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Als Wahrendorff am Abend die Räume des Klubs betrat, hatte er 50 000 Mark in der Brieftasche, den Erlös für Annas Schmuck. Er war fest entschlossen, mit Anwendung aller Mittel zu gewinnen, um seine Existenz wieder auf sichere Füße zu stellen.
Der Bruch mit Anna hatte jedes andere Interesse in ihm erstickt, und nur der eine Gedanke bewegte ihn, seine materiellen Verpflichtungen zu erfüllen, um seiner Leidenschaft und seinem Laster weiter frönen zu können. Er wechselte sich beim Haushofmeister für 30 000 Mark Jetons ein und setzte sich an den Ecarté-Tisch.
Die Spieler waren zahlreich erschienen, die reichsten und kühnsten Mitglieder waren versammelt, und Wahrendorff gelangte mit Befriedigung zu der Überzeugung, daß sich ein großes Jeu entwickeln würde. Vorläufig ging es noch ruhig zu, die Leidenschaften waren noch nicht erwacht, es war nur das geringfügige Geplänkel, welches der eigentlichen Schlacht vorausging.
Mehrere Herren kamen aus dem Theater und gratulierten Wahrendorff zu dem großen Erfolge, welchen Anna bei der Premiere des Abends errungen, und der Beglückwünschte nahm die Komplimente entgegen, als ob zwischen ihm und der gefeierten Künstlerin das frühere Einverständnis herrsche.
Nachdem inzwischen die Uhr die zwölfte Stunde geschlagen hatte, fingen am Ecarté-Tische die Wogen an etwas höher 167 zu gehen. Die Einsätze vergrößerten sich, und Wahrendorff hielt jetzt den Augenblick für gekommen, tätig einzugreifen. Er übernahm die Chouette und der Kampf aller gegen einen begann.
Das Spiel mochte etwa eine Stunde gedauert haben, und weder auf der einen noch auf der anderen Seite war ein nennenswerter Gewinn oder Verlust entstanden. Da fing jedoch das Glück an, Wahrendorff zuzulächeln. Er gewann eine Serie von sieben Partien, und war etwa mit 40 000 Mark im Gewinn. Die Gegenseite, welche zuletzt im Pointieren etwas zaghaft geworden war, glaubte jetzt den Moment gekommen, die Scharte auszuwetzen, um so mehr, als gerade an den glücklichsten und besten Spieler die Reihe, die Karten zu nehmen, gekommen war. Die Einsätze betrugen 50 000 Mark, und Wahrendorff erklärte nach kurzer Unschlüssigkeit, den Coup halten zu wollen.
Wenn er diese Partie gewann, konnte er seine Börsendifferenzen begleichen und war vorläufig gerettet.
Er mußte also als Sieger hervorgehen – um jeden Preis!
Er sah nicht, daß ein älterer Herr, der Direktor des Klubs, mit Klitzow und Ostrowski tuschelte, und daß diese drei Personen, welche nur Zuschauer waren, dicht an den gegenüberliegenden Rand des Tisches herantraten und mit größter Aufmerksamkeit den Gang des Spieles verfolgten.
Die Partie zog sich in die Länge. Beide Parteien hatten je vier Points angelegt, und jetzt mußte die Entscheidung fallen.
Wahrendorff hatte Karten zu gehen, und seine Hände zitterten unmerklich.
Die elfte Karte flog herum, es war der König – und Wahrendorff hatte die Partie gewonnen.
Da aber ereignete sich etwas Unerhörtes.
168 Als der Gewinner eben Miene machte, die Jetons einzustreichen, rief der Direktor plötzlich: »Halt!« Er gab den Dienern einen Wink, sich zu entfernen, und sagte dann mit halblauter Stimme, so daß nur die Umhersitzenden ihn verstehen konnten:
»Die Partie ist ungültig, meine Herren! Herr Wahrendorff hat falsch gespielt!«
Wahrendorff sprang wie rasend von seinem Sitze auf und machte Miene, auf den Sprecher loszugehen.
Ostrowski aber nahm das Wort und sagte:
»Keine unnütze Aufregung, Herr Wahrendorff. Wir alle haben hier gesehen, daß nach dem Abheben derselbe König die unterste Karte war, den Sie nachher als elfte umgedeckt haben. Ihr Leugnen dürfte daher nichts nützen.«
Wahrendorff sah, daß alles verloren war.
Schweigend ging er hinaus und stieg die Treppe hinab, während die beteiligten Herren sich das Ehrenwort gaben, über den Vorfall strengste Diskretion zu bewahren. – – –
Am nächsten Morgen um acht Uhr fuhr Wahrendorff mit seinem Kammerdiener Robert nach Paris, und mittags erzählte sich ganz Berlin, daß ein bekannter Sportsman und Spieler, der seine Börsendifferenzen nicht habe begleichen können, ausgerückt sei. – – – – – – – – – – –
Mit den übrig gebliebenen 20 000 Mark in der Tasche kam der Unglückliche in Paris an.
Sein Kopf war dumpf und schwer, das Fieber wühlte in seinem Blute, und es war ihm, als ob jeder ihm die Schande vom Gesicht lesen müßte.
Er suchte sich durch Wein und Weiber zu betäuben und goß den Champagner die Kehle hinab, ohne den brennenden Durst stillen zu können.
169 Am nächsten Tage fiel ihm im Café zufällig eine Berliner Zeitung in die Hände. Darin las er die Nachricht von den Zahlungsschwierigkeiten eines Bankhauses, welche mit dem Verschwinden eines bekannten Sportsman in ursächlichem Zusammenhange standen.
Mit grausigem Entsetzen ließ er das Blatt sinken. So saß er noch nachts um eins im Café de la Paix und brütete, was er beginnen sollte.
Er war zugrunde gerichtet, körperlich und moralisch. Der Selbstmord schien ihm der einzige mögliche Ausweg. Einmal kam ihm der Gedanke, ob er nicht versuchen könnte, sich durch ehrliche Arbeit von den häßlichen Flecken der Vergangenheit rein zu waschen, und mit dem kleinen Kapital, das ihm blieb, ein anderes, neues Leben zu beginnen.
Aber wozu und für wen?!
Ja, wenn Anna ihm gefolgt wäre, dann hätte er vielleicht den Mut gefunden, in den Kampf des Daseins einzutreten und mit ehrlichen Waffen ein ehrlicher Streiter zu werden.
Aber so, allein, wozu?!!
In der Großen Oper war Karnevals-Maskenball. Schöne Frauen und elegante Herren strömten in das Café hinein, die Unterröcke rauschten über den kleinen Füßchen, das Lachen der Glücklichen flog durch den Raum und blieb in den Ohren Wahrendorffs haften.
So hätte er auch leben können, glücklich und sorglos. Kein Lebensgenuß wäre ihm versagt gewesen, wenn ihn nicht der Teufel des Spiels in den Abgrund gestürzt hätte.
Er leerte sein Glas Champagner mit einem hastigen Zuge und ging hinaus. Als er langsam den Boulevard des Capucines hinunterwandelte, begegnete ihm ein Freudenmädchen, welches ihn mit frechen Blicken ansah. Sie war blond und hatte blaue Augen.
170 »Die Ballhaus-Anna,« murmelte er. »Komm her, schönes Kind, wir wollen Karneval feiern!«
Er reichte ihr den Arm und zog sie in ein Restaurant, wo er in einem Chambre separée ein glänzendes Souper bestellte.
Als Robert seinen Herrn am nächsten Morgen wecken wollte, fand er ihn in einem fürchterlichen Fieberanfall mit gerötetem Gesicht im Bette liegen.
Er holte schnell einen Arzt, und dieser machte ein bedenkliches Gesicht. Mittags kehrte Wahrendorffs Bewußtsein zurück, und er diktierte seinem Diener folgende Depesche an Anna:
»Es geht mit mir zu Ende. Habt Mitleid, Du und Dubski, und helft mir sterben. Aber bald, sonst ist es zu spät.
Wahrendorff.«
So schnell wie möglich trafen die beiden ein. Aber Wahrendorff hatte unter der Macht des Fiebers die Besinnung verloren und erkannte sie nicht.
Sie zogen einen in Paris lebenden deutschen Arzt zu Rate, welcher neben seiner Kunst ein scharfer Denker und bedeutender Philosoph war. Er war ein älterer Herr mit grauem Vollbart. Ohne viel zu fragen, durchschaute er mit seinen großen, durchdringenden und durchgeistigten Augen bald die Situation. Er stellte die Diagnose auf schweres, typhöses Nervenfieber und bereitete die Freunde auf das nahe Ende des Leidenden vor.
»Geist, Seele und Nerven waren gebrochen,« meinte er, »ehe der Körper brach. Auf dieser Erde ist ihm nicht mehr zu helfen!«
Es war ein kalte Februarnacht, als Wahrendorff noch einmal die Augen öffnete.
171 Der Schnee fiel in weichen Flocken hernieder, und unten auf der Straße hörte man das Gelächter ausgelassenster, fröhlichster Karnevalsstimmung.
Wahrendorff erkannte die Freunde, welche an seinem Lager knieten, und drückte ihnen mit dankbarem Blicke die Hände.
»Verzeih' mir,« sagte er mühsam zu Anna. »Ich habe Dich ja geschlagen, armes Kind.«
Anna küßte statt einer Antwort seine Hand.
»Und Sie, Dubski, Sie müssen nicht böse sein, daß ein Ehrloser Ihnen die Hand drückt.«
»Seht Ihr, Kinder,« entrang es sich mühsam seiner Brust, »ich bin ja so schwach, und so war ich mein ganzes Leben. Das war mein Unglück! Nur die Starken sind glücklich.«
Anna hatte den erkalteten Arm um ihren Hals gelegt. Herzlich sprach sie dem Kranken Mut ein.
Sie erzählte ihm, sie wolle Urlaub nehmen, um mit ihm zur Rekonvaleszenz an die Riviera zu gehen. Dort werde sie ihn pflegen, und er müsse dann wieder frisch und munter werden.
Wahrendorff hatte, während sie sprach, selig gelächelt.
Da plötzlich richtete er sich auf und sah Anna mit einem Blicke an, welcher schon aus einer anderen Welt zu kommen schien.
Seine Lippen hauchten »Zu spät!« und er sank regungslos in die Kissen zurück.
Er war nicht mehr.
Robert weinte still in der Ecke.
Anna und Dubski verrichteten ein stilles Gebet an dem Sterbebette. Sie beteten für das Heil des Entschlafenen.
Dann trat Dubski an das Fenster und öffnete es.
172 Ein grauer Morgen war angebrochen, die Temperatur war gestiegen, und der Schnee bildete ein schmutzige, dunkelfarbige Masse. Es war einsam auf der Straße geworden, trübe und traurig, die rechte Aschermittwochsstimmung.
Anna, deren Wangen blaß und deren Augen vom Weinen gerötet waren, blickte schmerzerfüllt zu dem grauen Himmel empor.
Zum erstenmal in ihrem Leben befand sie sich im Angesichte des Todes, und der furchtbare Ernst des Menschenschicksals trat ihr vor die Seele.
Stumm starrten die beiden, in Gedanken versunken, in die trübe Dämmerluft der schlummernden Großstadt hinaus. Endlich brach Dubski das Schweigen.
»Das Leben ein Traum,« sagte er, »und der Tod das Erwachen.
Wenn wir im Leben träumen, daß ein heftiger Schmerz uns peinigt, so erwachen wir. Und Sterben heißt nichts weiter, als den allergrößten Schmerz empfinden und den Traum des Lebens verlassen. Ich wüßte für die Unsterblichkeit der Seele, für das Fortleben des Geistes nach den Qualen dieser Welt kein besseres Argument anzuführen als die ewige Gerechtigkeit Gottes und der Natur für die Sorgen, Mühen und Qualen, welche das irdische Dasein mit sich bringt. Für die Strafe der Existenz, deren Zweck und Grund uns ewig ein ungelöstes Rätsel bleiben wird, erwirkt der Mensch ein Recht, dereinst die Geheimnisse des Weltalls, des Seins, den letzten Urgrund aller Dinge zu erfahren. Denn das Leben bleibt immer ein schwerer Kampf selbst für denjenigen, welcher hienieden nach Möglichkeit von Kummer und Sorgen verschont ist.
Auch unser armer Freund hat gekämpft und gerungen, wenn ihn auch die Moral tausendmal für seinen Lebenswandel verdammt. Sie wird ihm nicht das Zeugnis ausstellen, ein 173 nützllches Mitglied der menschlichen Gesellschaft gewesen zu sein, aber auch er ist seinen Calvarienberg hinaufgestiegen, und seine irdische Pilgerfahrt war um so trauriger, als ihm das Bewußtsein getaner Arbeit und gedeihlichen Wirkens und Schaffens nicht zuteil geworden ist. Das Fehlen dieses himmlischen Trostes auf Erden bildet schon auf dieser Welt die Strafe für alle diejenigen, welche sich den Pflichten der Menschheit entziehen. Und es bedarf daher keiner Androhung höllischer Qualen, um diese armen Erdensöhne noch vor dem Jenseits zittern zu machen. Das besorgen Reue und Gewissensbisse schon hier in diesem Jammertal. Das Leben an und für sich ist die Sühne und die Buße, und nach dem Tode kann es nicht schlimmer, nur besser werden.«
»Und doch,« erwiderte Anna sinnend, »ist dem Menschen dafür, daß im Gegensatz zu den Tieren auch die Seele fühlt und leidet, ein Mittel gegeben, seine Leiden abzukürzen und sich freiwillig dem höchsten Richter zu stellen.«
»Du meinst den Selbstmord?«
Anna nickte.
»Du hältst ihn also für erlaubt? – Ich bin anderer Meinung. Bekanntlich ist die Strafe das Recht des Verbrechers, und dieses Recht gibt er aus Händen, wenn er sich der Strafe entzieht. Es wird ja auch heutzutage den Leuten viel zu bequem gemacht. Die Alten hatten doch wenigstens den Mut, sich den Dolch oder das Schwert in die Brust zu stoßen. Jetzt gehört nicht viel Courage dazu, den Revolver an die Schläfe zu setzen, aber dagegen sehr viel Kraft, den Kelch des Unglücks bis auf die Neige zu leeren. Die Redensarten von unnützem Leben, verzweifeltem Ringen, verfehlter Existenz klingen alle recht schön, sind aber im Grunde nichts als hohle Phrasen, als Masken der eigenen Schwäche.«
Anna schüttelte den Kopf.
174 »Du magst recht haben, aber auch die Feigheit ist eine menschliche Eigenschaft, und da der Selbstmord möglich ist, so muß die göttliche Vorsehung diesen letzten Ausweg mit weiser Absicht eingerichtet haben.«
In diesem Augenblick erschien der Arzt, welchen Robert geholt hatte. Ein Blick auf das Lager überzeugte ihn, daß alles vorüber war, und so blieb ihm nichts übrig, als den Leidtragenden seine Hilfe für die zu erledigenden Formalitäten anzubieten.
Drei Tage darauf wurden Wahrendorffs irdische Reste in der fremden Stadt der Erde übergeben. Nach einem kurzen Gebet fielen die Schollen dröhnend auf den Sarg hernieder, und wenige Minuten später kündete ein kleiner, blumenbedeckter Hügel, daß wieder einmal einer den Weg alles Fleisches gegangen war.
So endete der Spieler Wahrendorff, bedauert von zwei Menschen, betrauert von niemandem.
Ein Sklave seiner Leidenschaften im Leben, ein reuiger Sünder im Tode.
Die Berliner Blätter meldeten sein Ableben mit der versteckten Andeutung, daß verfehlte Spekulationen ihn zum Selbstmorde getrieben hätten, und nur die Fachzeitungen würdigten in längeren Aufsätzen seine Verdienste um den deutschen Rennsport.
In den Klubs wurde noch einige Monate beim Spiel von ihm gesprochen, auch im Theaterbureau des Direktors Behnitz zuweilen sein Name genannt. In seiner Vaterstadt 175 Leipzig aber stellten die Patrizier ihren Söhnen Wahrendorffs Erdenwallen als trauriges Abschreckungsmittel auf.
Nach kurzer Zeit war auf seinem Grabe von Blumen nichts mehr zu sehen, und nur die Mutter Erde bedeckte mit mütterlicher Sorgfalt die irdischen Reste des glänzenden Kavaliers. 176