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Es war ein trüber, regnerischer November-Abend. Die Atmosphäre war in einen so naßkalten Nebel gehüllt, daß selbst die elektrischen Lampen Mühe hatten, etwas Helligkeit zu verbreiten, und die Gaslaternen aussahen wie trübe Öllichte. Trotz dieser abscheulichen Witterung ging es um die siebente Abendstunde in der Straße, welche zu dem Theater des Direktors Behnitz führte, außerordentlich lebhaft zu. Die lange Reihe der herrschaftlichen Equipagen bewies, daß etwas Besonders los war, und die Eleganz der Geschirre ließ darauf schließen, daß gerade der vornehmste Teil des Berliner Publikums sich heute abend ein Rendezvous geben würde.
Das Ereignis, welchem tout Berlin mit großem Interesse entgegensah, war aus dem vor dem Theater befindlichen Anschlage ersichtlich. Dort stand zu lesen:
Dienstag, den 21. November.
Der Fall Clemenceau!
* * * Isa, Fräulein Anna Hanke als Debüt.
Das freundliche, gut beleuchtete Haus bot denn auch einen festlichen Anblick. In den Fremden- und Proszeniumslogen hatten Mitglieder der Geburts- und Finanzaristokratie Platz genommen. Die Uniform und der Frack dominierten, während die Damen helle Toiletten und prächtigen Schmuck angelegt hatten.
142 In den Logen des ersten Ranges saßen die bekannten Premieren-Habitués. Vier blasierte Mitglieder der Jeunesse dorée aus Börsenkreisen gähnten sich an und wurden aus ihrer, durch ein gutes Diner hervorgebrachten Lethargie nur durch das Eintreten einiger auffallender Frauen aufgeschreckt, welche nach den verschiedensten Seiten des Hauses diskrete Grüße verteilten.
Aufgeputzte Bankiersfrauen unterhielten sich lebhaft, während die Ehegatten diese Zeit dazu benutzten, um ihrerseits unter der zahlreich erschienenen Demimonde Umschau zu halten.
Die Klubs hatten ein großes Kontingent geliefert. Vor allem waren die Sportsmen vollzählig erschienen. Dazwischen machten sich einige Fremde bemerkbar, welche mit großen Augen das ungewohnte Treiben beobachteten, und ferner thronten da oben so manche minderwertige Elemente, von denen selbst die Eingeweihten nicht recht wußten, woher sie das Geld für die Logenplätze genommen hatten.
Dubski und Sanders saßen angstvoll im Parkett, und Dr. Reim, welcher sich am Büfett noch schnell durch einige Brötchen gestärkt hatte, hatte zwischen einem langen Aristokraten und einem bekannten Unternehmer Platz genommen. Die Toga war durch einen der berühmtesten Verteidiger und einige weniger gesuchte, aber trotzdem in Smoking gekleidete Anwälte des Landgerichts I vertreten.
Auch die übrigen Bühnen hatten Mitglieder, welche an diesem Abend zufällig frei waren, entsendet.
Draußen im Foyer suchten Behnitz und Schönlein unter den zahlreich erschienenen Kritikern Stimmung zu machen, eine Aufgabe, bei welcher Riedel und Roon den beiden hilfreich an die Hand gingen.
Mit ironischem Lächeln durchschritt ein kleiner bartloser Herr die Menge, um sich, ohne an der allgemeinen Cour 143 gegenseitiger Lüge und Heuchelei teilzunehmen, direkt auf seinen Platz zu begeben. –
In der kleinen Orchesterloge an der Bühne lehnte Wahrendorff im Hintergrunde und kaute nervös an der Unterlippe, ein Zeichen, daß sich des sonst so kalten Spielers hier, wo es sich um die Befriedigung der eigenen Eitelkeit handelte, Aufregung und Unruhe bemächtigt hatten.
Als der Vorhang schon längst emporgerollt war, erschien, wie immer zu spät, dröhnenden Schrittes ein ebenso einflußreicher wie unbegabter Kritiker, welcher sich diese Art und Weise, sich bemerkbar zu machen, niemals entgehen ließ.
Bei dem völligen Einverständnis der mächtigen Clique mußte das erste Auftreten Annas zum Erfolge werden. Ihre sieghafte Schönheit, welche im Pagengewande des ersten Aktes voll zur Geltung kam, trug ihr nach dem ersten Fallen des Vorhangs drei Hervorrufe ein. Einige Zischer wurden durch lautes Bravorufen kampfunfähig gemacht, und Riedel und Roon beeilten sich, in der Pause den jüngeren Kollegen klarzulegen, welch verheißungsvolles Talent hier für die Kunst gewonnen sei.
Damit war die Angelegenheit entschieden, und wenn sie auch zum Entsetzen von Sanders, Dubski und des kleinen bartlosen Herrn mit dem spöttischen Lächeln ihre Rolle mehr schlecht wie recht spielte und weder den Ton zynischer Brutalität und schlangenhafter Geschmeidigkeit zu treffen wußte noch die verführerische Eleganz und die dämonische Lust glaubhaft verkörperte, so konnte die unzulängliche Leistung an dem Erfolge nichts mehr verderben.
Anna war lanciert. Die Clique hatte wieder einmal aus einer nicht talentlosen Anfängerin eine bedeutende Künstlerin gemacht. Immer und immer wieder mußte die Debütantin vor dem Vorhange erscheinen, und die Beifallsbezeugungen 144 nahmen erst ein Ende, als der letzte Mantel für die letzte Garderobenmarke eingetauscht war.
Zu den ersten Gratulanten, welche die Glückliche in ihrer blumengeschmückten Garderobe aufsuchten, gehörten Roon und Riedel. Sie gaben ihr die Versicherung, daß sie die Rolle entzückend gespielt habe, versprachen ihr wundervolle Kritiken und deuteten an, daß die befreundete Presse, also die überwiegende Majorität, derselben Ansicht sei.
Dann erschienen Sanders und Dubski.
Um diese glückliche Stunde Annas nicht zu beeinträchtigen, verschwiegen sie den Eindruck, den diese erste künstlerische Leistung auf sie gemacht, und begnügten sich damit, ihr zu dem unbestrittenen Erfolge herzlich zu gratulieren.
Auch Behnitz war natürlich im siebenten Himmel. Er küßte seinem zukünftigen Zugvogel dankbar die Hände, und Wahrendorff war stolz, als ob der Beifall ihm gegolten hätte.
Auch Schönlein schwamm in Wonne. Als wohlbestallter Dramaturg hatte er sich in kurzer Zeit in seine neue Stellung vollständig hineingelebt, und da sein Charakter und seine Anschauungsweise nach jeder Richtung hin denen seines Brotherrn entsprachen, so waren beide Teile miteinander zufrieden.
Bis zu diesem Augenblicke hatte Schönlein Anna gegenüber die größte Zurückhaltung bewahrt. Niemand im Theater konnte ahnen, daß der neue Stern und der Dramaturg sich von früher der kannten und in intimen Beziehungen gestanden hatten.
Anna war ihrem ersten Beschützer hierfür dankbar und versäumte keine Gelegenheit, bei Wahrendorff und Behnitz in den wärmsten Ausdrücken der Anerkennung von seinem Streben und seinen Fähigkeiten zu sprechen. Der eitle Bursche sah in dieser Huld nicht nur die Dankbarkeit seines Zöglings, sondern er bildete sich ein, daß die neue Schauspielerin dem alten Freunde immer noch in Liebe zugetan sei. Er hielt den 145 Abend des Debüts nun zur Verwirklichung seiner erotischen Pläne für geeignet, und nachdem er aufgepaßt hatte, bis der letzte Besucher die Garderobe der Künstlerin verlassen, klopfte er seinerseits bei Anna an.
Bei seinem Eintritt saß die überglückliche Debütantin, mit einem weißen, spitzenbesetzten Schlafrocke angetan, nachdenklich auf dem Diwan. Wie die Lilie auf dem Felde hob sie sich von den zahllosen Blumenspenden, welche das kleine Gemach vollständig füllten, wirksam ab. Nachdenklich hatte sie das Köpfchen geneigt und die Hände über den Knien gefaltet. Das aufgelöste Haar floß in goldenen Wellen herab, und der schwermütige Ausdruck ihrer Züge verlieh ihrer Person das Ansehen der büßenden Magdalena.
Sie reichte dem neuen Gaste herzlich die Hand.
»Es ist hübsch von Ihnen, Schönlein, daß Sie kommen. Wir sind ja beide jetzt ein gutes Stück in der Welt vorwärts gekommen, und gerade Sie kennen ja am besten den steinigen Weg, den wir beide gewandert sind. Die Vergangenheit beginnt sich allmählich in wohltuende Schatten zu hüllen, und am Horizont zeigt sich die klare Morgenröte der neuen Zukunft. Waren Sie auch mit mir zufrieden?«
Der Duft der Blumen und Annas Schönheit, der vertrauliche Ton, mit dem sie zu ihm sprach, die Erinnerung an verflossene Zeiten hatten jede Regung der Klugheit in Schönlein zurückgedrängt. Sein Gesicht war gerötet, und die Augen strahlten von dem Feuer sinnlicher Leidenschaft.
»Endlich am Ziel,« rief er aus, »die Parias haben aufgehört, aus der Gesellschaft ausgestoßen zu sein, die Leprakranken dürfen ihre Hütten verlassen und als geheilt in die Wohnungen ihrer glücklicheren Mitmenschen einziehen. Desto inniger knüpft uns das Band der Vergangenheit. Mit Stolz darf ich sagen, daß ich der erste war, der erkannte, welche Kräfte und Talente in Ihnen schlummern, und daß ich 146 Ihnen die Wege gewiesen habe, welche Sie zu Erfolgen und Ruhm geführt.«
Anna runzelte die Stirn.
»Vergessen Sie nicht, mein Lieber, daß ich meine erste Erziehung bei Ihnen nicht nur recht teuer erkauft, sondern auch bar bezahlt habe. Und Sie wissen, daß gerade der letztere Umstand mich Ihnen gegenüber jedes Dankgefühls enthebt. Wenn ich trotzdem für Ihre Zukunft gesorgt habe, so geschah dies unter der stillschweigenden Voraussetzung, daß Sie es nicht wagen würden, auf Dinge zurückzukommen, welche mit der Lupe meiner heutigen Anschauungen betrachtet, Ihre moralischen Zustände in einem recht bedenklichen Lichte erscheinen lassen.«
»Wozu die unnötige Erregung, meine Teuerste,« erwiderte Schönlein zynisch, und das Zittern seiner Stimme verriet, daß er im Innersten verwundet war. »Ich weiß zu viel, als daß Ihre sittliche Entrüstung mir gegenüber angebracht wäre. Man verleugnet nicht so ohne weiteres die Wölfe, mit denen man ehedem zusammen geheult hat, und das Benzin, mit dem man die Flecken der Vergangenheit total verwischt, ist noch nicht erfunden. Ich verlange ja nichts weiter als ein Teilchen von dem, was ich früher ganz besessen –«
»Unverschämter!« brauste Anna auf, indem sie sich wütend erhob, »wagen Sie es nicht, weiter in diesem Tone mit mir zu sprechen, sonst könnte ich meine Diskretion vergessen und Ihnen Dinge sagen, welche bisher im Grunde meiner Seele gut aufbewahrt lagen.«
»Hahaha,« lachte Schönlein, »die kleine Hanke hat an dem Erfolge des heutigen Abends noch nicht genug und gibt ihrem ersten Lehrer noch eine kleine Separat-Vorstellung. Aber warum wählen Sie eine Charakterstudie, welche Ihnen gar nicht liegt? Ich bin ja zufrieden, Clemenceau zu sein, und gebe Ihnen mein Ehrenwort, niemals eifersüchtig zu werden 147 und zum Messer zu greifen. Wenn der Herzog kommt, verschwinde ich ohne Groll und begnüge mich bescheiden mit den kleinen Abfällen der fürstlichen Tafel.«
Damit schritt er, taumelnd wie ein Betrunkener, auf Anna zu und legte seinen Arm um ihre Taille.
Aber Anna kam ihm zuvor. Mit einem gewaltigen Ruck machte sie sich von ihm los und stieß ihn an die Tür, daß das kleine Gemach erzitterte.
»Frecher Lump,« zischte sie ihn an, während er unter ihren Flammenblicken erbleichte. »Du hast's gewollt, nun sollst Du auch die ganze Wahrheit hören. Wenn ich noch tausendmal verworfener wäre, wie ich bin, wenn ich mich noch weit öfter verkauft hätte, als ich es getan, was wäre meine Schmach gegen die Deinige? Denn Du gehörst zu den verwerflichen Kreaturen, welche selbst die unterste Stufe der Moral nicht erklimmen können und ihr Leben bis an den Hals im Schmutze verbringen. Vom Lohn der Sünde zu leben, ist schändlich und gemein, und dafür sind wir in Acht und Bann. Aber ein Mann, der hieraus für sich Nutzen zieht und die Stirne hat, mit dreister Miene den Menschen noch offen ins Auge zu sehen und unter der Maske des Ehrenmannes unter sie zu treten, der ist schlimmer als das Laster, der ist elender als ein Verbrecher, der ist unsauberer wie der Schmutz. Und Du, Du gehörst zu diesen Erpressern und fluchbeladenen Schurken! Jetzt weißt Du, wie ich über Dich denke, und nun augenblicklich hinaus. Hinaus!«
Anna machte Miene, die Türe zu öffnen, aber Schönlein warf sich ihr entgegen. Leidenschaft und Wut hatten eine tierische Gier in ihm entfacht.
»Gut, gut«, tönte es heiser aus seiner Kehle, »das bin ich, und darum gehören wir beide zusammen, Ballhaus-Anna.«
148 Er stürzte auf das sprachlos dastehende Weib los und umschlang sie mit bestialischer Roheit.
Zu ihrem Glück hatte er jedoch die Rechnung ohne Wahrendorff gemacht, welcher in der Nähe mit Behnitz plauderte und ungeduldig auf seine Geliebte harrte. Die Männer vernahmen den Hilferuf eines Weibes und stürzten nach Annas Garderobe. Wahrendorff öffnete die Tür zuerst und überschaute die Situation. Mit einem kräftigen Rucke befreite er Anna von ihrem Verfolger, so daß dieser auf die Erde flog. Dann nahm er seinen Stock zur Hand und prügelte den Herrn Dramaturgen so weidlich durch, daß Schönlein in lautes Schreien und Wimmern ausbrach. Behnitz stand an der Türe und wußte nicht recht, was er sagen sollte.
Endlich machte Anna, welche inzwischen wieder zu sich gekommen war, der peinlichen Szene ein Ende. Sie riß Wahrendorff zurück und sagte:
»Der Hund hat genug Prügel bekommen. Hoffentlich braucht die Lektion nicht so bald wiederholt zu werden. Und nun, marsch auf die Straße!«
Schönlein erhob sich mühsam. Sein Rock war zerrissen, und der ganze Mensch über und über mit Staub bedeckt. Einige Rosenblätter, welche auf ihn gefallen waren, ließen ihn noch unwürdiger und grotesker erscheinen. Mit wuterfülltem Blick sah er Anna und seinen Züchtiger an. Und während er mit krummem Rücken und geballten Fäusten aus dem Zimmer lief, empfing ihn Behnitz draußen mit den Worten:
»Sehn Sie, Mäxchen, das kommt davon, wenn man dem Chef hinter seinem Rücken Konkurrenz machen will!« 149