Leo Leipziger
Mascotte
Leo Leipziger

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26. Kapitel.

Eine Provinzbühne.

Annas Plan ward zur Wirklichkeit. Sanders hatte ihr ein günstiges Sommer-Engagement an das Stadttheater in Heidelberg verschafft, und auf dem Wege dorthin konnte sie der Schwester endlich den oft geplanten Besuch abstatten.

Emmy war ein bleiches, schlankes Mädchen geworden, auf dessen zartem, blassem Gesicht Schwermut und Traurigkeit eingegraben waren. Die dunklen Augen hatten den eigentümlichen Glanz, welchen man wohl bei Menschen antrifft, deren geistige Entwicklung der des Körpers vorausgeeilt ist.

Die Stunden, die Anna mit der angehenden Lehrerin verbrachte, waren voll tiefen Glückes und inniger Zärtlichkeit.

Aber als der Zug sie dann ihrem neuen Ziele, Heidelberg, entgegentrug, freute sie sich, nun endlich unter Menschen zu kommen, die sie nicht kannten und nichts von ihr wußten. Der Gedanke, von nun an ganz ihrer Kunst leben zu können, beseligte sie, und ein glückliches Lächeln umschwebte ihre Lippen.

Endlich fuhr der Zug in den Bahnhof ein.

Die alten Burschen der Korps und Verbindungen hatten sich mit Dienern und Doggen eingefunden in der Absicht, Umschau nach etwa ankommenden brauchbaren Füchsen zu halten.

194 Unter all dieser trotzigen, lebensfrohen Jugend erblickte Anna einen Herrn, welcher augenscheinlich nicht zu jenen gehörte. Der Betreffende trug einen großen Schlapphut, welcher ein dickes, glattrasiertes, mit zwei listigen und doch gutmütigen Augen versehenes Gesicht beschattete. Die Hände steckten in einer Joppe, die Zigarre hing in einem Mundwinkel und zwar so, daß die eine Hälfte der Lippen dadurch um vieles länger erschien als die andere.

»Halt,« dachte Anna, »das muß dein Mann sein.« Und sie eilte spornstreichs auf den Herrn zu.

»Mein Name ist Anna Hanke. Herr Direktor Sanders . . . . .«

»Na also,« versetzte der Angeredete lächelnd, indem er ihr beide Hände entgegenstreckte. »Sie haben sich wohl gleich gedacht, daß keiner von den jungen Leuten mit den bunten Mützen Ihr Theaterdirektor ist. Das konnte nur der Olle mit dem Pfaffengesicht und dem grauen Schlapphut sein. Nanu kommen Sie gleich mit, eine Wohnung für Sie ist schon gefunden.«

Sie bestiegen den Wagen und fuhren durch die Stadt über die alte Neckarbrücke, und von der anderen Seite des Wassers aus sah Anna bewundernd die alte goldglänzende Schloßruine, welche sich majestätisch aus dem grünen Waldesgrunde emporhob.

Der Wagen hielt.

»Es ist zwar etwas weiter von der Stadt, aber dafür haben Sie hier die herrliche Aussicht und die beste Luft,« sagte Bartels. »Die Wirtsleute sind zuverlässig, anständig und ehrlich.«

Eine dicke Dame, mit sauberer, weißer Schürze und Häubchen angetan, führte Anna in das Haus.

195 »Mutter Bärbele, zeigen Sie der Dame die Wohnung und begleiten Sie sie in einer Stunde nach dem Theater.«

»Wird geschehen, Herr Direktor,« knixte die Alte.

»Also in einer Stunde, Fräulein Anna, dann werde ich Sie mit den Kollegen und Kolleginnen bekannt machen.«

Annas Zimmer befand sich im ersten Stock. Die Einrichtung war einfach, aber alles blitzte von Sauberkeit. Ein kleines Gärtchen gehörte zum Hause, und die blühenden Fliederzweige strebten bis in die Fenster hinein.

Anna war überglücklich, und das gab ihr den Mut, das unerträgliche Geschwätz der Alten über sich ergehen zu lassen, welche ihr fortwährend neue Geschichtchen »von den Herren Studenten« auftischte. Somit war sie recht zufrieden, als sie endlich ins Theater gehen konnte.

Der kleine Musentempel lag in der Nähe der Hauptstraße. Es war ein Gebäude von unscheinbarem Aussehen, hatte nur einen Rang, machte jedoch von innen einen freundlichen und gemütlichen Eindruck. Als Anna eintrat, fand sie im Büro außer dem Direktor noch drei Personen vor, den ersten jugendlichen Helden und Liebhaber, die Salondame und die komische Alte.

»Fräulein Anna Hanke aus Berlin,« stellte der Direktor vor. »Herr Georg Berndt, Fräulein Asta Bonnettie, Frau Käthe Wölffel.«

Die drei Herrschaften erwiderten den freundlichen Gruß Annas mit einer Verbeugung, welcher von seiten des Herrn sehr höflich, von seiten der Damen, denen Annas Schönheit wenig Behagen verursachte, sehr steif ausfiel.

»Ich glaube,« begann Fräulein Asta, »ich habe schon einmal das Vergnügen gehabt, Sie zu sehen.«

»Ich erinnere mich wirklich nicht,« erwiderte Anna.

»Ich habe mit Interesse Ihre glänzende Karriere verfolgt, denn schon vor vielen Jahren hat mir ein Herr Wahrendorff 196 aus Berlin in Nizza das Beste für Ihre Zukunft prophezeit.«

Anna errötete über und über. Sie erinnerte sich jetzt an ihr erstes Zusammentreffen mit Asta bei Langlet. Schnell gefaßt erwiderte sie:

»Ach ja, Fräulein, jetzt denke ich auch daran. Sie müssen aber mein schlechtes Gedächtnis entschuldigen, denn ich war zu jener Zeit noch ein Kind, und Sie galten damals schon für eine erfahrene Dame.«

»Wie kann man so boshaft sein,« versetzte Asta wütend. »Jetzt lerne ich auch die Funken Ihres Geistes kennen. Früher kannte ich nur die Funken Ihrer Streichhölzer

»Halt, halt, meine Herrschaften,« legte sich der Direktor ins Mittel. »Es ist eine Spezialität von Fräulein Asta, daß sie immer Szenen macht. Nur kann sie leider diejenigen, welche die Dichter verfaßt haben, nicht spielen. Wenn die erste Unterhaltung gleich diese Wendung nimmt, muß ich womöglich noch eine Tapetenwand durch die gemeinsame Garderobe der Damen ziehen, um Unheil zu verhüten.«

»Beruhigen Sie sich, Herr Direktor,« warf nun auch mit wohltönender Stimme Herr Georg Berndt ein, »jedes schöne, junge Mädchen übt auf Fräulein Asta dieselbe Wirkung wie das rote Tuch auf den Kampfstier aus. Seien Sie also nicht böse,« und damit trat er Anna entgegen und führte ihre Hand an seine Lippen. »Und gestatten Sie mir, Sie dafür um so herzlicher zu begrüßen und willkommen zu heißen.«

Asta sah den Sprecher mit einem so unverhohlenen Ausdrucke eifersüchtiger Wut an, daß Anna erschrak und nicht recht wußte, was sie antworten sollte. So kam es, daß ihre Hand länger in der seinen blieb, als es unbedingt notwendig gewesen wäre, und dieser unfreiwillige Gnadenakt auch die Mißbilligung des Direktors zu erregen schien.

In einer Ecke am Fenster stand Frau Käthe Wölffel. Sie lächelte beseligt. Sie war immer glücklich, sobald sie zusehen 197 konnte, wenn zwei andere sich zankten. War der Streit vorbei, pflegte sie zu jeder Partei zu laufen und jedem recht zu geben.

»Fürs erste,« sagte Bartels, scheinen sich die Herrschaften ja ausgesprochen zu haben. Ich will die Gelegenheit bis zu dem zweiten Erdstoß dazu benutzen, um über Repertoire und Rollenverteilung mit Ihnen zu sprechen, und zwar zuerst mit Fräulein Hanke und Herrn Berndt.«


Der Sommer war ins Land gezogen, und Direktor Bartels machte vorzügliche Geschäfte. Anna und Georg teilten sich in die täglich wachsende Gunst des Publikums und bildeten, da das Ensemble immerhin etwas zu wünschen übrig ließ, die eigentlichen Stützen der Gesellschaft. In den äußeren Beziehungen der beiden zueinander war keine Veränderung eingetreten, aber unmerklich war der Moment nähergerückt, wo die kalte Berechnung des Mannes über die zögernde Aufrichtigkeit des Weibes triumphieren sollte.

Herrn Georg Berndt war nämlich bis dahin das Glück zuteil geworden, in Fräulein Asta die Geliebte und zugleich die Gönnerin zu finden, die ihre schon welkenden Reize und die Ersparnisse ihrer Hetärenlaufbahn freigiebig zur Verfügung gestellt hatte. Aber inzwischen war seine ursprüngliche Gleichgültigkeit in Haß und Ekel umgeschlagen, und Annas Schönheit hatte ihn mit neuen lockenden Hoffnungen erfüllt.

Von der Voraussetzung ausgehend, daß Anna sehr reich sei, hatte Berndt seinen Kriegsplan entworfen. Es lag ihm nicht daran, eine flüchtige Liaison nach dem Muster zahlreicher Präzedenzfälle anzuknüpfen, sondern er wollte definitiv mit Asta brechen und Anna deren ehrenvolle Stellung einräumen. Er kannte die Frauen zu gut, um nicht zu wissen, daß durch zu frühzeitiges stürmisches Begehren alles 198 verdorben werden könnte, und hatte sich vorgenommen, den großen Schlag erst dann zu wagen, wenn Annas Herz unheilbar verwundet sei.

Sentimentalität und Heimlichkeit schienen ihm zur Verwirklichung seiner Absichten die besten Waffen zu sein. Schüchtern und verlegen trat er ihr gegenüber auf, seine Zuversicht schwand scheinbar in ihrer Gegenwart, und er markierte sehr geschickt eine gewisse Verwirrung, wenn sie gelegentlich ein Gespräch mit ihm anknüpfte. Bei ihren gemeinschaftlichen, einsamen Spaziergängen log er ihr rührselige Familiengeschichten vor, sprach von harten Entbehrungen der Jugend, von seiner glühenden Liebe zur Kunst, von einer alten Mutter, welche daheim saß und das Glück hatte, durch die Großmut des Sohnes sorgenfreie Jahre zu genießen. Dann erzählte er von all den Versuchungen, die an ihn herangetreten seien, und denen er nicht immer widerstanden habe. Aber gleichzeitig betonte er mit Überzeugung und Wärme, daß sein Herz bei diesen Gelegenheiten niemals gesprochen, daß er die wahre Leidenschaft niemals empfunden, und die Erinnerung an diese Abenteuer nichts weiter als Ekel und Leere in seinem Gemüt erzeugt hätten. Mit Verachtung gab er Anna fingierte Briefe zu lesen, welche ihm angeblich von den Damen der besten Gesellschaft in die Garderobe geschickt würden, und ließ sie unter der Blume verstehen, daß er nur noch für die hohe, tiefe und reine Liebe zu haben sei.

Die skeptische Anna, welche in ihrem Leben so viele traurige Erfahrungen gesammelt hatte und alle diese Manöver nach ihrem wahren Werte hätte erkennen müssen, ließ sich durch seine Mätzchen und Jonglierkünste fangen. Das Unberechenbare der weiblichen Seele siegte auch hier über Verstand, Erfahrung und Vernunft, und aus voller Herzensneigung bewunderte sie den edlen, selbstlosen und reinen Charakter des neuen Freundes.

199 Und so kam es, daß ihre Verschlossenheit von Tag zu Tag mehr schwand, daß auch sie begann, tränenden Auges Aufschlüsse über ihr bisheriges Leben zu geben und vertrauensvoll ihr Herz durch die schlichte Erzählung der Vergangenheit zu erleichtern. Bei solchen Anlässen benahm sich der Beichtvater klug und geschickt. Wenn Anna sich weinend und jammernd selbst anklagte, dann wußte er sie durch gütiges, liebevolles Zureden davon zu überzeugen, daß sie im Grunde ganz schuldlos sei, und daß nur das harte Schicksal für ihre Fehltritte verantwortlich gemacht werden dürfe.

Soweit war alles aufs beste vorbereitet, und es war nur eine Frage der Tage, wann Anna die Schlinge, welche der geschickte Komödiant ihr gelegt, sich selbst zuziehen mußte.

An einem prächtigen Augustmorgen schritten die beiden ihrem Lieblingsplätzchen, der Stiftsmühle, zu. Sie hatten, um die staubige Chaussee zu meiden, den schattigen Weg über die Berge gewählt, und langsam gingen sie nebeneinander daher.

In wolkenloser Bläue wölbte sich der Himmel über ihnen, die Vögelein sangen von Lenz und Liebe, und die Schmetterlinge sogen den Honig aus den erblühten, farbenprächtigen Blumen.

Anna hatte soeben von dem traurigen Schicksal ihrer Mutter gesprochen und Georg alle möglichen Argumente angeführt, um die Selbstanklage der unglücklichen Tochter zu widerlegen.

»Sie sind die Märtyrerin, Anna,« sagte er schmeichelnd, »und es gibt auf der Welt kein Glück, welches groß genug wäre, um Sie für alles das zu entschädigen, was die bösen Menschen Ihnen angetan haben.«

»Ich verlange kein Glück mehr,« erwiderte Anna, »und es macht mich schon überselig, wenn ein Mann, wie Sie, mir Trost zuspricht statt mich zu verdammen und zu verachten. 200 Sie sind glücklich,« – setzte sie hinzu, indem sie ihre schönen Augen zu ihm aufschlug, – »denn Sie haben in ihrem Leben nur Gutes getan und Ihrer Mutter als braver Sohn zur Seite gestanden.«

Trotz seiner angeborenen Unverfrorenheit errötete Georg bis an die Haarwurzeln.. Er machte eine abwehrende Handbewegung.

»Es ist so leicht,« versetzte er nach einer Pause, »gut zu sein, wenn die Versuchung nicht an den Menschen herantritt, aber hilfreich und edel zu bleiben, wie Sie, wenn das Unglück uns dauernd verfolgt, das ist wahre Größe, das ist herrlich und bewunderungswürdig.«

Sie waren auf der Höhe angelangt, und lieblich lag das Neckartal zu ihren Füßen. Sie ließen sich auf einer Moosbank nieder und betrachteten in stummer Andacht die herrliche Natur. Tief drunten glitzerten die Sonnenstrahlen in den klaren Wellen, auf der anderen Seite des Flusses prangten die Berge in dunklem saftigen Grün, und nordwärts im Hintergrunde lag das freundliche Städtchen ruhig und friedlich da.

Annas Herz war voll zum Überströmen. Es war ihr so wohlig zumute, wie noch niemals in ihrem Leben. Die Vergangenheit schien ihr entrückt zu sein und wohlverwahrt hinter dem weißgrauen Nebel zu liegen, in dem der fernste Horizont verschwand. Das Leben erschien ihr jetzt strahlend und hoffnungsreich, und die Freude am Dasein blühte gewaltig und mächtig in ihr auf.

Georg, welcher ahnte, was in ihrer Seele vorging, lächelte spitzbübisch. Der Moment des Handelns dünkte ihm gekommen, und er sann nach, wie er wohl am geschicktesten zum Angriff übergehen könne. Leise und zögernd flüsterte er:

»Das ist heute, Fräulein Anna, so ein rechtes Wetter für zwei verliebte Menschen. Die Natur hat sich geschmückt 201 wie zum Hochzeitsfeste, und wir sitzen hier in dem prächtigen Rahmen, als ob das alles eigens uns zu Ehren so vorbereitet wäre.«

Lauernd blickte er das junge Weib an, um zu sehen, welchen Eindruck diese Worte auf sie machen würden. Als er bemerkte, daß Anna beseligt lächelnd lauschte und zum Himmel emporblickte, als ob seine Worte aus einer anderen Welt kämen, fuhr er ermutigt fort:

»Und wenn es nun so wäre! Wenn ich, der Liebende, zu Ihnen spräche: Warum nicht zugreifen, warum nicht die kurzen Stunden des Glückes genießen, welche uns in diesem irdischen Jammertal beschieden sind? Warum sich nicht des herrlichen Sonnenscheins im Sommer erfreuen, um traurig im düsteren Herbste einzusehen, daß man ein Tor gewesen ist, nicht genossen zu haben? Unsere Seelen fühlen miteinander, unsere Herzen schlagen einander entgegen. Sie wissen, daß ich von dem ersten Augenblick an, wo mir das Glück zuteil geworden, Sie zu sehen, nur für Sie gefühlt, nur an Sie gedacht, nur von Ihnen geträumt habe. Aber jetzt kann ich das Geheimnis, welches für Sie gewiß schon längst keines mehr war, nicht mehr hüten. Angesichts der herrlichen Natur rufe ich es hinaus in die weite Welt: Anna, ich liebe Dich!«

Anna hatte in stiller Verzückung zugehört. Als er geendet, ließ sie statt aller Antwort ihr Köpfchen an seine Brust gleiten, umschlang ihn mit den Armen, und die wundersamen Augen nahmen einen Ausdruck an voll seliger, hingebender Liebe.


Dann erhoben sie sich und wanderten schweigend, Hand in Hand, nach Hause zurück. 202

 


 


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