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Seitdem die Königsmauer abgerissen ist und die Stadtbahn stolz an den neuen Gebäuden der Zentral-Markthalle vorüberfährt, seitdem die prächtige Kaiser-Wilhelm-Straße ihre breite Flucht dem Verkehr eröffnet hat, und die renovierte Marienkirche mit ihrem schönen altertümlichen Turm von allen Seiten freigelegt ist, sah sich die Berliner Verbrecherwelt veranlaßt, für ihr dunkles Treiben ein neues Hauptquartier zu suchen. Konservativ, wie diese Gesellschaft nun einmal ist, hat sie einen Büchsenschuß weit von der früheren Ansiedlung jenseits des Alexanderplatzes eine neue Kolonie gegründet und somit auch der Bequemlichkeit, nicht allzuweit von dem Königlichen Polizei-Präsidium entfernt zu sein, Rechnung getragen. Die Straßenzüge, welche sich um den Garnison-Begräbnisplatz gruppieren, bilden heute den Stammsitz der Verbrecherwelt und der mit ihr in innigem Zusammenhange stehenden niedrigen Prostitution.
Es war gerade um die Mittagszeit, als aus einem Lokale der Mulackstraße, welche in jener Gegend belegen ist, die Töne eines verstimmten Klaviers und heiserer Stimmen auf die Straße drangen. Zwei der niedrigen Fenster des einstöckigen Gebäudes waren mit grellroten Gardinen geschmückt, während an dem dritten zahlreiche Likör-Flaschen das Schaufenster der Destille darstellten. Eine über der Tür befindliche rote Laterne diente in der Nacht als Leuchtturm für die durstigen Seelen der vielfach vorbestraften Stammgäste.
42 Hinter dem kleinen hölzernen Ladentisch stand die dicke schwarze Bertha, die Wirtin dieses unter dem Namen »Schmortopf« in Verbrecherkreisen wohlbekannten Restaurants. Sie hatte alle Hände voll zu tun, um die zahlreichen Gäste beiderlei Geschlechts, welche teils Billard spielend, teils rauchend, trinkend und plaudernd den niedrigen, dumpfen Raum füllten, zufriedenzustellen. Über dem Billard hing ein aus Pappe hergestelltes und mit einer Glocke versehenes Messer, welches die Aufschrift trug: »Wer weiß, ob's wahr ist?« und somit darauf hindeutete, daß auch hier der Aufschneider nicht ohne weiteres Glauben fand. Neben dem Litfaßschen Eisenbahn-Fahrplan, dessen hohe Bedeutung für die Insassen der Höhle ohne weiteres in die Augen springt, prangt das Reklame-Plakat eines Volksanwalts, welcher unter zahlreichen Tugenden und Vorzügen noch das eine rühmend hervorhebt, daß sein Büro auch während der Gerichtsferien nicht geschlossen ist. Die gedruckte Mahnung, Speisen und Getränke gleich zu bezahlen, erscheint ebenso praktisch wie selbstverständlich, und nur die bunte Ankündigung des Hotels Saxonia in der Königgrätzerstraße dürfte auf einem Scherz oder Mißverständnis beruhen. Ölfarbendruckbilder des Kaisers Wilhelm und des Kaisers Friedrich vervollständigen den Zimmerschmuck und lassen vermuten, daß selbst in diesen verfallenen Seelen ein letzter Rest von Patriotismus und Vaterlandsliebe noch nicht entschwunden ist.
Kurzgeschorene Mädchen, zum größten Teil noch in jugendlichem Alter, denen das Laster das frühzeitige Stigma der Krankheit, der Schande und der Luft des Arbeitshauses aufgedrückt hat, sitzen plaudernd zusammen und lachen frech über die rohen Scherze der anwesenden Männer. Ohne Kopfbedeckung, in bunte Lappen gehüllt, die Füße mit schwarzen Strümpfen und Halbschuhen bekleidet, die aus besseren Zeiten stammten und einstmals lackiert gewesen waren, trinken 43 sie alle möglichen alkoholhaltigen Getränke zusammen und betteln sich gegenseitig um Bezahlung an. Die Männer tragen zumeist Arbeiterkleidung, die aufgeschwemmten Gesichter verraten die Gewohnheitssäufer, Gemeinheit und Roheit spricht aus ihren Zügen.
An einem Ecktische hatten drei Individuen Platz genommen, welche durch ihre Kleidung vorteilhaft von den übrigen Gästen abstachen und mit leisen Worten ein erregtes Gespräch führten. Es waren Schönlein, der Judenkarl und der Schuster-Ede, letzterer der Bruder von Anna Hanke. Der Judenkarl verdankte seinen Spitznamen dem Umstande, daß er ein etwas semitisches Aussehen hatte, trotzdem er als guter evangelischer Christ für seinen irdischen Lebenswandel mit tödlicher Sicherheit den Strafen der Hölle entgegenging. Er beschäftigte sich damit, Ladendiebstähle in der Weise auszuführen, daß er beim Wechseln größerer Scheine die Verkäuferin verwirrte und die Ladenkasse schädigte. Ede war hierbei sein treuer Helfershelfer. Er war sechs Monate lang Schuster gewesen und hatte sich mit der Maxime, daß Handwerk einen goldenen Boden habe, nicht befreunden können. Außerdem waren sie beide als Zuhälter sehr gesucht, und die elegantesten Damen des Café National setzten einen besonderen Stolz darein, am Arme dieser beiden Beschützer die sonntäglichen Landpartien nach Schönweide zu unternehmen.
»Na, un Du weeßt jar nich, wat aus de Anna jeworden is?« fragte Karl.
»Nicht die Spur!« erwiderte Schönlein. »Aufgefallen war es mir ja allerdings, daß der schwarze Schmachtjunge seit acht Tagen immer da saß, wo ich mit Anna hinging, und ihr immer Blicke zuwarf, wie die Kuh dem Schlächter auf dem Viehhofe. Und gestern abend, als ich gerade Anna zum Ausgehen abholen wollte, fand ich nichts weiter als diesen Brief.« Damit holte er einen zerknitterten Wisch aus der 44 Tasche und hielt ihn den Freunden hin. Das Papier enthielt folgende Worte:
»Geliebtes Mäxel! Det Jeld is alle, und wat Du hast, brauchst Du for Dir. Der Herr, der mir Dir entfiehrt, hat, wie er sagt, ville tausend Millionen un will mir in Jold un Seide wickeln, wie die Stulle ins Schnupptuch. Schmuck und Austern hat er mir ooch versprochen, und da siehst De woll in, det ick det schon meine olle Mutter schuldig bin. Eich alle wer' ick nich verjessen und wundere Dir nich, wenn ick Eich nächstens mit de Jummi-Kalesche aus de Mulackstraße abhole. Mit dausend Kisse uff Wiedersehen
Deine ieberjlickliche Anna.«
Ede schüttelte den Kopf. »Wenn det man bloß nich Falle is. Det Meechen is noch zu dumm. Ehe so 'ne Wirmer nich ins dreißigste rinkommen, is es nu mal nischt mit de Überlejung.«
»Weeßte, Max,« sagte Karl, nachdem er seinen Zeigefinger längere Zeit nachdenklich an die glühende Nase gelegt hatte, »ick jloobe, ick habe eene feine Erleichtung. Wenn se, wat ick jloobe, noch beede in Berlin sind, denn jibt et bloß eene Sache. Anna is mächtig vor Pläsier un Verjniejen un will sich feste veramesieren. Wenn ick nu mit Ede zu unsere Meechens jehe, denn sagen die mer gleich, ob wat Neies in die Ball-Lokale uffjetaucht is, un denn kriejen wir ihr gleich beim Wickel.«
»Det is een juter Vorschlag!« meinte Ede. »Un zur Beruhijung for meine Olle kennen wer jleich loslejen.«
Bei diesen Worten winkte er einer alten Frau zu, welche, ein Paket unter dem Arm, soeben eingetreten war und Miene machte, den Inhalt desselben, Flitterkram und Tand, den anwesenden Vertreterinnen des weiblichen Geschlechts zum Kaufe anzubieten. Sie war als Händlerin in diesen Kreisen allgemein bekannt, kannte daher die ganze Rotte und diente 45 der Polizei als Vigilantin. Wenn es gerade das Geschäft so mit sich brachte, verschärfte sie auch einmal gelegentlich gestohlene Waren, und somit war Frau Blümel, genannt Lehnepumpe, in diesen Kreisen eine oft gesehene und willkommene Erscheinung. Mit dem listigen, beutegierigen Blick ihrer kleinen grauen Augen, welche dem gerunzelten, durch Zuchthausluft gelb gewordenen Gesicht mit der Habichtnase etwas Unheimliches verliehen, folgte sie dem Rufe.
»Na, wat is denn, womit kann de olle Blümel'n dienen, Ihr scheenen Lumpen? Aber erst spendiert mal eenen jroßen Scherbel.«
Schönlein winkte und bald stand das große Weißbierglas, mit bayerischem Bier gefüllt, vor der Alten.
Während sie behaglich und in bedächtigen Zügen den Inhalt leerte, setzte ihr Ede auseinander, worum es sich handelte.
»Det is schlimm,« meinte die Blümel'n.
»Das arme Mädchen,« seufzte Schönlein.
»Nee, for ihr nich, vor Dir, Max, weil De nu nischt zu futtern hast, und for Mutter Hanke'n, die nu alleene zu Hause mit de ville Streichhölzer sitzt, von die se sich doch keene Bollion kochen kann,« lachte die Blümel. »Aber det wird woll zu machen sind. Wat jibt Ihr mir denn vor det Jeschäft, vor't Rumloofen den janzen Dag?«
»Du sollst zehn Mark haben,« sagte Schönlein.
»Is jemacht!!«
Mit diesen Worten stand die Alte auf, nahm ihr Paket unter den Arm und ging hinaus. An der Ecke der Mulackstraße blickte sie sich scheu um, und nachdem sie sich überzeugt hatte, daß sie nicht verfolgt werde, schlug sie durch die Alte Schönhauser Straße langsam den Weg nach dem Polizei-Präsidium ein. 46