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Kapitel XI.
Von der Fähigkeit, die Ideen zu unterscheiden.

§ 1. Philal. Von der Fähigkeit, die Ideen zu unterscheiden, hängt die Evidenz und Gewißheit mehrerer Sätze ab, die für eingeborene Wahrheiten gelten.

Theoph. Ich gebe zu, daß man, um diese eingeborenen Wahrheiten zu denken und klar zu sondern, des Vermögens der Unterscheidung bedarf, darum hören sie aber nicht auf, eingeboren zu sein.

§ 2. Philal. Die Lebhaftigkeit des Geistes nun besteht darin, sich die Ideen schnell ins Bewußtsein zu rufen, aber es gehört Urteil dazu, sie sich deutlich zu vergegenwärtigen und genau voneinander zu unterscheiden.

Theoph. Vielleicht äußert sich in dem einen wie in dem anderen Lebhaftigkeit der Einbildungskraft, während das Urteil in der vernunftgemäßen Prüfung der Sätze besteht.

Philal. Ich stehe dieser Unterscheidung von Geist und Urteil gar nicht fern. Mitunter kann sich gerade darin Urteil zeigen, daß man es nicht allzu streng anwendet. Es wäre z. B. für manche geistreiche Gedanken gewissermaßen ein Schaden, wenn man sie nach den strengen Regeln der Wahrheit und der genauen Schlußfolgerung prüfen wollte.

Theoph. Das ist eine gute Bemerkung. Geistreiche Gedanken müssen freilich irgendeinen, zum mindesten scheinbaren Grund in der Vernunft haben; aber man muß sie nicht mit allzu großer Ängstlichkeit zerlegen, wie man auch ein Gemälde nicht allzu nahe betrachten darf. In diesem Punkte scheint mir der Pater Bouhours in seiner Schrift »L'art de penser dans les ouvrages d'esprit« mehr als einmal zu fehlen, so z. B., wenn er das geistreiche Wort des Lucan verächtlich behandelt: Victrix causa Diis placuit, sed victa Catoni Lucan, Pharsalia B. I, V. 128..

§ 4. Philal. Eine andere Tätigkeit, die der Geist an seinen Ideen ausübt, ist die Vergleichung zweier Ideen hinsichtlich der Ausdehnung, der Grade, der Zeit, des Ortes oder irgendeines anderen Umstandes: davon hängt jene große Zahl von Ideen ab, die man unter der Benennung der Relation begreift.

Theoph. Meinem Sinne nach ist die Relation allgemeiner als die Vergleichung. Denn die Relationen sind entweder Beziehungen der Vergleichung oder des Zusammenhanges. Die ersten betreffen die Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung (ich nehme diese Ausdrücke in einem weniger weiten Sinne) und hierin sind Ähnlichkeit, Gleichheit, Ungleichheit usw. mitbefaßt. Die zweite Art dagegen schließt eine bestimmte Verknüpfung in sich, wie die der Ursache und Wirkung, des Ganzen und der Teile, der Lage, Ordnung usw.

§6. Philal. Die Zusammensetzung der einfachen Ideen zu komplexen Ideen ist eine weitere Tätigkeit unseres Geistes. Man kann darauf das Vermögen beziehen, die Ideen zu erweitern, indem man gleichartige miteinander verbindet, wie wenn man z. B. aus mehreren Einheiten ein Dutzend bildet.

Theoph. In beiden Fällen handelt es sich zweifellos um ein Zusammensetzen: aber die Zusammensetzung gleicher Ideen ist einfacher als die verschiedener.

§ 7. Philal. Eine Hündin ernährt wohl junge Füchse, spielt mit ihnen und hat für sie ganz dieselbe Leidenschaft wie für ihre Jungen, wenn man es nur bewirken kann, daß die Füchslein an ihr gerade soviel saugen, als erforderlich ist, damit die Milch sich durch ihren ganzen Körper verbreitet. Auch scheint es nicht, daß die Tiere, welche mehrere Jungen zu gleicher Zeit haben, irgendeine Kenntnis von deren Zahl besitzen.

Theoph. Die Liebe der Tiere stammt aus einem Lustgefühl, welches durch die Gewohnheit erhöht wird. Was jedoch die genaue Zahl betrifft, so können selbst die Menschen die Zahl der Dinge nur durch irgendein künstliches Hilfsmittel erkennen, wie wenn sie sich der Zahlwörter zum Zählen bedienen, oder bestimmter figürlicher Anordnungen, die sogleich ohne Zählen erkennen lassen, ob etwas fehlt.

§ 10. Philal. Die Tiere bilden keine Abstraktionen.

Theoph. Ich bin derselben Meinung. Sie kennen augenscheinlich die Weiße und bemerken sie in der Kreide wie im Schnee, aber das ist noch keine Abstraktion, denn diese fordert, daß wir das Gemeinsame, losgelöst vom Besonderen, für sich betrachten, und hierzu ist die Erkenntnis allgemeiner Wahrheiten notwendig, die den Tieren nicht verliehen ist. Auch bemerkt man sehr wohl, daß die Tiere, welche sprechen, die Worte nicht zum Ausdruck allgemeiner Ideen brauchen, während andererseits Menschen, die des Gebrauchs der Sprache und der Worte beraubt sind, darum doch nicht unterlassen, sich andere allgemeine Zeichen zu schaffen. Ich freue mich außerordentlich, daß Sie hier, und an manchen anderen Stellen die Vorzüge der menschlichen Natur so richtig bemerken.

§11. Philal. Wenn die Tiere Ideen haben und nicht bloße Maschinen sind, wie einige vorgeben, so können wir nicht leugnen, daß sie bis zu einem gewissen Grade Vernunft haben. Mir wenigstens scheint es ebenso klar, daß sie Vernunft gebrauchen, als daß sie Gefühl haben. Aber ihr Vernunftgebrauch bezieht sich nur auf die besonderen Ideen in dem Maße, als ihre Sinne sie ihnen darbieten.

Theoph. Die Tiere gehen von einem Bilde zu einem anderen gemäß der Verknüpfung über, die sie früher einmal zwischen beiden bemerkt haben; wenn z. B. der Herr einen Stock nimmt, fürchtet der Hund, geschlagen zu werden. Auch die Kinder und die Menschen überhaupt verfahren in vielen Fällen im Fortgang ihrer Gedanken nicht anders. Dies könnte man in einem sehr erweiterten Sinn Folgerung und Vernunftgebrauch nennen; aber ich ziehe vor, entsprechend dem einmal angenommenen Gebrauch, diese Bezeichnungen für die Menschen vorzubehalten und sie auf diejenige Art Erkenntnis einzuschränken, durch die wir den Grund der Verknüpfung der Perzeptionen einsehen, den die bloßen sinnlichen Empfindungen nicht geben können. Denn deren Wirkung besteht nur darin, daß wir eine Verknüpfung, die wir vorher einmal bemerkt haben, ein zweites Mal naturgemäß wiedererwarten, wenngleich vielleicht die Gründe nicht mehr dieselben sind: ein Umstand, der diejenigen oft täuscht, die sich nur durch die Sinne leiten lassen Vgl. ob. S. 6 f..

§ 13. Philal. Die Schwachsinnigen besitzen keine Lebhaftigkeit, keine Aktivität und Beweglichkeit in ihren geistigen Fähigkeiten und sind daher des Gebrauchs der Vernunft beraubt. Die Narren scheinen das entgegengesetzte Extrem zu bilden, denn wie es scheint, haben sie das Vermögen des vernünftigen Denkens nicht verloren, sondern sie verknüpfen nur bestimmte Ideen falsch und sehen sie dann für Wahrheiten an, so daß sie sich auf dieselbe Art täuschen, wie diejenigen, die auf Grund falscher Prinzipien richtig schließen. So sehen Sie, daß ein Narr, der sich einbildet, König zu sein, durch eine richtige Folgerung verlangt, seiner Würde gemäß Bedienung, Ehre und Gehorsam zu finden.

Theoph. Die Schwachsinnigen machen von der Vernunft keinen Gebrauch und unterscheiden sich darin von den Dummen bestimmten Schlages, die zwar ein gutes Urteil haben, aber, da sie nicht schnell fassen, geringgeschätzt werden und lästig fallen: wie dies z. B. der Fall wäre bei jemand, der mit angesehenen Leuten L'hombre spielen wollte, aber zu lange und zu oft darüber nachdenken müßte, was er spielen soll. Ich erinnere mich, daß ein gescheiter Mann, der durch den Gebrauch starker Medikamente sein Gedächtnis verloren hatte, in diesen Zustand verfiel, aber seine Urteilskraft ließ sich immer erkennen. Einem Narren schlechthin fehlt dagegen fast bei jeder Gelegenheit das Urteil. Es gibt indessen Narren in Einzelpunkten, die, von irgendeiner falschen Voraussetzung über einen wichtigen Punkt ihres Lebens ausgehend, von hier aus, wie Sie gut bemerkt haben, richtig weiter schließen. Von dieser Art ist ein Mann, der an einem gewissen Hof wohlbekannt ist und der sich dazu bestimmt glaubt, die Angelegenheit der Protestanten zu ordnen und Frankreich zur Vernunft zu bringen: zu welchem Zwecke Gott die größten Persönlichkeiten durch seinen Körper habe hindurchgehen lassen, um ihn zu veredeln. Er verlangt alle ihm bekannten heiratsfähigen Prinzessinnen zu heiraten, aber erst nachdem er sie heilig gemacht hat, damit er eine heilige Nachkommenschaft erhalte, welche die Erde beherrschen soll. Er schreibt alle Übel des Krieges der geringen Beachtung seiner Ratschläge zu. Spricht er mit einem Souverän, so trifft er alle nötigen Maßregeln, um seiner Würde nichts zu vergeben. Disputiert man mit ihm, so verteidigt er sich so gut, daß ich mehr als einmal zweifelhaft geworden bin, ob seine Narrheit nicht Verstellung ist, denn er befindet sich bei ihr gar nicht schlecht. Die ihn indessen besser kennen, versichern mir, daß alles ganz ehrlich zugeht.


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