Leo Leipziger
Mascotte
Leo Leipziger

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19. Kapitel.

Chrysalide und Schmetterling.

Sechs Monate waren seit Wahrendorffs Rückkehr vergangen, und Anna hatte sich mit eisernem Fleiß und nimmer ermüdendem Feuereifer in ihre Studien gestürzt. In ihrem Charakter, in ihrer ganzen Denkweise, in ihrer ganzen Art, zu fühlen, war eine merkliche Veränderung vorgegangen. Sie war sich ihres schimpflichen Lebens voll bewußt, und doch wurde die Stimme des Gewissens, welche anfing, sich in ihr zu regen, noch von jenen Dissonanzen übertönt, welche aus den Zeiten der tiefsten Erniedrigung in ihrer Seele fortvibrierten. Noch gärte alles in ihrem Innern, und in wirrem Durcheinander rang das Gute und das Gemeine in ihrem Herzen um den Sieg.

Die stimulierenden Faktoren in diesem Ringen waren die Kunst und Sanders auf der einen, die Vergangenheit und Wahrendorff auf der anderen Seite. Und noch war der Chrysalide nicht anzusehen, welchen Schmetterling sie hervorbringen würde.

Sanders nahm sich seiner Schülerin mit einem Interesse an, welches nicht nur dem entdeckten Talente, sondern auch der liebenswürdigen Persönlichkeit galt. Wie Schönlein richtig vermutet, hatte der gereifte Mann eine wahre und innige Herzensneigung zu Anna gefaßt, und je tiefer die keimende Liebe in seinem Innersten Wurzel schlug, desto mehr hütete er sich, sein süßes Geheimnis dem Gegenstande seiner Verehrung zu offenbaren.

135 Anna widmete ihre ganze freie Zeit ihren Freunden Sanders und Dubski. Sie bildete sich an den Gesprächen dieser beiden erfahrenen und geistvollen Männer, und es waren die glücklichsten Stunden ihres Lebens, welche sie in dieser Gesellschaft zubringen durfte.

Sanders war ein Mann von etwa fünfzig Jahren. Er war von untersetzter Figur und hatte listige, doch gutmütige Augen. Sein kleiner Schnurrbart glich dem verkümmerten Knieholz im Hochgebirge, die Stirn hatte durch den frühzeitigen Verlust der Haare eine unfreiwillige Verlängerung bis an das Genick erfahren, und nur oberhalb der Ohren fanden sich noch spärliche Überreste des ehemaligen Kopfschmuckes.

Dieses fast unangenehme Äußere wurde jedoch reizvoll und interessant, wenn Sanders in ein eifriges Gespräch geriet. Dann sprühten die kleinen Augen Witz und Satire, der Geist verklärte sein Antlitz, und die hohe Stirn verriet Erfahrung, Klugheit und Urteil.

Sanders genoß selbst unter seinen Kollegen den Ruf eines unbedingt anständigen Menschen und eines ehrlichen, urteilsfähigen und bedeutenden Theaterkenners. Er hatte häufig Tournees in Deutschland und in Amerika unternommen, seine Mitglieder niemals sitzen lassen, war niemandem etwas schuldig geblieben und hatte sich folglich auch nie bereichert. Im Gegensatz zu den häufigen Typen unter seinen Kollegen, welche wie Behnitz kluge und gewissenlose Geschäftsleute waren, ließ er sich weder durch Schönheit noch durch Geld bestechen, und war im Gegenteil stets bereit, Talente, welche er für bedeutend hielt, nach seinen bescheidenen Kräften zu unterstützen und zu fördern. –

Gewöhnlich suchten die drei eine kleine Weinhandlung am Werderschen Markt auf, wo sie meist ungestört waren und ihren Gedanken freien Austausch gestatten konnten.

136 Es war im Monat Oktober, die Vorsaison hatte eben begonnen, als die drei sich nach einer Premiere wieder einmal in ihrem Stammlokal zusammen einfanden. Anna sah in ihrem schwarzen Tailor-dress ebenso vornehm wie schön aus. Sie trug keinen anderen Schmuck als zwei einfache Perlen in den Ohren, und ihre Augen leuchteten von dem eben gehabten literarischen Genusse.

Sanders begann die Unterhaltung:

»Bald werden wir hier nach Ihrem ersten Debüt sitzen, meine Gnädigste, und mit heiligem Grauen dem Morgen entgegentrinken, an welchem die Repräsentantin der öffentlichen Meinung, die Druckerschwärze, zum erstenmal Ihren Namen dem kunstverständigen Publikum der Haupt- und Residenzstadt Berlin preisgeben wird. Ich selbst zweifle nicht an dem Gelingen, falls Sie Ihre Energie auch an dem Abende der Entscheidung in gleicher Weise wie bisher betätigen.«

»Ich für meine Person,« warf Dubski ein, »schwanke noch sehr, ob ich Zeuge dieses Vorfalls sein werde. Im übrigen hoffe ich, daß Anna weniger Angst hat wie ich, sonst dürfte außer ihrem Herzklopfen im Zuschauerraum weiter nichts verständlich sein.

»Feigling,« unterbrach ihn Anna, »ich hätte den Mut, unter dem lebhaftesten Zischen der Korona zu Ende zu spielen, und will Ihnen nach der Zusammensetzung des Hauses durch das Guckloch des Vorhanges schon vorher ganz genau sagen, wie der Hase laufen wird. Höchstwahrscheinlich werden die Herren mich mit Beifall überschütten, und die Damen, welche sonst immer der Klatschsucht verfallen sind, an diesem Abende eine rühmliche Ausnahme von der Regel machen. Mit banger Sorge werden die Gattinnen den Eifer der Herren Ehemänner im Gebrauche des Opernglases verfolgen, und in den Pausen den Gebietern das auszureden suchen, 137 was sie während der Vorstellung in ihren Augen so deutlich gelesen haben.« –

»Sie irren, liebe Anna,« meinte Dubski, »wenn Sie glauben, daß die Damen der Premieren noch irgendwelche nennenswerte Eifersucht empfinden. Sie sind daran gewöhnt, sich über die Treue der Herren Gatten keine Illusionen zu machen, und es lohnt ihnen nicht, sich die letzten Jahre dieses Säkulums noch durch solche Sorgen zu verbittern. Vorläufig ist mit den alten abgeschmackten Gefühlssachen bei diesen Leuten nichts mehr durchzusetzen.«

»Sehr richtig,« pflichtete Sanders ihm bei. »Alfred de Musset hat denselben moralischen Zustand bereits in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts konstatiert und dem Übel die treffende Bezeichnung ›Krankheit des Jahrhunderts‹ verliehen. Solange es nicht gelingt, die Pontinischen Sümpfe völlig auszutrocknen, dürfte eben die Malaria nicht alle werden.«

»Eigentlich,« meinte Anna, welche ernst und nachdenklich geworden war, »sitze ich doch hier auf dem Mokierstuhl. Denn wie verwerflich muß ich sein, um bei voller Erkenntnis dieser Sachlage aus purer Lust am Wohlleben in diesen Kreisen zu verweilen, und zwar nicht einmal als gleichberechtigtes Mitglied, sondern als bezahlte Vergnügungsmaschine.«

Sanders war bei diesen Worten über und über rot geworden. Aber er nahm den Handschuh auf, indem er erwiderte:

»Und wenn Sie sich selbst zu dieser Erkenntnis durchgerungen, wenn Sie den ganzen Schimpf Ihres Daseins so deutlich empfinden, warum machen Sie kein Ende?! Statt Ihr bestes Können herzugeben, um mit Hilfe Ihres Talents sich anständig durchs Leben zu schlagen und nicht nur einen ehrlichen, sondern auch einen gefeierten 138 Namen zu erwerben, kleben Sie an dieser Scholle des sittlichen Elends und haben nicht den Mut, die goldenen Fesseln der Schmach zu zerreißen.«

»Warum erfreuen Sie mich dann mit Ihrer Freundschaft?« unterbrach ihn Anna ruhig, indem sie ihre großen Augen zu ihm aufschlug.

Sanders schwieg verlegen, und Dubski nahm für ihn das Wort:

»Dieser Vorwurf trifft mich in noch schärferem Maße, und ich will daher versuchen, Dir darauf zu antworten. Für jeden von uns beiden bist Du ein psychologisches Rätsel. Mich fesselt die moralische, ihn die künstlerische Seite Deines Ichs. Ich weiß, daß eine prächtige Welt in Deinem Herzen ruht, voll Güte und Edelmut. Aber die Lava des Unglücks hat eine undurchdringliche Schicht harten Gesteins um Dein Herz geschmiedet, und ich hoffe nur, daß der Schutt und das Geröll in kürzerer Zeit beseitigt werden mögen, als es dereinst mit Pompeji der Fall war.«

»Und wer soll dies beseitigen?« meinte Anna lächelnd.

»Nur die Liebe!« versetzte Sanders hastig, indem er ihre Hand ergriff. »Einst wird kommen der Tag, wo das hehre Gefühl, Liebe genannt, bei Ihnen Einzug halten wird, und ich preise den Mann glücklich, welchem sich Ihr Herz voll und ganz erschließt.«

»Der Moment wird nie kommen,« versetzte Anna mit Bitterkeit. »Ich werde niemals an die Selbstlosigkeit eines Mannes glauben, und glaubte ich ihm selbst, könnte ich den achten, der eine Verworfene an sein Herz zieht? – Nein, nein,« fuhr sie mit höhnischem Lachen fort, »es ist schon besser so! Was wißt Ihr beide von dem, was wir Stiefkinder des Schicksals mit den gewöhnlichen Worten Hunger und Elend bezeichnen. Ich will nicht mehr hungern« – und dabei stampfte sie mit dem Fuß auf – »und,« setzte sie 139 leiser hinzu, »meine Mutter und Schwester sollen auch nicht mehr hungern. Ich bin nicht mehr zu retten und mir ist nicht mehr zu helfen.

Was liegt daran, wenn heutzutage ein Weib mehr oder weniger über Bord geht? Ich will den Kelch des Unglücks bis auf die Neige auskosten, wenn es mir dafür gelingt, den reinen Becher der Freude für meine Schwester zu erkaufen. –

Glaubt mir nur, niemand wäre zufriedener und seliger als ich, wenn es mir gelänge, als Schauspielerin mich und die meinigen ohne fremde Hilfe durchs Leben zu bringen. Nicht eine Stunde länger würde ich unter Wahrendorffs Dache weilen und niemals mehr den Verlockungen der Sünde anheimfallen. Aber das sind Hoffnungen und Wünsche!

Vorläufig kann ich nicht anders handeln, und Gott weiß, welchen Ekel und welche Überwindung mich mein jetziges Leben kostet. Gekettet an einen Menschen, den ich aus vollster Seele verachte, sehe ich mit ruhigem Blute seinem unausbleiblichen Ruin entgegen, und bezwinge mich täglich und stündlich, um ihm nicht all das, was ich über ihn denke, ins Gesicht zu schleudern.

Meine schlimmste Strafe war die Erkenntnis.

Als sich durch Dubskis Erziehung die Wolken vor meinen Augen zerstreuten, als ich begriff, was die Welt bedeutet, und was ich darin geworden bin, als ich mit Überlegung und Vernunft Wahrendorffs Geliebte wurde, da packte mich so oft eine rasende Verzweiflung, daß ich am liebsten meinem jämmerlichen Dasein ein Ende gemacht hätte. Aber im entscheidenden Augenblicke tauchte stets der Gedanke an meine Schwester in mir auf. Was, sagte ich mir, soll aus ihr werden, wenn ich das Räderwerk meines Daseins selbst zertrümmere? Sollte ich sie wieder hineinstoßen in den Schmutz der Gemeinheit, in welchem wir die Kinderjahre zusammen 140 verlebt?! Und mein zweckloses Dasein durch einen noch weit verderblicheren Selbstmord beschließen?!!«

Sie seufzte tief auf. »Und nun, Sanders,« brachte sie nach einer Weile mühsam hervor, »denken Sie nicht gar zu schlecht von mir!«

Die beiden Männer hatten Tränen in den Augen und Sanders blickte sie mit glühender Verehrung an, indem er ausrief:

»Sie sind ein edles, verehrungswürdiges Geschöpf! Faust führte die Erinnerung an die Kinderzeit und das Läuten der Osterglocken in das Leben zurück, und in Ihrem Herzen erklang das Glöcklein der Schwesterliebe, um Sie in den Kampf des Daseins zurückzurufen. Und so wird auch einst von Ihnen der Chor der Engel singen:

Gerettet ist das edle Glied der Geisterwelt vom Bösen,
Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen.«

Dubski aber ergriff sein Glas, und indem er mit den beiden anstieß, daß ein leiser, harmonischer und glockenreiner Akkord in sanften Schallwellen durch das Zimmer zog, sprach er:

»Die beiden Retter Annas sind schon hier auf Erden, sie heißen die Kunst und die Liebe141

 


 


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