal wöchentlich hatten sie eine Nachmittags-Bridgepartie für Frauen, einmal im Monat sahen sie ihre Männer zum Abendessen und einer abendlichen Bridgepartie bei sich; und zweimal im Jahr tanzten sie im Saal des Ordens der ›Sonderbaren Brüder‹. Bei diesen Gelegenheiten explodierte die Stadt. Ella Stowbody war einmal sogar in der Mietskutsche der Stadt zu einer Soiree der Lustigen Siebzehn erschienen, und Harry Haydock und Dr. Terry Gould kamen immer in den beiden einzigen Frackanzügen der Stadt.

Das Nachmittagsbridge der Lustigen Siebzehn, das auf Carolas einsame Zweifel folgte, fand in Juanita Haydocks neuer Villa statt, in dem Haus mit der polierten Eichentür und den Spiegelglasfacetten, mit dem Farnkraut in der getünchten Diele, dem Lehnstuhl, den sechzehn Farbdrucken und dem viereckigen, lackierten Tisch im Wohnzimmer; auf diesem Tischchen lagen immer auf einer Decke aus Zigarrenbauchbinden ein illustriertes Geschenkwerk und ein Paket Karten in einem Lederkästchen.

Carola kam in ein überheiztes Zimmer. Man spielte bereits. Trotz ihrer matten Entschlüsse hatte sie noch immer nicht Bridge spielen gelernt. Sie entschuldigte sich deshalb auf gewinnende Weise bei Juanita und schämte sich, daß sie sich noch immer entschuldigte.

Frau Dave Dyer, eine dürftig hübsche, bleiche Frau, die sich Experimenten über Religionskulte, Krankheiten und dem Verbreiten von Skandalgeschichten hingab, drohte Carola mit dem Finger und zirpte: »Sie sind ein Nichtsnutz! Ich glaube, Sie wissen gar nicht, was für eine Ehre es für Sie ist, daß Sie so leicht in die Lustige Siebzehn kommen!«

Frau Chet Dashaway am zweiten Tisch stieß ihre Nachbarin an. Aber Carola blieb, so gut sie konnte, bei ihrer rührenden Jung-Frauenart; sie zwitscherte: »Sie haben ganz recht, ich bin ein faules Ding. Ich werde noch heute abend anfangen, mit Will zu lernen.« Innerlich tobte sie: »So, das wird wohl Sacharin genug gewesen sein.« Sie saß im kleinsten Schaukelstuhl, ein Muster victorianischer Bescheidenheit. Aber sie sah, oder bildete sich ein, daß die Frauen, die sie so überströmend begrüßt hatten, als sie nach Gopher Prairie kam, ihr jetzt nur kurz zunickten.

Während der Pause nach der ersten Partie bat sie Frau Jackson Elder: »Glauben Sie nicht, daß wir bald wieder Bobsleigh fahren sollten?«

»Es ist so kalt, wenn man in den Schnee fällt«, sagte Frau Elder gleichgültig.

»Mir ist es ekelhaft, wenn ich Schnee in den Hals krieg'«, rief Frau Dave Dyer mit einem unfreundlichen Blick auf Carola und sagte dann, ihr den Rücken kehrend, zu Rita Simons: »Liebste, wollen Sie nicht heute abend auf einen Sprung zu mir kommen? Ich hab' entzückende neue Schnittmuster bekommen, die ich Ihnen zeigen möchte.«

Carola zog sich in ihren Stuhl zurück. Im eifrigen Diskutieren über das Spiel ignorierte man sie. Sie war es nicht gewohnt, Mauerblümchen zu sein. Sie kämpfte dagegen an, überempfindlich zu werden, unbeliebt zu werden durch das unfehlbare Mittel, sich für unbeliebt zu halten; aber sie hatte keine große Reserve an Geduld, und als Ella Stowbody sie nach dem zweiten Spiel schnippisch fragte: »Werden Sie Ihr Kleid für die nächste Soirée in Minneapolis bestellen? Ich hab' so was gehört«, sagte Carola mit unnötiger Schärfe: »Ich weiß noch nicht.«

Die Bewunderung, mit der das junge Mädchen Rita Simons die Stahlschnallen an ihren Pumps betrachtete, erleichterte sie ein wenig, aber sie ärgerte sich wieder über Frau Howlands bissige Frage: »Glauben Sie nicht, daß Ihr neues Ruhebett zu breit ist, um praktisch zu sein?« Sie nickte, dann schüttelte sie den Kopf und überließ es gereizt Frau Howland, damit anzufangen, was ihr beliebte. Gleich darauf wollte sie wieder Frieden machen. Mit einer Freundlichkeit, die schon fast süßlich war, fragte sie Frau Howland: »Ich finde den Fleischextrakt, den Ihr Mann im Laden hat, ausgezeichnet.«

»O ja, Gopher Prairie ist nicht ganz so zurückgeblieben«, stichelte Frau Howland.

Diese Abweisungen machten sie hochmütig; ihr Hochmut provozierte noch deutlichere Abweisungen; man war auf dem Wege zu offenem Kriegszustand, als das hereinkommende Essen Rettung brachte.

Obgleich Juanita Haydock in Angelegenheiten wie Fingerschalen, kleinen Servietten und Badezimmermatten sehr fortgeschritten war, waren ihre »Imbisse« typisch für alle Nachmittagskaffees. Juanitas beste Freundinnen, Frau Dyer und Frau Dashaway, reichten große Fleischteller herum, auf jedem war ein Löffel, eine Gabel und eine Kaffeetasse ohne Untersatz. Sie entschuldigten sich und besprachen die Partien, während sie sich durch das Dickicht der Füße durcharbeiteten. Dann verteilten sie heiße Butterbrötchen, Kaffee, der aus einer glasierten Steingutkanne eingeschenkt wurde, gefüllte Fleischrouladen, Kartoffelsalat und Backwerk.

Sie aßen ungeheuerlich. Carola hatte den Verdacht, die sorglichen Hausfrauen wollten sich bei den Nachmittagseinladungen ihr eigenes Abendessen ersparen.

Sie versuchte wieder in den Strom zu gelangen. Sie ging zu Frau McGanum. Die kräftige, liebenswürdige junge Frau McGanum, die Arme und Brust wie ein Milchmädchen hatte und mit völlig ernsthaftem Gesicht laut und dünn zu lachen pflegte, war die Tochter des alten Dr. Westlake und die Frau von Westlakes Kompagnon McGanum. Kennicott behauptete, Westlake, McGanum und deren verdorbene Familie seien hinterlistig, aber Carola hatte sie angenehm gefunden. Sie bat um Freundlichkeit, indem sie Frau McGanum fragte: »Wie geht's dem Kleinen jetzt mit dem Hals?« und lauschte voll Aufmerksamkeit, während Frau McGanum schaukelte, strickte und in aller Ruhe einzelne Symptome schilderte.

Nach der Schule kam Vida Sherwin und brachte die Stadtbibliothekarin Fräulein Ethel Villets mit. Fräulein Sherwins optimistische Person ließ Carola etwas zuversichtlicher werden. Sie redete. Sie erzählte: »Vor ein paar Tagen bin ich mit Will fast bis nach Wahkeenyan hinausgekommen. Das Land ist doch zu schön! Und ich bewundere die skandinavischen Farmer dort draußen so: ihre großen roten Scheunen und Silos und Melkmaschinen und alles. Kennen Sie die einsame Lutheranerkirche dort, mit dem Turm, der eine Blechhaube hat, sie steht ganz allein auf einem Hügel? Sie ist so düster; irgendwie sieht sie tapfer aus. Ich glaube wirklich, die Skandinavier sind die stärksten und besten Menschen.«

»So, glauben Sie?« protestierte Frau Jackson Elder. »Mein Mann sagt, die Schweden, die in der Hobelwerkstatt arbeiten, sind einfach entsetzlich – sie reden nie und sind so komisch, und so egoistisch mit ihrem ewigen Geschrei nach Lohnerhöhungen. Wenn man ihnen ihren Willen ließe, würden sie ganz einfach das Geschäft ruinieren.«

»Ja, und sie sind ganz einfach schauderhafte Dienstmädel!« klagte Frau Dave Dyer. »Ich kann einen Eid darauf schwören, ich schind' mich selber ab, um es meinen Dienstmädchen recht zu machen, wenn ich überhaupt welche kriegen kann! Ich tu' alles für sie. Sie dürfen sich, wann sie wollen, von ihren Freunden in der Küche besuchen lassen, und sie kriegen genau dasselbe zu essen wie wir, wenn was übrigbleibt, und ich mach' ihnen eigentlich nie einen Krach.«

Juanita Haydock sagte knarrend: »Sie sind undankbar, alle diese Leute. Ich glaube, die Dienstmädchenfrage wird ganz einfach fürchterlich. Ich weiß nicht, wohin das Land kommen wird, wenn diese skandinavischen Bauernlümmel jeden Cent von einem haben wollen, den man sich absparen kann, und dann sind sie so ungebildet und unverschämt und verlangen, mein Wort darauf, Badewannen und alles mögliche – als ob sie zu Hause nicht zufrieden und glücklich wären, wenn sie sich in einem Waschzuber baden können.«

Jetzt waren sie in Schwung gekommen. Carola dachte an Bea und überfiel die Gesellschaft:

»Aber kann das nicht vielleicht der Fehler der Herrinnen sein, wenn die Mädchen undankbar sind? Seit Generationen haben wir ihnen die Überbleibsel vom Essen und Löcher zum Schlafen gegeben. Ich will mich nicht dick tun, aber ich muß sagen, daß ich nicht viel Ärger mit Bea habe, sie ist so freundlich. Die Skandinavier sind gute Arbeiter und ehrlich –«

Frau Dave Dyer fuhr auf. »Ehrlich? Nennen Sie es ehrlich, wenn sie uns jeden Cent Lohn, den sie nur kriegen können, aus der Tasche ziehen? Ich kann nicht sagen, daß bei mir schon eine gestohlen hätte – obwohl man's ja stehlen nennen könnte, wenn sie so viel essen, daß ein Rostbeaf kaum auf drei Tage reicht – aber trotzdem will ich nicht, daß sie denken, sie können mit mir alles anfangen! Ich lass' sie ihre Koffer immer unten, direkt unter meinen Augen, ein- und auspacken, und dann weiß ich, daß sie durch irgendeine Nachlässigkeit von mir nicht in die Versuchung kommen, unehrlich zu sein!«

»Wieviel bekommen die Mädchen hier?« wagte Carola zu fragen.

Frau B. J. Gougerling, die Frau des Bankiers, stellte empört fest: »Alles mögliche zwischen drei fünfzig und fünf fünfzig in der Woche. Ich weiß positiv, daß Frau Clark, nachdem sie geschworen hat, sie wird nicht nachgeben und die Leute in ihren unverschämten Forderungen ermutigen, daß sie sich dann hingestellt und fünf fünfzig bezahlt hat. Denken Sie nur! Eigentlich ein Dollar täglich für ungelernte Arbeit, und natürlich das Essen und die Wohnung und die Möglichkeit, jedesmal bei der Wäsche mitzuwaschen. Wieviel bezahlen Sie, Frau Kennicot

»Ja, wieviel bezahlen Sie?« rief ein halbes Dutzend Stimmen.

»Ich, ich zahle sechs in der Woche«, bekannte sie schwach.

Alle fielen aus den Wolken. Juanita legte Protest ein: »Glauben Sie nicht, daß es für uns andere sehr schwer ist, wenn Sie so viel bezahlen?« Juanitas Interpellation wurde von der allgemeinen Feindseligkeit unterstützt.

Carola ärgerte sich. »Das ist mir egal! Ein Dienstmädel hat eine der schwersten Arbeiten auf Gottes Erdboden. Sie arbeitet täglich zehn bis achtzehn Stunden. Sie muß fettige Teller und schmutzige Kleider waschen. Sie gibt auf die Kinder acht und läuft mit aufgesprungenen Händen zur Tür, und –«

Frau Dave Dyer unterbrach wütend Carolas Suada: »Das ist ja alles recht schön und gut, aber Sie können mir glauben, ich mach' alles das selber, wenn ich kein Mädel hab', und das kommt bei einem Menschen, der nicht nachgeben und kolossale Löhne bezahlen will, recht oft vor!«

Carola gab zurück: »Aber ein Mädchen macht es für Fremde, und alles, was sie davon hat, ist der Lohn –«

Die Augen der anderen Frauen waren feindlich. Vier redeten auf einmal. Vida Sherwins Kommandostimme schnitt das Streiten ab, unterdrückte die Revolution:

»Ruhig, ruhig! Was ist das für eine wütende Leidenschaftlichkeit und was für eine alberne Diskussion! Ihr alle nehmt das zu ernst. Schluß damit! Carola Kennicott, Sie haben wahrscheinlich recht, aber Sie sind der Zeit zu weit voraus. Juanita, hören Sie auf, so kampflustig dreinzuschauen. Was ist das hier, eine Kartenpartie oder ein Hennenkampf? Carola, hören Sie auf, sich als die Jungfrau von Orleans für die Dienstboten zu bewundern oder Sie kriegen einen Klaps von mir. Kommen Sie her und sprechen Sie mit Ethel Villets über Bibliothekssachen. Muh! Wenn noch weiter gepickt wird, übernehm' ich das Kommando über den Hühnerhof!«

Alles lachte krampfhaft, und Carola sprach gehorsam »über Bibliothekssachen«. Eine Kleinstadtvilla, die Frauen eines Dorfarztes und eines Dorfkaufmanns, eine Provinzlehrerin, ein Wortstreit über einen Dollar mehr Lohn in der Woche. Aber die Bedeutungslosigkeit dieser Angelegenheit war der Widerhall von Kellerverschwörungen, Kabinettsberatungen und Gewerkschaftskonferenzen in Persien und Preußen, in Rom und in Boston; und die Redner, die sich internationale Führer dünken, sind nichts weiter als die erhobenen Stimmen einer Billion Juanitas, die eine Million Carolas tadeln, und dazu hunderttausend Vida Sherwins, die sich bemühen, das Unwetter zu verscheuchen.

Carola fühlte sich schuldig. Sie bewunderte hingebungsvoll das altjüngferliche Fräulein Villets – und beging unverzüglich ein zweites Verbrechen gegen die Gesetze des Anstands.

»Wir haben Sie noch nicht in der Bibliothek gesehen«, sagte Fräulein Villets in vorwurfsvollem Ton.

»Ich wollte immer schon mal hinkommen, aber ich hatte so viel mit meiner Einrichtung zu tun, und – Ich werde wahrscheinlich so oft hinkommen, daß es Ihnen zum Hals heraushängen wird. Sie sollen eine so hübsche Bibliothek haben, hat man mir erzählt.«

»Vielen Leuten gefällt sie. Wir haben zweitausend Bücher mehr als Wakamin.«

»Das ist schön. Ich bin überzeugt, Sie haben sehr viel Verantwortung. Ich habe in St. Paul einige Erfahrung gehabt.«

»Ja, davon hab' ich gehört. Ich könnte aber nicht sagen, daß ich die Bibliotheksmethoden in diesen großen Städten ganz billige. Man ist dort so leichtsinnig, fast läßt man Vagabunden und alle möglichen schmutzigen Menschen im Lesesaal schlafen.«

»Ich weiß, aber die armen Teufel – Also, ich bin überzeugt, in einem werden Sie einer Meinung mit mir sein: die Hauptaufgabe einer Bibliothekarin ist es, die Leute zum Lesen zu bringen.«

»Meinen Sie? Meine Meinung, Frau Kennicott, und ich zitiere da nur die Bibliothekarin eines sehr großen Colleges, meine Meinung ist, daß es die erste Pflicht einer gewissenhaften Bibliothekarin ist, die Bücher zu konservieren.«

»Oh!« Carola bereute ihr »Oh!« Fräulein Villets wurde steif und ging zum Angriff über:

»In großen Städten, wo man unbegrenztes Betriebskapital hat, ist es vielleicht ganz recht und gut, zuzulassen, daß ungezogene Kinder Bücher ruinieren und einfach absichtlich zerreißen, und daß freche junge Leute sich mehr Bücher nehmen, als die Verordnungen gestatten, aber ich werde so etwas in unserer Bibliothek nie erlauben!«

»Was liegt denn daran, wenn ein paar Kinder etwas ruinieren? Sie lernen lesen. Bücher sind billiger als Verstand.«

»Nichts ist billiger als der Verstand von ein paar solchen Kindern, die hereinkommen und mich ärgern, aus keinem anderen Grund, als weil ihre Mütter sie nicht im Haus halten, wo sie hingehören. Ein paar Bibliothekarinnen sind ja vielleicht so nachgiebig und machen aus ihren Bibliotheken Babyheime und Kindergärten, aber solang ich im Dienst bin, wird die Bibliothek in Gopher Prairie ruhig und anständig bleiben und die Bücher gut gehalten werden!«

Carola sah, daß die anderen zuhörten und nur auf einen Widerspruch von ihr warteten. Sie wich vor der allgemeinen Antipathie zurück. Sie lächelte Fräulein Villets in Hast zustimmend zu, sah auffällig auf ihre Armbanduhr und murmelte: »… so spät … muß schnell … Mann … so hübsch gewesen … vielleicht haben Sie mit den Dienstmädchen recht gehabt … ich bin voreingenommen, weil Bea so nett ist … so wundervolles Backwerk, Frau Haydock muß mir das Rezept geben … adieu, es war wirklich wunderschön …«

Sie ging nach Hause. Sie überlegte: »Es war meine Schuld. Ich war empfindlich. Ich hab' ihnen so oft widersprochen. Nur – Ich kann nicht! Ich kann mich nicht als eine von ihnen fühlen, wenn ich alle Mädchen verdammen muß, die sich in schmutzigen Küchen abrackern, und alle zerlumpten hungrigen Kinder. Und diese Frauen sollen mein ganzes Leben lang meine Richter sein!«

Sie hörte nicht Beas Ruf aus der Küche; sie lief hinauf ins unbenutzte Gastzimmer; sie weinte vor Angst, kniete zusammengekrümmt neben einem plumpen schwarzen Nußbaumbett, an einer dicken Matratze, die mit einer roten Flickendecke zugedeckt war, in einem verschlossenen stickigen Zimmer.


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