Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Viertes Kapitel

1

»Wir wollen uns den ganzen Tag frei machen und auf die Jagd gehen. Ich möchte, daß du die Gegend hier kennenlernst«, verkündete Kennicott beim Frühstück. »Ich würde das Auto nehmen – du sollst sehen, wie fein es jetzt läuft, nachdem ich einen neuen Kolben montiert hab'. Aber wir wollen den Wagen nehmen, damit wir gut in die Felder kommen können. Es sind zwar jetzt nicht mehr viel Präriehühner da, aber wir könnten ja vielleicht doch auf eine kleine Kette stoßen.«

Er machte sich an seiner Jagdausrüstung zu schaffen. Er zog seine Wasserstiefel zu voller Länge aus und untersuchte sie auf Löcher. Er zählte aufgeregt seine Patronen und hielt ihr einen Vortrag über die Eigenschaften des rauchlosen Pulvers. Er zog seine neue hammerlose Flinte aus dem schweren Lederfutteral und ließ sie durch die Läufe sehen, um ihr zu zeigen, wie gut sie geputzt waren.

Kennicott hatte sich Jackson Elders rotweiß gefleckten Setter geborgt, einen freundlichen Hund, dessen wedelnder silbergrauer Schweif im Sonnenlicht funkelte. Als sie aufbrachen, bellte der Hund und sprang nach den Pferdeköpfen, bis Kennicott ihn in den Wagen nahm, wo er sich an Carolas Knie schmiegte und sich ab und zu hinauslehnte, um Bauernköter anzukläffen.

Die Grauen klapperten auf der harten Straße dahin. Es war früh und frisch, die Luft pfiff, glitzernder Reif lag auf dem goldenen Wundkraut am Weg. Als die Sonne die Welt der Stoppeln in ein Meer von Gelb verwandelt hatte, bogen sie von der Chaussee ab, fuhren durch einen Farmhof in ein Feld hinaus, holperten langsam über die unebene Erde. In einer Vertiefung der gewellten Prärie verloren sie die Landstraße aus den Augen. Es war warm und still. Heuschrecken zirpten zwischen den trockenen Weizenhalmen, und schimmernde kleine Fliegen flitzten quer durch den Wagen. Ein zufriedenes Summen erfüllte die Luft. Krähen flogen am Himmel faul umher und schwätzten.

Der Hund war hinausgelassen worden, und nach aufgeregtem Hin- und Herspringen machte er sich an ein gelassenes Absuchen des Feldes, vor und zurück, vor und zurück, die Nase am Boden.

»Die Farm gehört Pete Rustad, und er hat mir erzählt, daß er vorige Woche eine kleine Kette Hühner gesehen hat, gegen Westen zu. Vielleicht kommen wir doch noch zur Jagd«, sagte Kennicott fröhlich.

Gespannt sah Carola dem Hund zu; so oft er zu stehen schien, atmete sie schneller. Sie sehnte sich nicht danach, Vögel zu töten, aber sie hatte den Wunsch, zu Kennicotts Welt zu gehören.

Der Hund blieb stehen, eine Vorderpfote in der Luft.

»Weiß Gott! Er hat eine Spur! Komm!« rief Kennicott. Er sprang aus dem Wagen, schlang die Zügel um den Peitschenstiel, hob sie heraus, nahm seine Flinte, steckte zwei Patronen hinein, schritt auf den bewegungslosen Hund zu, Carola hinter ihm drein. Der Setter schlich weiter vor, mit zitterndem Schwanz, den Bauch dicht an den Stoppeln. Carola war nervös. Sie erwartete, daß jeden Augenblick Wolken von großen Vögeln auffliegen würden. Ihre Augen schmerzten vom angestrengten Schauen. Doch sie folgten eine Viertelmeile dem Hund, der sich umwandte, seine eigene Spur kreuzte, über zwei niedrige Hügel kam, durch Gestrüpp schlich, zwischen den Drähten eines Stacheldrahtzauns hindurchkroch. Das Gehen fiel ihren pflastergewohnten Füßen schwer. Die Erde war klumpig, die Stoppeln stachlig, mit Gras, Disteln und verkümmertem Klee durchsetzt.

Sie hörte Kennicott flüstern: »Schau!« Drei graue Vögel flogen aus den Stoppeln auf, sie waren rund und plump wie ungeheure Hummeln. Kennicott zielte, bewegte den Lauf. Sie war aufgeregt, warum schoß er nicht? Die Vögel würden fort sein! Dann ein Krach, ein zweiter, und zwei Vögel überschlugen sich in der Luft und stürzten zu Boden.

Als er ihr die Vögel zeigte, hatte sie nicht die Empfindung, daß Blut vergossen sei. Diese Federhäufchen waren so weich und unbeschädigt, man konnte bei ihrem Anblick gar nicht an den Tod denken. Sie sah ihrem siegreichen Mann zu, wie er die Beute in seine Jagdtasche steckte, und ging mit ihm zum Wagen zurück.

An diesem Vormittag fanden sie keine Präriehühner mehr.

Gegen Mittag fuhren sie in den ersten Farmhof ein, den Carola kennenlernte – ein weißes Haus, das nur einen niedrigen und recht schmutzigen Vorbau an der Hinterfront hatte, eine rote Scheune mit weißen Vertrumpfungen, ein Silo aus glasierten Ziegeln, ein Wagenschuppen, der jetzt einem Ford als Garage diente, ein ungestrichener Kuhstall, ein Hühnerhaus, ein Schweinekoben, ein Maisschuppen, ein Kornspeicher und ein Windmühlenturm aus verzinktem Eisen. Der Vorhof war aus festgetretenem gelben Lehm, ohne Bäume, graslos, übersät mit rostigen Pflugscharen und Rädern außer Dienst gestellter Ackergeräte. Gehärteter, festgetretener Schlamm, wie Lava, füllte den Schweinekoben. Die Haustür war verschmutzt, die Regentraufen verrostet, und das Kind, das sie aus dem Küchenfenster anstarrte, hatte ein schmieriges Gesicht. Aber hinter der Scheune war ein Büschel scharlachroter Geranien, die Präriebrise war bewegter Sonnenschein, die blinkenden Metallflügel der Windmühle drehten sich munter summend; ein Pferd wieherte, ein Hahn krähte, Schwalben flogen im Kuhstall ein und aus.

Eine kleine dürre Frau mit flachsblondem Haar kam aus dem Haus. Sie näselte in schwedischem Dialekt – sie sprach nicht monoton wie Engländer, sie sang ihre Worte in lyrisch wehmütigem Ton: »Pete hat mir gesagt, daß Sie bald jagen kommen wollen, Doktor. Je, das ist schön, daß Sie da sind. Ist das die junge Frau? Oh! Wir haben grade gestern abend gesagt, daß wir sie hoffentlich einmal sehen werden. Je, eine so hübsche Dame!« Frau Rustad glänzte vor Begrüßungseifer. »Ja, ja! Hoffentlich gefällt Ihnen das Land! Wollen Sie nicht zum Essen bleiben, Doktor?«

»Nein, aber könnten Sie uns vielleicht ein Glas Milch geben?« fragte Kennicott leutselig.

»Na freilich will ich das! Warten Sie hier eine Sekunde, ich lauf zum Milchhaus hinüber!« Aufgeregt eilte sie zu einem kleinen roten Schuppen neben der Windmühle; sie kam mit einem Krug Milch zurück, aus dem Carola die Thermosflasche füllte.

Als sie weiterfuhren, sagte Carola bewundernd: »Sie ist das reizendste Ding, das ich gesehen hab'. Und sie betet dich an. Du bist hier der Gutsherr.«

»Ach nein,« erwiderte er sehr geschmeichelt, »aber sie fragen mich doch bei allem möglichen um Rat. Großartige Leute, die skandinavischen Farmer. Und sie bringen 's auch zu was. Helga Rustad, sie selber hat wohl noch Angst vor Amerika, aber ihre Kinder werden Rechtsanwälte und Staatsgouverneure sein, und alles, was sie wollen.«

»Ob –« Carola war wieder in ihren Weltschmerz von der vorigen Nacht zurückgefallen. »Ob diese Farmer nicht größer sind als wir? Sie sind so einfach und arbeiten so schwer. Die Stadt lebt von ihnen. Wir Städter sind Parasiten, und trotzdem fühlen wir uns ihnen überlegen. Gestern abend hab' ich Herrn Haydock von ›Bauernschädeln‹ reden hören. Anscheinend verachtet er die Farmer, weil sie nicht die gesellschaftliche Höhe erreicht haben, Zwirn und Knöpfe zu verkaufen.«

»Parasiten? Wir? Wo wären die Farmer ohne die Stadt? Wer leiht ihnen Geld? Wer – also, wir liefern ihnen doch alles!«

»Glaubst du nicht, daß manche Farmer meinen, sie bezahlen die Dienste der Städte zu teuer?«

»Ach, natürlich gibt's unter den Farmern ebenso eine Menge Narren wie in jeder anderen Klasse. Wenn man ein paar von den Querschädeln zuhört, könnte man glauben, daß die Farmer den Staat und das ganze Schützenfest leiten sollten – wahrscheinlich würden sie, wenn man sie ließe, die Regierung mit einem Haufen Bauern in Dreckstiefeln füllen – ja, und dann würden sie daherkommen und mir sagen, daß ich von jetzt an auf Gehalt angestellt bin und meine Honorare nicht mehr festsetzen kann. Das wäre schön für dich, was?«

»Ja, warum sollten sie denn nicht?«

»Warum? Dieser Haufen von – Mir sagen – Ach, um Gottes willen, hören wir auf zu streiten. Das ganze Disputieren ist ja vielleicht bei einer Gesellschaft ganz in Ordnung, aber denken wir nicht dran, solang wir auf der Jagd sind.«

»Ich weiß. Der Wissensdurst – das scheint eben ein viel schlimmeres Leiden zu sein als die Wanderlust. Ich möchte nur wissen –«

Sie sagte sich, daß sie alles auf der Welt hätte. Und nach jedem Selbstvorwurf stolperte sie wieder über ein »Ich möcht' nur wissen –« Sie aßen ihre belegten Brote an einem Präriebruch: langes Gras, das aus klarem Wasser herauswuchs, bemooste Erdhügelchen, Beutelstare, der Schaum auf dem Wasser ein goldgrüner Schimmer. Kennicott rauchte eine Pfeife, während sie sich im Wagen zurücklehnte und ihren müden Geist in dem Nirwana des schönen Himmels aufgehen ließ.

Sie schwankten zur Chaussee zurück und erwachten beim Klang der klappernden Hufe aus ihrem sonnenmüden Schlummer. Sie hielten an, um nach Rebhühnern Ausschau zu halten, am Rand kleiner Wäldchen – leuchtend, sauber, munter, Silberbirken und Pappeln mit tadellos grünen Stämmen, die einen See mit sandigem Boden säumten.

Kennicott holte ein dickes rotes Eichhörnchen herunter, und in der Dämmerung kam er zu Schuß auf einen Flug Enten, die von oben herunterwirbelten, über den See glitten und sofort wieder verschwanden.

Mit der untergehenden Sonne fuhren sie heim. Strohpuppen und Weizenmännchen wie Bienenkörbe standen rosa und golden da, und die grün durchwachsenen Stoppeln glitzerten. Als der ungeheure Purpurgürtel sich dunkler färbte, wurde das Land herbstlich in tiefem Rot und Braun. Die schwarze Straße vor dem Wagen wurde zart lila, dann versank sie in unbestimmtes Grau. Vieh kam in einer langen Reihe zu den Toren der Farmhöfe, und über dem ruhenden Land lag ein dunkles Leuchten.

Carola hatte die Würde und Größe gefunden, die sie in der Hauptstraße entbehrt hatte.

2

Solange sie kein Mädchen hatten, aßen sie mittags und abends in der Pension der Frau Gurrey.

Frau Elisha Gurrey, Hinterbliebene des Diakons Gurrey, Heu- und Getreidehändlers, war eine spitznasige, süßliche Frau mit eisengrauem Haar, das so fest nach hinten gekämmt war, daß man glaubte, sie trage ein Taschentuch auf dem Kopf. Aber sie war wider Erwarten heiter, und ihr Eßzimmer, mit dem dünnen Tischtuch auf dem langen Tannentisch, hatte die Anständigkeit sauberer Dürftigkeit.

In der Reihe der nie lächelnden Gäste, die methodisch kauten wie Pferde an einer Krippe, fiel Carola eine Miene auf: das bleiche, lange, bebrillte Gesicht, das sandfarbene Haar Herrn Raymond P. Wutherspoons, »Raymie« genannt; er war eingefleischter Junggeselle, Leiter und gleichzeitig das halbe Verkaufspersonal in der Schuhabteilung des Bon Ton-Ladens.

»Sie werden viel Freude an Gopher Prairie haben, Frau Kennicott«, sagte Raymie. Seine Augen waren wie die eines Hundes, der darauf wartet, aus der Kälte draußen ins Zimmer gelassen zu werden. Er reichte ihr die gedünsteten Aprikosen mit einer überschwenglichen Gebärde. »Es sind eine große Menge hochgebildeter Leute hier. Frau Wilks, die Christian-Science-Lektorin, ist eine sehr kluge Frau – obwohl ich selber nicht Scientist bin, ja, ich singe im Anglikanerchor. Und Fräulein Sherwin von der Hochschule – sie ist so ein nettes, kluges Mädel – ich hab' ihr gestern ein Paar Schuhe anprobiert, ich sage Ihnen, es war wirklich ein Vergnügen.«

»Gib mir die Butter, Carrie«, war Kennicotts Kommentar dazu. Sie bot ihm Trotz, indem sie Raymie ermutigte:

»Haben Sie ein Dilettantentheater und solche Sachen hier?«

»O ja! Die Stadt ist ganz einfach voller Talent. Die ›Pythischen Ritter‹ haben voriges Jahr einen herrlichen Sängerabend gemacht!«

»Es ist nett, daß Sie so enthusiastisch sind.«

»Oh, glauben Sie das wirklich? Eine Menge Menschen ziehen mich auf, weil ich alles mögliche veranstalten möchte. Ich sag' den Leuten immer, daß sie mehr künstlerische Talente haben, als sie wissen. Erst gestern hab' ich zu Harry Haydock gesagt, wenn er mehr Gedichte lesen würde, zum Beispiel Longfellow, oder wenn er ins Orchester eintreten würde – ich hab' soviel Freude dran, Piston zu blasen, und unser Orchesterdirigent, Del Snafflin, ist ein so guter Musiker, ich sag' oft, er sollte seinen Friseurladen aufgeben und Berufsmusiker werden. Er könnte in Minneapolis und New York, überall, Klarinette spielen, aber – aber ich konnte Harry nicht dazu bringen, daß er alles einsieht, und – ich hab' gehört, Sie sind gestern mit dem Doktor auf der Jagd gewesen. Hübsches Land, nicht? Und haben Sie schon Besuche gemacht? Das kaufmännische Leben ist nicht so begeisternd wie das medizinische. Es muß wunderbar sein, wenn man sieht, was für Vertrauen die Patienten zu Ihnen haben, Doktor.«

»Hu. Ich bin's, der Vertrauen haben muß. Es wär' ein ganz ordentliches Stück wunderbarer, wenn sie ihre Rechnungen bezahlten«, knurrte Kennicott, und Carola flüsterte er etwas zu, was so klang wie »Frauenzimmer in Hosen«.

Aber Raymies helle Augen flehten sie an. Sie half ihm: »Sie lesen also gern Gedichte?«

»O ja, zu gern – obwohl, um die Wahrheit zu sagen, ich hab' nicht viel Zeit zum Lesen, wir haben immer soviel zu tun im Laden, und – Aber wir haben im letzten Winter beim Abend der ›Pythischen Schwestern‹ eine blendende Rezitatorin von Beruf gehabt.«

Carola glaubte ein Grunzen von dem Reisenden am anderen Ende des Tisches zu hören, und Kennicotts stoßender Ellenbogen war ein verkörpertes Grunzen. Sie ließ aber nicht nach.

»Kommen Sie viel ins Theater, Herr Wutherspoon?«

Er leuchtete sie an wie ein blaßblauer Märzhimmel und seufzte: »Nein, aber das Kino hab' ich sehr gern. Da bin ich ein richtiger Narr. Es ist ein Malheur, daß die Bücher nicht so von intelligenten Zensoren ganz geprüft werden wie die Filme, und wenn man in die Bibliothek kommt und sich ein Buch nimmt, weiß man nie, worauf man seine Zeit verschwendet. Was mir an Büchern gefällt, ist eine heilsame, wirklich bessernde Geschichte, und manchmal – Ja, einmal hab' ich einen Roman von dem Balzac angefangen, von dem man immer liest, und da wird erzählt, wie eine Dame nicht mit ihrem Mann lebt, ich meine, sie ist nicht seine Frau. Alle Einzelheiten sind gebracht worden! Ekelhaft! Und das Englisch war wirklich miserabel. Ich hab' in der Bibliothek drüber Bescheid gesagt, und sie haben das Buch rausgenommen. Ich bin nicht engherzig, aber ich muß sagen, ich kann gar keinen Nutzen an diesem wohlüberlegten Wühlen in der Unsittlichkeit finden! Das Leben ist ja selber so voller Versuchungen, daß man in der Literatur nur das haben will, was rein und erhebend ist.«

»Wie heißt der Balzac-Schmöker? Wo kann man ihn kriegen?« kicherte der Reisende.

Raymie ignorierte ihn. »Aber die Filme, die sind meistens sauber, und ihr Humor – glauben Sie nicht, daß die wichtigste Eigenschaft an einem Menschen ist, daß er einen Sinn für Humor hat?«

»Ich weiß nicht. Ich hab' wirklich nicht viel«, sagte Carola.

Er drohte mit dem Finger. »Nein, nein, Sie sind zu bescheiden. Ich bin überzeugt, wir können alle sehen, daß Sie einfach blendenden Sinn für Humor haben. Übrigens, Doktor Kennicott würde nicht eine Dame heiraten, die keinen hat. Wir alle wissen, wie gern er Spaß macht!«

»Sicher. Bin ein alter Spaßvogel. Komm, Carrie; gehen wir«, sagte Kennicott.

Raymie beschwor: »Und wofür interessieren Sie sich am meisten unter den Künsten, Frau Kennicott?«

»Oh –« Da sie merkte, daß der Reisende »Zahnheilkunst« murmelte, sagte sie verzweifelt aufs Geratewohl: »Architektur«.

»Das ist eine wirklich hübsche Kunst. Ich hab' immer gesagt – wie Haydock und Simons die neue Front vom Bon Ton-Gebäude fertig gemacht haben, ist der Alte zu mir gekommen, wissen Sie, Harrys Vater, ich sag' immer D. H. zu ihm, und er hat mich gefragt, wie mir's gefällt, und da hab' ich gesagt: ›Passen Sie auf, D. H.‹, hab' ich gesagt – wissen Sie, er wollte die Front ohne Verzierung lassen, und da hab' ich gesagt: ›Es ist ja alles recht gut, wenn man moderne Beleuchtung und viel Platz im Schaufenster hat,‹ hab' ich gesagt, ›aber wenn Sie das schon machen, dann müssen Sie auch ein bißchen Architektur haben‹, das hab' ich gesagt, und er hat gelacht und hat gesagt, daß ich vielleicht recht hab', und dann hat er ein Gesims machen lassen.«

»Blech!« bemerkte der Reisende.

Raymie zeigte die Zähne wie eine kriegerische Maus. »Na, und wenn's Blech ist? Es ist doch nicht meine Schuld. Ich hab' D. H. gesagt, er soll's aus geschliffenem Granit machen lassen. Sie gehen mir auf die Nerven!«

»Gehen wir! Komm, Carrie, gehen wir!« rief Kennicott.

Raymie begleitete sie ins Vorzimmer und gab Carola heimlich zu verstehen, sie dürfe sich nichts aus der Ungehobeltheit des Reisenden machen – er gehöre zur misera plebs.

Kennicott kicherte: »Na, Kind, was meinst du? Ist dir ein künstlerischer Mensch wie Raymie lieber als so langweilige Burschen wie Sam Clark und ich?«

»Lieber! Gehen wir nach Haus, spielen wir Pinochle, lachen wir, seien wir albern, kriechen wir ins Bett und schlafen wir, ohne zu träumen. Es ist schön, ganz einfach solide Bürgerin zu sein!«

3

Aus Gopher Prairis Wochenschrift »Der Unverzagte«:

»Eines der entzückendsten Ereignisse der Saison fand Dienstag abend in dem hübschen neuen Haus von Sam und Frau Clark statt, als viele unserer hervorragendstes Bürger zusammenkamen, um die liebliche junge Frau unseres beliebten Ortsarztes Dr. Kennicott willkommen zu heißen. Alle Anwesenden sprachen von den vielfältigen Reizen der jungen Frau, vormals Fräulein Carola Milford in St. Paul. Spiele und heitere Veranstaltungen, fröhliches Geplauder und Konversation waren an der Tagesordnung. Zu vorgerückter Stunde wurden angenehme Erfrischungen gereicht, und die Gesellschaft trennte sich, nachdem man des öfteren seinem Vergnügen über die vergnügte Veranstaltung Ausdruck verliehen hatte. Unter anderen bemerkte man die Damen Kennicott, Elder …«

###

»Dr. Will Kennicott, seit etlichen Jahren einer unserer beliebtesten und geschicktesten Chirurgen, bereitete der Stadt eine köstliche Überraschung, als er von einer ausgedehnten Hochzeitsreise in Colorado diese Woche mit seiner entzückenden jungen Frau, dem geborenen Fräulein Carola Milford aus St. Paul, deren Familie eine gesellschaftlich hervorragende Stellung in Minneapolis und Mankato einnimmt, zurückkehrte. Frau Kennicott ist eine Dame mit vielfachen Reizen, nicht nur von bezaubernder äußerer Erscheinung, sondern sie ist auch hervorragende Absolventin einer Schule im Osten und hat im vergangenen Jahr an prominenter Stelle einen wichtigen Vertrauensposten an der städtischen Bibliothek St. Pauls bekleidet, in welcher Stadt Dr. ›Will‹ das Glück hatte, sie kennenzulernen. Die Stadt Gopher Prairie heißt sie in ihrer Mitte willkommen und prophezeit ihr viele glückliche Jahre in der betriebsamen Stadt der Zwillingsseen und der Zukunft. Herr und Frau Kennicott werden zunächst im Haus des Doktors in der Poplar Street Aufenthalt nehmen, das bisher seine entzückende Mutter geführt hat, welche nunmehr in ihr eigenes Haus am Lacqui-Meurt zurückgekehrt ist, eine Schar von Freunden zurücklassend, die ihre Abwesenheit schmerzlich empfinden und hoffen, sie bald wieder bei uns zu sehen.«

4

Carola wußte, wenn sie je etwas von den »Reformen« ins Werk setzen wollte, von denen sie geträumt hatte, müßte sie zunächst einen Ausgangspunkt haben. Was sie während der ersten drei oder vier Monate nach ihrer Heirat verwirrte, war nicht mangelnde Erkenntnis dafür, daß sie einen Entschluß fassen müsse, sondern einfach sorglose Freude an ihrem ersten eigenen Haus.

Im Stolz auf ihr Hausfrauentum liebte sie jede Einzelheit – den Brokatlehnstuhl mit dem schwachen Rücken, ja sogar den Messinghahn am Heißwasser-Reservoir, sobald sie einmal durch ihre Versuche, ihn blitzblank zu putzen, mit ihm vertraut geworden war.

Sie hatte ein Mädchen gefunden, die rundliche, strahlende Bea Sorenson aus Scandia Crossing. Bea war in ihrem Bemühen, gleichzeitig respektvoller Dienstbote und Busenfreundin zu sein, drollig. Sie lachten gemeinsam darüber, daß der Ofen nicht zog, und daß die Fische in der Pfanne so schlüpfrig waren.

Wie ein Kind, das im Schleppkleid Großmama spielt, stolzierte Carola zu ihren Einkäufen in die Stadt, rief den Hausfrauen am Weg Grüße zu. Alles grüßte sie, auch Fremde, und ließ sie fühlen, daß man sie brauchte, daß sie hierher gehörte. In den Stadtgeschäften war sie lediglich eine Kundin gewesen – ein Hut, eine Stimme, eine Plage mehr für abgearbeitete Kommis. Hier war sie Frau Doktor Kennicott, man wußte, welches Obst ihr das liebste war, und wie man sich ihr gegenüber benehmen sollte, man dachte daran und fand es der Mühe wert, sich darüber zu beraten … auch wenn es nicht der Mühe wert war, sich danach zu richten.

Das Einkaufen war eine Wonne lebhafter Beratungen. Gerade die Kaufleute, deren Schlafmützigkeit sie bei den zwei oder drei Gesellschaften, die zu ihrer Begrüßung gegeben worden waren, am langweiligsten gefunden hatte, waren die angenehmsten Vertrauten, wenn sie etwas hatten, worüber sie reden konnten – Zitronen oder Baumwoll-Voile oder Fußbodenöl. Mit dem Hanswurst Dave Dyer, dem Drogisten, führte sie einen langen lustigen Krieg. Sie behauptete, er übervorteile sie bei den Magazin- und Konfektpreisen; er behauptete, sie sei eine Detektivin aus den Zwillingsstädten. Er versteckte sich hinter dem Rezeptiertisch, und wenn sie mit dem Fuß aufstampfte, kam er hervor und winselte: »Wirklich, ich hab' heute keine Gaunerei begangen – vorläufig noch nicht.«

Sie konnte sich nie auf ihren ersten Eindruck von der Hauptstraße besinnen; sie empfand nie wieder die gleiche Verzweiflung über diese Häßlichkeit. Nach zwei Einkaufstagen hatte alles andere Proportionen bekommen. Da sie das Minniemashie-Hotel nie betrat, hörte es auf für sie zu existieren. Clarks Eisenwarengeschäft, Dyers Drogerie, die Lebensmittelgeschäfte von Ole Jenson, Frederick Ludelmeyer und Howland & Gould, die Fleischereien, der Kramladen – alles das dehnte sich aus und verbarg alle anderen Gebäude. Wenn sie in Herrn Ludelmeyers Laden kam, und er ächzte: »Guten Morgen, Frau Kennicott. Na, das ist mal ein schöner Tag«, sah sie nicht, wie verstaubt die Regale, wie dumm das bedienende Mädchen war; und sie dachte nicht an die stumme Auseinandersetzung, die sie bei ihrem ersten Besuch in der Hauptstraße mit ihm hatte.

Sie konnte nicht die Hälfte von dem bekommen, was sie zum Essen einkaufen wollte, doch das gab dem Ganzen einen etwas abenteuerlichen Anstrich. Wenn sie es durchsetzte, in Dahl & Olesons Fleischerei Kalbsmilch zu bekommen, war der Triumph so groß, daß sie vor Vergnügen trällerte und den starken klugen Fleischhauer Herrn Dahl bewunderte.

Sie freute sich an der gemütlichen Behaglichkeit des Dorflebens. Sie hatte die alten Männer gern, Farmer, Bürgerkriegsveteranen, die sich bei ihren Plaudereien manchmal auf dem Bürgersteig auf die Fersen hockten wie rastende Indianer und bedächtig über den Bordstein spuckten.

Sie entdeckte in den Kindern Schönheit.

Früher hatte sie geargwöhnt, daß ihre verheirateten Freundinnen ihre Leidenschaft für Kinder übertrieben. Doch in ihrer Arbeit in der Bibliothek waren die Kinder Individuen für sie geworden, Staatsbürger mit eigenen Rechten und eigenen Empfindungen. In der Bibliothek hatte sie nicht viel Zeit für sie gehabt, aber jetzt lernte sie das wonnevolle Vergnügen kennen, stehenzubleiben, Bessie Clark ernsthaft zu fragen, ob ihre Puppe sich vom Rheumatismus erholt habe, und Oscar Martinsen zuzugeben, daß es ein Mordsspaß wäre, Bisamratten zu fangen.

Sie dachte flüchtig: »Es wäre schön, selbst ein Kind zu haben. Ich möchte eines. Ein kleines – Nein! Noch nicht! Es ist so viel zu tun. Und ich bin auch noch müde von meiner Stellung. Ich spür' es noch in den Knochen.«

Sie ruhte daheim aus. Sie lauschte den Dorfgeräuschen, die in aller Welt, in der Dschungel und in der Prärie die gleichen sind. Geräusche, einfach und mit Zauber geladen – bellende Hunde, Hühner, die einen gurgelnden Ton der Zufriedenheit hervorbringen, Kinder beim Spiel, ein Mann, der einen Teppich klopft, der Wind in den Pappeln, eine zirpende Heuschrecke, Schritte auf dem Weg, die lebhaften Stimmen von Bea und einem Kaufmannsjungen in der Küche, ein klirrender Amboß, ein Klavier – nicht zu nahe.

Mindestens zweimal in der Woche fuhr sie mit Kennicott ins Land, um auf Seen, die im Sonnenuntergang wie Emaille schimmerten, Enten zu jagen, oder um Patienten zu besuchen, die zu ihr als der Frau des Edelmanns aufsahen und ihr für Spielzeug und Zeitschriften dankten. An den Abenden war sie mit ihrem Mann im Kino und wurde von allen anderen Paaren lärmend begrüßt; oder sie saßen, solange es noch nicht zu kalt war, auf der Veranda, riefen Leuten, die im Automobil vorbeifuhren, oder Nachbarn, die Blätter zusammenrechten, etwas zu. Der Staub färbte sich golden im Licht der tiefstehenden Sonne; die Straße war voll vom Duft heißer Blätter.

5

Aber nebelhaft wünschte sie sich jemand, dem sie sagen könnte, was sie dachte.

An einem trägen Nachmittag, als sie trödelnd nähte und wünschte, das Telephon sollte klingeln, meldete Bea Fräulein Vida Sherwin.

Wenn man Vida Sherwin genau betrachtet hätte, würde man trotz ihrer munteren blauen Augen gesehen haben, daß ihr Gesicht leichte Linien zeigte und, wenn auch nicht bleich, so doch ohne blühende Farben war; man hätte gesehen, daß ihre Brust flach und ihre Finger von Nadel, Kreide und Federhalter rauh waren; daß ihre Blusen und glatten Tuchröcke nichts Persönliches hatten, und daß ihr Hut, den sie zu weit hinten trug, eine nüchterne Stirn frei ließ. Aber man sah Vida Sherwin nie genau an. Man konnte nicht. Ihre elektrisierende Rastlosigkeit hüllte sie in einen Schleier. Sie hatte die Lebhaftigkeit eines Wiesels. Ihre Finger flogen; ihre Zuneigung äußerte sich in Eruptionen; sie saß ganz am Rande des Stuhls vor Eifer, ihrem Zuhörer nahe zu sein, ihm ihre Begeisterung und ihren Optimismus aufzuzwingen.

Sie flog ins Zimmer und legte los: »Ich fürchte, Sie werden es für eine Schlechtigkeit halten, daß die Schulleute Sie noch nicht aufgesucht haben, aber wir wollten Ihnen zuerst Ruhe beim Einrichten lassen. Ich bin Vida Sherwin und versuche Französisch und Englisch und noch ein paar Sachen in der Hochschule zu unterrichten.«

»Ich habe gehofft, die Lehrkräfte kennenzulernen. Wissen Sie, ich war Bibliothekarin –«

»Oh, Sie brauchen mir nichts zu erzählen, ich weiß alles von Ihnen! Schrecklich, wieviel ich weiß – dieses verklatschte Dorf. Wir brauchen Sie hier so sehr. Es ist eine liebe, treue Stadt (und Treue ist doch das Schönste auf der Welt!), aber sie ist ein ungeschliffener Diamant, und wir brauchen Sie zum Polieren, und wir sind so voller Demut –« Sie mußte Atem holen und vollendete ihr Kompliment mit einem Lächeln.

»Wenn ich Ihnen nur helfen könnte – würde ich eine Todsünde begehen, wenn ich ganz leise sagte, daß ich Gopher Prairie für ein klein wenig häßlich halte?«

»Natürlich ist es häßlich. Fürchterlich! Obwohl ich wahrscheinlich der einzige Mensch in der Stadt bin, dem Sie das getrost sagen können. (Vielleicht außer dem Rechtsanwalt Guy Pollock – haben Sie ihn kennengelernt? Oh, Sie müssen! – Er ist wirklich ein reizender Mensch – intelligent und gebildet und so fein.) Aber ich mach' mir nicht viel aus der Häßlichkeit. Das wird sich ändern. Es ist der Geist, der mich hoffen läßt. Der ist gesund. Vernünftig. Aber ängstlich. Er braucht lebendige Geschöpfe wie Sie, die ihn aufwecken können.«

»Ausgezeichnet. Was soll ich tun? Ich habe darüber nachgedacht, ob es nicht möglich wäre, einen guten Architekten herkommen und Vorträge halten zu lassen.«

»Ja–a, aber meinen Sie nicht, daß es besser wäre, mit schon existierenden Einrichtungen zu arbeiten? Vielleicht klingt es Ihnen etwas dumm, aber ich dachte – Es wäre entzückend, wenn wir Sie für den Unterricht in der Sonntagsschule gewinnen könnten.«

Carola zeigte den leeren Ausdruck eines Menschen, der merkt, daß er einen völlig Fremden gegrüßt hat. »O ja. Aber ich fürchte, ich würde mich nicht gut dafür eignen. Meine Religion ist so verschwommen.«

»Ich weiß. Meine auch. Ich mach' mir nicht so viel aus Dogmen. Obwohl ich natürlich am Glauben an die Vaterschaft Gottes, die Brüderschaft der Menschen und die Führerschaft Jesu festhalte. Wie Sie natürlich auch.«

Carola sah wohlanständig drein und dachte daran, Tee zu trinken.

»Und das ist alles, was Sie in der Sonntagsschule zu unterrichten brauchen. Der persönliche Einfluß macht es. Dann haben wir den Bibliotheksausschuß. Dort könnten Sie sehr nützlich sein. Und natürlich ist unser Frauenstudierklub da – der Thanatopsis-Klub.«

»Tut man dort etwas? Oder hält man Vorträge, die aus dem Lexikon stammen?«

Fräulein Sherwin zuckte die Achseln. »Vielleicht. Aber doch, sie sind so ernsthaft, sie werden auf Sie eingehen, weil Sie neu und wichtig sind. Und der Thanatopsis leistet ziemlich viel Gutes – sie haben die Stadt dazugebracht, viele Bäume zu pflanzen, und sie leiten den Warteraum für die Farmerfrauen. Und sie haben so viel Interesse für Bildung und Kultur. So – wirklich, so einzigartig!«

Carola war durch nichts eigentlich Greifbares enttäuscht. Sie sagte höflich: »Ich muß mir alles überlegen. Ich muß mich zuerst eine Zeitlang umsehen.«

Fräulein Sherwin sprang auf sie zu, fuhr ihr über das Haar und starrte sie an. »Ach, meine Liebe, glauben Sie, ich weiß das nicht? Diese ersten zärtlichen Tage der Ehe – sie sind mir heilig. Das Heim, die Kinder, für die Sie da sein müssen, die ohne Sie nicht leben könnten und sich mit ihrem runzlichen kleinen Lächeln an Sie wenden. Und der Herd und –« Sie verbarg Carola ihr Gesicht, während sie sich mit dem Kissen auf ihrem Sessel zu schaffen machte, fuhr aber mit ihrer früheren Lebhaftigkeit fort:

»Ich meine nur, Sie müssen uns helfen, wenn Sie so weit sind … Ich fürchte, Sie werden mich für konservativ halten. Das bin ich auch! Es ist ja so viel zu konservieren. Der ganze Schatz amerikanischer Ideale. Festigkeit und Demokratie und Tüchtigkeit. Vielleicht nicht in Palm Beach, aber, Gott sei Dank, wir kennen solche sozialen Unterschiede hier nicht. Ich hab' nur eine gute Eigenschaft, einen überwältigenden Glauben an das Hirn und das Herz unserer Nation, unseres Staates, unserer Stadt. Der ist so stark, daß ich manchmal ein ganz klein wenig Einfluß auf die hochmütigen oberen Zehntausend gewinne. Ich rüttle sie auf und bringe sie zum Glauben an Ideale – ja, an Ideale in ihnen selber. Aber ich fang' schon wieder an zu unterrichten. Ich brauche junge kritische Wesen wie Sie, die mir einen Stoß geben können. Sagen Sie, was lesen Sie?«

»Ich habe ›Die Verdammnis der Theron Ware‹ wieder gelesen. Kennen Sie es?«

»Ja. Es ist klug. Aber hart. Der Mann wollte niederreißen, nicht aufbauen. Zynisch. Oh, ich hoffe, ich bin nicht sentimental. Aber ich kann gar keinen Nutzen an dieser hohen Kunst sehen, die uns gewöhnliche Werkarbeiter nicht ermutigt, weiterzuschuften.«

Es folgte ein fünfzehn Minuten währender Streit über das älteste Thema in der Welt: Es ist Kunst, aber ist es hübsch? Carola versuchte viel über Ehrlichkeit der Beobachtung zu sagen. Fräulein Sherwin verteidigte Lieblichkeit und vorsichtigen Gebrauch der unangenehmeren Eigenschaften des Lichts. Schließlich rief Carola:

»Es macht mir gar nichts, daß wir nicht einer Meinung sind. Es ist eine Wohltat, einen Menschen zu haben, mit dem man auch über etwas anderes als die Ernte reden kann. Erschüttern wir Gopher Prairie in seinen Grundfesten: trinken wir Tee statt Kaffee.«

Die entzückte Bea half ihr den alten aufklappbaren Nähtisch, dessen gelbschwarze Oberfläche von den punktierten Linien des Schneiderrädchens zerkratzt war, aufstellen und decken: mit einem gestickten Tischtuch und dem violetten japanischen Teeservice, das Carola von St. Paul mitgebracht hatte. Fräulein Sherwin vertraute ihr ihren neuesten Plan an – moralische Filme für Landbezirke, mit Licht von einem transportablen Dynamo auf einem Fordwagen. Bea wurde zweimal gerufen, um die Heißwasserkanne nachzufüllen und Zimttoast zu machen.

Als Kennicott um fünf nach Hause kam, bemühte er sich, so vornehm höflich zu sein, wie es dem Gatten einer Dame ziemt, die Teebesuch hat. Carola schlug vor, daß Fräulein Sherwin zum Abendessen bleiben und Kennicott Guy Pollock, den vielgepriesenen Anwalt, den dichterischen Junggesellen, einladen solle.

Ja, Pollock konnte kommen. Ja, er hatte die Grippe überstanden, die ihn damals verhindert hatte, zu Sam Clark zu kommen.

Carola bedauerte ihren Impuls. Der Mann würde ein von sich eingenommener Politiker sein und plumpe Scherze über die junge Frau machen. Als Guy Pollock aber kam, merkte sie, daß er eine Persönlichkeit war. Pollock war ein Mann von vielleicht achtunddreißig Jahren, zierlich, still, achtungsvoll. Seine Stimme war leise. »Es war sehr freundlich von Ihnen, mich kommen zu lassen«, sagte er; er machte keine scherzhaften Bemerkungen und fragte sie nicht, ob sie Gopher Prairie nicht für »das munterste kleine Nest im Staate« halte.

Beim Abendessen sprach er von seiner Liebe für Sir Thomas Browne, Thoreau, Agnes Repplier, Arthur Simons, Claude Washburn und Charles Flandrau. Er führte seine Idole schüchtern vor, aber Carolas Belesenheit, Fräulein Sherwins umfangreiches Lob und Kennicotts Duldsamkeit für jedermann, der seine Frau unterhielt, ließen ihn ein wenig aus sich herausgehen.

Carola konnte nicht recht begreifen, warum Guy Pollock seine langweilige Praxis hier fortführte, warum er in Gopher Prairie blieb. Sie hatte niemand, den sie fragen konnte. Weder Kennicott noch Vida Sherwin hätten verstanden, daß es für einen Pollock Gründe geben könnte, nicht in Gopher Prairie zu bleiben. Sie freute sich über ihr kleines Geheimnis. Sie hatte ein Triumphgefühl und kam sich ein wenig literarisch vor. Sie hatte bereits eine Gruppe. Es würde nur noch eine kleine Weile dauern, bis sie in der Stadt Fächerfenster einführen und Galsworthy bekannt machen würde. Sie tat etwas! Als sie das schnell aus Kokosnuß und Orangenschnitten zusammengestoppelte Dessert anbot, rief sie Pollock zu: »Glauben Sie nicht, daß wir einen Theaterklub gründen sollten?«


 << zurück weiter >>