Leo Leipziger
Mascotte
Leo Leipziger

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30. Kapitel.

Die Erlösung.

Sie beschwichtigte zu Hause Emmy, welche sich ihretwegen in größter Aufregung befand, und plauderte noch ein Stündchen mit ihr in heiterster Weise.

Dann ging sie in ihr Zimmer und setzte sich an den Schreibtisch. Sie richtete zwei kürzere Schreiben an ihre Mutter und ihren Bruder und ein längeres an Dubski, Sanders und Emmy. Sie ließ die drei Kuverts auf dem Schreibtisch liegen, nahm das Licht und ging ins Schlafzimmer.

Emmy schlief.

Anna kniete vor ihrem Lager nieder und verrichtete ein inbrünstiges Gebet. Dann löschte sie das Licht aus und warf sich angezogen auf das Bett.

Nach einer Weile rief sie laut »Gut' Nacht, Emmy.«

Die Angeredete schreckte empor, rieb sich die Augen und fragte im Halbschlummer: »Was ist denn, Ännchen?«

»Nichts, mein Schätzchen,« erwiderte diese, »ich wollte Dir bloß gute Nacht sagen.«

Sie stand auf, ging zum Lager der Schwester und drückte ihr einen heißen Kuß auf die Lippen.

»Gute Nacht, mein süßes Schwesterchen!«

»Gute Nacht, liebste, beste Anna.«

Anna ging zu ihrem Lager zurück und wartete.

Nach etwa zehn Minuten kündeten die ruhigen Atemzüge der Schlafenden, daß von dieser Richtung der keine Gefahr mehr für sie vorhanden war.

222 Mit kaum hörbaren Schritten verließ Anna das Zimmer.

Hut, Schleier und Mantel lagen bereit.

Noch wartete sie einen Augenblick, ob das Geräusch die Schwester erweckt habe.

Aber nein, es blieb alles still, mäuschenstill.

Anna hatte einen Revolver bei ihren Sachen. Nun steckte sie ihn zu sich. Die Korridortür fiel mit einem kaum merklichen Geräusch ins Schloß, und auf den Fußspitzen ging Anna die Treppe hinab.

Sie stand auf der Straße.

»Die beste Erinnerung meines Lebens soll auch die letzte sein,« sprach sie.

Sie führte die Hand an die Lippen und warf einen glühenden Kuß reiner, lauterer Schwesterliebe zu dem Fenster hinauf, hinter welchem Emmy im kindlichen Schlummer der Unschuld ruhte.

Und jetzt wanderte Anna dem Orte zu, an welchem sie zu sterben beschlossen hatte.

Dort, am Goethe-Denkmal, wo sie die erste Unterredung mit Wahrendorff gehabt, dort wollte sie ihr elendes Leben enden.

Der Mond beleuchtete in voller Pracht den weißen Marmor des Standbildes. Die Bäume und die Blumen dufteten, tiefer Frieden lag über der Natur.

Und dieser Frieden zog auch langsam ein in die Seele des gepeinigten Menschenkindes.

Anna fühlte sich so leicht, so wohl, als wenn sie dieser Welt schon entrückt wäre. Es kam ihr vor, als ob ihr ganzes Schicksal wirklich nur ein Traum gewesen, und es in ihrer Hand läge, zu erwachen, wann es ihr beliebte.

Eine überirdische Stimmung war über sie gekommen, und sie ließ sich auf einer Bank nieder, gerade gegenüber von dem Dichterfürsten.

223 Unverwandt staunte sie das edle Antlitz an. Und da war es ihr, als ob er sie lächelnd anblickte und ihr freundlich zusprach.

Sie glaubte Worte des Mitleids und der Liebe zu vernehmen, und selig lächelnd vermeinte sie den Chor der Engel zu hören:

Gerettet ist das edle Glied
Der Geisterwelt vom Bösen!
Wer immer strebend sich bemüht,
Den können wir erlösen!
Und hat an ihm die Liebe gar
Von oben teilgenommen,
Begegnet ihm die sel'ge Schar
Mit herzlichem Willkommen.

Anna lächelte beglückt. Sie verstand die ihr zuteil gewordene Offenbarung. Auch sie hatte gestrebt, um sich rein zu waschen von den Sünden, auch sie hatte sich gemüht in ehrlicher Arbeit, in heißem Ringen, und für die Liebe – für die Liebe wollte sie ja ihr Leben hingeben, ihr Blut vergießen.

Sie war also würdig, in die Schar der Seligen aufgenommen zu werden, sie, die Unglückliche, Elende, Verworfene – die Ballhaus-Anna.

Sie schloß die Augen. Mechanisch griff sie nach der Waffe und führte sie an die Schläfe.

Sie hörte noch einen Knall und fühlte noch, wie sie zu Boden stürzte.


Dann träumte sie, daß Wahrendorff vor ihr stände, mit bleichem, abgezehrtem Gesicht wie damals, als sie ihn zuletzt in Paris gesehen. Er reichte ihr gütig die Hand und deutete nach dem Himmel, von dem eine Schar Engel sich herniederließ.

224 Da plötzlich hatte sie das Gefühl, als ob sie festgehalten würde.

Sie blickte sich um. Emmy klammerte sich an sie und schrie wie damals in der Mulacksstraße: »Änne, nimm mich doch mit.«

Da nahm sie die Hand der Kleinen, machte sie von ihrem Gewande los und führte die Schwester zu Dubski und Sanders, die dabeistanden.

Als sie nun zu Wahrendorff zurückkehren wollte, da erschienen plötzlich Georg und Asta, und versperrten ihr den Weg.

Sie konnte mit aller Kraft nichts gegen die beiden ausrichten.

Und als sie um Hilfe schrie, da entfernte Wahrendorff mit kräftiger Faust die beiden und reichte ihr die Hand.

Sie stieg nun langsam mit ihm empor, und als sie noch einmal zur Erde blickte, sah sie ihre Mutter auf dem Boden liegen, weinend und klagend.

Aber sie konnte ihr nicht mehr helfen!



Auf jener Insel der Nordsee, wo sie mit Wahrendorff geweilt hatte, war ein kleiner Friedhof für die Unglücklichen, welche, heimatlos an den fremden Sand gespült, an dieser Stätte die letzte Ruhe ihres Erdenwallens finden.

Hier, in dieser Heimat für Heimatlose, hat Anna auf ihren Wunsch die letzte Ruhe gefunden.

 


 


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