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§ 1. Philal. Nachdem wir untersucht haben, ob die Ideen eingeboren sind, wollen wir ihr Wesen und ihre Unterschiede betrachten. Nicht wahr, die Idee ist das Objekt des Denkens?
Theoph. Ich gebe es zu, wenn Sie hinzufügen, daß sie ein unmittelbares inneres Objekt ist, und daß dieses Objekt ein Ausdruck der Natur oder der Eigenschaften der Dinge ist. Wäre die Idee die Form des Denkens, so würde sie mit den ihr entsprechenden aktuellen Gedanken entstehen und vergehen; ist sie aber das Objekt des Denkens, so kann sie den Gedanken selbst vorausgehen und nachfolgen Die Idee als »Gegenstand« des Denkens soll hier, mit anderen Worten, von dem zeitlichen »Akt« des Denkens unterschieden werden: – eine Scheidung, die in der modernen Philosophie mit besonderem Nachdruck von Malebranche (in seiner Entgegensetzung von »Idee« und »Perzeption«) vollzogen worden war.. Die äußeren sinnlichen Objekte sind nur mittelbare, weil sie nicht unmittelbar auf die Seele wirken können. Gott allein ist das unmittelbare äußere Objekt. Man könnte sagen, daß die Seele selbst ihr unmittelbares inneres Objekt ist; aber sie ist dies, sofern sie die Ideen, die sich ihrerseits auf die Dinge beziehen, enthält. Denn die Seele ist eine kleine Welt, worin die deutlichen Ideen ein Bild Gottes und die verworrenen ein Bild des Universums sind.
§ 2. Philal. Unsere Partei fragt in der Voraussetzung, daß die Seele zu Anfang eine tabula rasa sei, leer von allen Schriftzügen und ohne irgendeine Idee, wie sie dazu komme, Ideen in sich aufzunehmen und durch welches Mittel sie eine so außerordentliche Fülle von Ideen erwerbe? Darauf antwortet sie mit einem Worte: durch die Erfahrung.
Theoph. Die tabula rasa, von der man so viel spricht, ist nach meiner Meinung lediglich eine Fiktion; sie kommt in der Natur nicht vor, sondern beruht nur auf den unvollständigen Begriffen der Philosophen; – ebenso wie der leere Raum und die Atome, die vollkommene Ruhe (man mag darunter die absolute Ruhe oder die relative der Teile eines Ganzen verstehen) und die erste Materie, die man sich ohne jegliche Formung denkt. Das schlechthin Einförmige, was keinerlei Mannigfaltigkeit in sich schließt, ist immer nur eine Abstraktion, wie die Zeit, der Raum und die übrigen Wesenheiten der reinen Mathematik. Es gibt keinen Körper, dessen Teile in Ruhe sind, und es gibt keine Substanz, die nicht irgendein charakteristisches Merkmal aufweist, durch das sie sich von jeder anderen unterscheidet. Die menschlichen Seelen sind nicht allein von den Seelen anderer Wesen, sondern auch untereinander verschieden, obgleich dieser Unterschied nicht von der Art ist, die man spezifisch nennt. Nach den Beweisen, die ich zu haben glaube, hat jedes substantielle Wesen, es sei Seele oder Körper, zu allen anderen Substanzen ein ihm eigentümliches Verhältnis, und jedes Wesen muß sich von dem anderen in innerlichen Bestimmungen unterscheiden. Die aber, die so viel von jener tabula rasa reden, können nicht sagen, was eigentlich von ihr noch übrig bleibt, nachdem sie ihr die Ideen genommen haben: so wie auch die Scholastiker ihrer ersten Materie keine Bestimmungen übrig lassen. Man wird mir vielleicht entgegnen, diese tabula rasa der Philosophen wolle sagen, daß die Seele von Natur und ursprünglich nur nackte Vermögen habe. Aber Vermögen ohne jegliche Betätigung, mit einem Worte: die bloßen Möglichkeiten der Schule sind gleichfalls nur Fiktionen, von denen die Natur nichts weiß und die man nur durch Abstraktionen erhält. Denn wo wird man jemals in der Welt ein Vermögen finden, das sich auf die bloße Möglichkeit beschränkt, ohne sich in irgendeiner Weise zu betätigen? Es liegt immer eine besondere Disposition zur Tätigkeit, und zu der einen Tätigkeit mehr als zur anderen, vor; ja neben dieser Disposition besteht eine Tendenz zur Tätigkeit, und solche Tendenzen, deren es in jedem Subjekt unendlich viele zugleich gibt, sind niemals gänzlich ohne Wirkung. Die Erfahrung ist allerdings notwendig, damit die Seele zu diesen oder jenen Gedanken bestimmt werde und auf die in uns vorhandenen Ideen acht habe; aber wie können denn Erfahrung und Sinnlichkeit Ideen geben? Hat die Seele Fenster? gleicht sie einer Tafel? ist sie wie Wachs? Es ist einleuchtend, daß alle die, welche so von der Seele denken, sie im Grunde zu etwas Körperlichem machen. Man wird mir das anerkannte philosophische Axiom entgegenhalten, daß in der Seele nichts sei, das nicht von den Sinnen kommt. Aber man muß die Seele selbst und ihre Zustände hiervon ausnehmen. Nihil est in intellectu quod non fuerit in sensu, excipe: nisi ipse intellectus. Die Seele enthält also das Sein, die Substanz, das Eine, das Selbige, die Ursache, die Perzeption, das Denken und eine Menge anderer Begriffe, die die Sinne nicht verleihen können. Dies stimmt recht gut mit dem Verfasser der Abhandlung, da dieser ja einen guten Teil der Ideen auf die Reflexion des Geistes über sein eigenes Wesen zurückführt.
Philal. Ich hoffe doch, Sie werden diesem gelehrten Schriftsteller zugeben, daß alle Ideen aus der Sensation oder Reflexion stammen, d. h. aus Beobachtungen, die wir entweder an den äußeren sinnlichen Gegenständen oder an den inneren Verrichtungen unserer Seele machen.
Theoph. Um einen Streit, der uns schon allzulange aufgehalten hat, zu vermeiden, erkläre ich Ihnen zum voraus, daß, wenn Sie sagen, daß die Ideen aus der einen oder anderen dieser Ursachen stammen, ich dies von ihrem wirklichen Gewahrwerden verstehe: denn ich glaube gezeigt zu haben, daß sie in uns sind, ehe man sich ihrer in ihrer besonderen Bestimmtheit bewußt wird.
§ 9. Philal. Von welchem Zeitpunkt an soll man also der Seele die Perzeption und das aktuelle Denken der Ideen zusprechen? Ich weiß wohl, daß die Behauptung aufgestellt wird, die Seele denke immer, und daß das aktuelle Denken von der Seele ebenso untrennbar sei, als die aktuelle Ausdehnung untrennbar vom Körper ist § 10. Aber ich kann nicht begreifen, daß es für die Seele notwendiger sein soll, immer zu denken, als für die Körper, immer in Bewegung zu sein, denn für die Seele ist die Perzeption dasselbe, was die Bewegung für den Körper ist. Dies scheint mir wenigstens sehr vernünftig, und ich möchte gern Ihre Ansicht darüber wissen.
Theoph. Sie haben sie eben ausgesprochen. Die Tätigkeit gehört der Seele in keinem höheren Grade als dem Körper an: und ein Zustand ohne Denken in der Seele und eine unbedingte Ruhe im Körper scheint mir gleich sehr naturwidrig und beispiellos in der Welt. Eine Substanz, die einmal in Tätigkeit ist, wird es immer sein, denn alle Eindrücke dauern fort und vermischen sich nur mit anderen neuen. Wenn man einen Körper anstößt, so erregt man damit (oder bestimmt vielmehr) eine unendliche Menge von Wirbelbewegungen wie in einer Flüssigkeit; denn im Grunde hat jeder feste Körper einen Grad von Flüssigkeit und jede Flüssigkeit einen Grad von Festigkeit, und man kann diese inneren Wirbelbewegungen niemals gänzlich zum Verschwinden bringen Vgl. hierzu besonders Leibniz' Kritik des Atombegriffs in seinem Briefwechsel mit Huyghens (Bd. II, S. 35 ff.).. Hieraus läßt sich schließen, daß ebenso wie der Körper nie in Ruhe ist, so auch die Seele dem entsprechend niemals ohne Perzeption sein wird.
Philal. Vielleicht ist es aber ein besonderes Vorrecht des Urhebers und Erhalters aller Dinge, daß er, der in seinen Vollkommenheiten unendlich ist, niemals schläft und schlummert. Einem endlichen Wesen, oder wenigstens einem solchen Wesen, wie der Seele des Menschen, kommt dies aber nicht zu.
Theoph. Sicherlich schlafen und schlummern wir, und Gott nicht; aber daraus folgt nicht, daß wir im Schlummer ohne irgendwelche Perzeption seien. Vielmehr findet, wenn man wohl darauf achtet, das Gegenteil statt.
Philal. In uns liegt eine Fähigkeit zu denken, aber daraus folgt nicht, daß wir stets in wirklicher Denktätigkeit seien.
Theoph. Die wahren Vermögen sind niemals bloße Möglichkeiten. Mit ihnen ist immer Tendenz und Tätigkeit verbunden.
Philal. Aber der Satz: Die Seele denkt immer, ist doch nicht durch sich selbst evident.
Theoph. Das sage ich auch nicht. Es bedarf, um ihn zu finden, einiger Aufmerksamkeit und einigen Nachdenkens. Der gemeine Mann ist sich seiner ebensowenig bewußt, als des Druckes der Luft oder der Kugelgestalt der Erde.
Philal. Ich zweifle daran, daß ich in der verflossenen Nacht gedacht habe: es handelt sich dabei um eine reine Tatsachenfrage, die man durch sinnliche Erfahrungen entscheiden muß.
Theoph. Man entscheidet darüber in derselben Weise, wie man beweist, daß es unwahrnehmbare Körper und unsichtbare Bewegungen gibt, wenngleich manche Leute dies als lächerlich ansehen. So gibt es auch wenig hervorstechende Perzeptionen, die sich nicht deutlich genug abheben, um bemerkt und in der Erinnerung wieder hervorgerufen zu werden, die sich aber in bestimmten Folgen erkennbar machen.
Philal. Ein gewisser Schriftsteller hat uns den Vorwurf gemacht, daß wir behaupteten, die Seele höre auf zu sein, weil wir ihr Dasein während des Schlafes nicht fühlen; aber dieser Einwurf kann nur aus einem seltsamen Vorurteil entspringen; denn wir sagen nicht, daß der Mensch keine Seele in sich habe, weil wir ihr Dasein während des Schlafes nicht empfinden, sondern behaupten nur, daß der Mensch nicht denken kann, ohne es gewahr zu werden.
Theoph. Ich habe das Buch nicht gelesen, welches diesen Einwurf enthält; aber man hätte Ihnen wenigstens dies mit Recht einwenden können, daß daraus, daß man sich des Denkens nicht deutlich bewußt wird, nicht folgt, daß es gänzlich aufhört; denn sonst könnte man mit demselben Grunde sagen, es gebe keine Seele, solange man sich derselben nicht deutlich bewußt ist. Um diesen Vorwurf zurückzuweisen, müßte man zeigen, daß es speziell dem Denken wesentlich ist, ins deutliche Bewußtsein zu fallen.
§ 11. Philal. Es ist nicht leicht, sich vorzustellen, daß ein Wesen denken kann, ohne zu merken, daß es denkt.
Theoph. Darin steckt ohne Zweifel der Knoten der Frage und die Schwierigkeit, die auch gescheite Leute in Verlegenheit gesetzt hat. Um aus ihr herauszukommen, muß man erwägen, daß wir an eine Menge Dinge zugleich denken, aber nur auf diejenigen Gedanken, welche am meisten hervortreten, achthaben. Anders kann es sich auch nicht verhalten, denn wenn wir auf alles achtgäben, müßten wir gleichzeitig mit Aufmerksamkeit an all die unendlich vielen Dinge denken, die wir in ihrer Gesamtheit empfinden und die auf unsere Sinne Eindruck machen. Ich behaupte noch mehr: von allen unseren vergangenen Gedanken bleibt etwas übrig, und keiner derselben kann jemals vollständig ausgelöscht werden. Wenn wir also ohne Traum schlafen oder durch einen Schlag, Fall, Krankheitszustand oder anderen Unfall betäubt sind, so bildet sich in uns eine unendliche Menge von kleinen verworrenen Empfindungen. Selbst der Tod bringt in den Seelen der Lebewesen keine andere Wirkung hervor; denn ohne Zweifel müssen sie früher oder später wieder zu deutlich bestimmten Perzeptionen zurückkehren, da alles in der Natur sich ordnungsmäßig vollzieht. Indessen gebe ich zu, daß in jenem Zustand von Verwirrung die Seele ohne Lust und Schmerz sein wird; denn das sind merkbare Perzeptionen.
§ 12. Philal. Die, mit denen wir es gegenwärtig zu tun haben (nämlich die Cartesianer, die da glauben, daß die Seele immer denke), gestehen doch allen vom Menschen verschiedenen Tieren Leben zu, ohne ihnen eine erkennende und denkende Seele zu geben, wie sie andererseits keine Schwierigkeit darin finden, zu behaupten, daß die Seele denken könne, ohne an einen Körper gebunden zu sein.
Theoph. Ich für meinen Teil bin anderer Ansicht; denn obgleich ich mit den Cartesianern darin einverstanden bin, daß die Seele immer denkt, so entferne ich mich doch von ihnen in den beiden anderen Punkten. Ich glaube, daß die Tiere unvergängliche Seelen haben, und daß die menschlichen Seelen, ebenso wie alle anderen, niemals ohne allen Körper sind Vgl. hrz. ob. S. 17., ich nehme sogar an, daß Gott allein, da er reine Tätigkeit ( actus purus) ist, davon gänzlich befreit ist.
Philal. Wären Sie der Ansicht der Cartesianer gewesen, so hätte ich auf Grund Ihrer Voraussetzungen geschlossen, daß, da die Körper des Kastor und Pollux bald mit, bald ohne Seele sein können, immer aber lebendig bleiben, da ferner die Seele bald in einem Körper und bald außerhalb desselben sein kann, Kastor und Pollux nur eine einzige Seele hätten, die abwechselnd ihre beiden Körper beherrschte, wenn man diese beiden Menschen in Schlaf und Wachen sich immer gegenseitig ablösen ließe
Vgl.
Odyssee XI, 298 ff:
»Jetzo erblickt ich Leda, Tyndareos' Ehegenossin,
Welche ihrem Gemahl zween mutige Söhne geboren:
Kastor, durch Rosse berühmt, und Polydeukes im Faustkampf.
Diese leben noch beid' in der allernährenden Erde,
Denn auch unter der Erde beehrte sie Zeus mit dem Vorrecht,
Daß sie beid' abwechselnd den einen Tag um den andern
Leben und wieder sterben und göttliche Ehren geniessen.«. In diesem Falle aber würde sie zwei Personen ausmachen, die voneinander ebenso verschieden sind, als z. B. Kastor und Herkules es nur immer sein könnten.
Theoph. Ich will meinerseits von einem anderen Fall ausgehen, der natürlicher erscheint. Man muß doch zugeben, daß man nach irgendeiner Zwischenzeit oder einer großen Veränderung, die man erfahren, in ein völliges Vergessen versinken kann? So sagt man, daß Sleidan Johannes Sleidanus (1506-1556), berühmter Historiker. vor seinem Tode alles, was er wußte, vergaß; und es gibt noch viele andere zahlreiche Beispiele dieses traurigen Falles. Nehmen wir nun an, daß ein solcher Mensch wieder jung würde und alles von neuem kennen lernte: wäre er darum ein anderer Mensch? Das Gedächtnis also ist es nicht, was eigentlich die Identität des Menschen ausmacht. Indessen ist die Fiktion einer Seele, die abwechselnd verschiedene Körper belebt, ohne daß das, was ihr in dem einen dieser Körper begegnet, den anderen angeht, eine jener naturwidrigen Erdichtungen, die aus unvollständigen philosophischen Begriffen stammen, in derselben Weise, wie der Raum ohne Körper und der Körper ohne Bewegung solche Erdichtungen sind. Sie verschwinden, wenn man ein wenig tiefer eindringt; denn man muß wissen, daß jede Seele alle vergangenen Eindrücke bewahrt und sich also nicht in der oben angegebenen Art zweiteilen kann. In jeder Substanz stehen Zukunft und Vergangenheit in vollständiger Verknüpfung: und eben dies macht die Identität des Individuums aus. Die Erinnerung indessen ist nicht notwendig, ja wegen der Menge der gegenwärtigen und vergangenen Eindrücke, die mit unseren gegenwärtigen Gedanken sich verbinden, nicht immer möglich; denn es gibt meiner Überzeugung nach im Menschen keine Gedanken, die nicht irgendeine, wenigstens verworrene, Wirkung haben und die nicht irgendeine Spur in den folgenden Gedanken hinterlassen. Man kann vieles vergessen, aber man könnte sich daran auch, aus weiter Ferne, wieder erinnern, wenn man in der richtigen Weise darauf zurückgeführt würde.
§ 13. Philal. Wer völlig traumlos geschlafen hat, wird sich niemals überzeugen lassen, daß seine Gedanken in Tätigkeit gewesen seien.
Theoph. Man ist, selbst ohne daß man träumt, auch im Schlafe niemals ohne irgendeine schwache Empfindung. Dies zeigt das Erwachen selbst, und je näher man dem Erwachen ist, desto mehr Empfindung hat man von dem, was sich außer uns zuträgt, obgleich diese Empfindung nicht immer stark genug ist, um uns zu erwecken.
§14. Philal. Es erscheint sehr schwer begreiflich, daß die Seele in diesem Augenblick in einem schlafenden und im nächsten Augenblick in einem wachenden Menschen denke, ohne sich daran zu erinnern.
Theoph. Das ist nicht nur sehr leicht zu begreifen, sondern es läßt sich sogar tagtäglich, während man wacht, etwas Ähnliches beobachten; denn wir sind fortwährend von Gegenständen umgeben, die auf unsere Augen oder Ohren einwirken und die somit auch unsere Seele beeinflussen; wir geben jedoch, weil unsere Aufmerksamkeit von anderen Gegenständen in Anspruch genommen ist, auf sie nicht früher acht, als bis der Gegenstand durch eine Steigerung seiner Wirksamkeit oder durch irgendeine andere Ursache stark genug wird, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. In diesem Falle verhalten wir uns dem bestimmten Gegenstand gegenüber wie schlafend: und dieser Schlaf wird ein allgemeiner, wenn unsere Aufmerksamkeit für alle Gegenstände in ihrer Gesamtheit aufhört. Es ist ja auch ein Mittel, sich einzuschläfern, daß man die Aufmerksamkeit verteilt, um sie zu schwächen.
Philal. Ich habe von einem Menschen gehört, der sich in seiner Jugend dem Studium gewidmet und ein sehr glückliches Gedächtnis gehabt hatte, daß er, bevor er am Fieber erkrankte, – wovon er, als er mit mir sprach, im Alter von 25 oder 26 Jahren eben geheilt worden war – niemals geträumt habe.
Theoph. Man hat mir auch von einem Gelehrten von noch viel vorgerückterem Alter erzählt, der niemals einen Traum gehabt hatte. Aber man muß nicht auf die Träume allein die ununterbrochene Stetigkeit in der Perzeption der Seele gründen, da ich schon gezeigt habe, daß sie selbst im Schlaf eine gewisse Perzeption dessen, was außer ihr vorgeht, besitzt.
§ 15. Philal. Oft denken ohne auch nur für einen einzigen Augenblick die Erinnerung an das, was man denkt, zu bewahren, heißt auf recht unnütze Weise denken.
Theoph. Alle Eindrücke haben ihre Wirkung, aber nicht alle Wirkungen sind immer bemerkbar; wenn ich mich eher nach der einen Seite wende als nach der anderen, so geschieht dies sehr häufig durch die Verkettung kleiner Eindrücke, die ich nicht gewahr werde und die die eine Bewegung ein wenig unbequemer als die andere machen. Alle von uns ohne Überlegung ausgeführten Handlungen sind Resultate eines Zusammenwirkens schwacher Perzeptionen, und selbst unsere Gewohnheiten und Leidenschaften, die auf unsere Entschlüsse so viel Einfluß haben, stammen daher; denn diese Angewöhnungen entstehen nach und nach, und man würde somit ohne die schwachen Perzeptionen zu diesen merklichen Neigungen gar nicht kommen. Ich habe schon einmal bemerkt, daß, wenn man diese Wirkungen in der Moral leugnen wollte, man jenen schlecht unterrichteten Leuten gleichen würde, die in der Physik die unsichtbaren Körperchen leugnen. Gleichwohl gibt es unter denen, die das Problem der Freiheit behandeln, so manchen, der, weil er auf diese unmerklichen Eindrücke, die imstande sind, die Wage nach einer Seite zu neigen, nicht achtet, zu der Vorstellung einer völligen Indifferenz in den moralischen Handlungen gelangt, gleich der des Buridanschen Esels, der zwischen seinen zwei Wiesen in der Mitte steht Das Beispiel des Esels, der zwischen zwei Heubündeln, denen er gleich nahe steht, verhungert, hat sich bekanntlich in den Schriften des Johannes Buridan (gest. gegen 1350) nicht auffinden lassen; das Argument scheint auf Aristoteles, De coelo II, 13, p. 295b, 32 zurückzugehen.. Über diesen Punkt werden wir in der Folge noch mehr reden. Ich gebe allerdings zu, daß diese Eindrücke unsere Neigung nur nach einer bestimmten Seite richten, ohne Zwang auszuüben.
Philal. Vielleicht wird man sagen, daß in einem wachen Menschen, der denkt, der Körper etwas leistet, und das Gedächtnis durch die Spuren im Gehirn sich erhält, daß aber, wenn er schläft, die Seele ihre Gedanken für sich allein hat.
Theoph. Dies zu behaupten, bin ich weit entfernt, da ich vielmehr glaube, daß stets eine genaue Übereinstimmung zwischen Körper und Seele stattfindet, und ich mich der Eindrücke des Körpers, die man weder im Erwachen noch im Schlaf gewahr wird, bediene, um zu beweisen, daß auch die Seele ähnliche hat. Ich halte sogar dafür, daß es in der Seele Vorgänge gibt, die der Blutzirkulation und allen inneren Bewegungen der Eingeweide entsprechen, die man aber freilich nicht gewahr wird, ganz so, wie die, die neben einer Wassermühle wohnen, den Lärm, den sie macht, nicht bemerken. Gäbe es in der Tat im Körper, während des Schlafens oder Wachens, Eindrücke, von denen die Seele überhaupt nicht berührt oder getroffen würde, so müßte man die Annahme einer Einheit von Seele und Körper einschränken, und etwa sagen, daß die körperlichen Eindrücke eine bestimmte Gestalt und Größe haben müßten, damit die Seele sie bemerken könne; dies ist aber, wenn die Seele unkörperlich ist, nicht aufrechtzuerhalten, denn zwischen einer unkörperlichen Substanz und dieser oder jener Modifikation der Materie besteht keine Proportion. Mit einem Worte, der Glaube, daß es in der Seele keine anderen Perzeptionen gibt, als die, die sie gewahr wird, ist eine große Quelle von Irrtümern.
§ 16. Philal. Die meisten Träume, deren wir uns erinnern, sind ungereimt und schlecht verbunden. Man müßte also behaupten, daß die Seele das Vermögen, vernünftig zu denken, dem Körper verdankt oder daß sie von ihren vernünftigen Selbstgesprächen nichts behält.
Theoph. Es besteht eine genaue Entsprechung zwischen dem Körper und allen Gedanken der Seele, mögen sie vernünftig sein oder nicht, und die Träume haben ebensogut ihre Spuren im Gehirn, wie die Gedanken der Wachenden.
§ 17. Philal. Da Sie so sicher sind, daß die Seele wirklich immer denkt, so möchte ich von Ihnen hören, welches denn die Ideen sind, die in der Seele eines Kindes, noch ehe sie mit dem Körper verbunden ist, oder gerade in der Zeit ihrer Vereinigung mit ihm, vorhanden sind, bevor sie also irgendeine Vorstellung auf dem Wege der sinnlichen Empfindung erhalten hat.
Theoph. Nach unseren Prinzipien ist es leicht, Ihnen Genüge zu tun. Die Perzeptionen der Seele entsprechen natürlicherweise immer der Verfassung des Körpers; sind also im Gehirn eine Menge verworrener und wenig deutlicher Bewegungen vorhanden, wie dies bei denen, die geringe Erfahrung besitzen, der Fall ist, so können die Gedanken der Seele nach der Ordnung der Dinge ebenfalls nicht deutlich sein. Die Seele ist indessen der Unterstützung durch die Sinnlichkeit niemals beraubt, weil sie immer ihren Körper zum Ausdruck bringt und dieser Körper stets durch andere, die ihn umgeben, auf unendlich mannigfache Weisen, die aber oft nur einen worrenen Eindruck bewirken, in Bewegung gesetzt wird Vgl. bes. Monadologie § 61-63 (Band II, S. 449 f.); s. auch Band I, S. 173, Anm. 114..
Philal. Aber da wirft der Verfasser der Abhandlung noch eine andere Frage auf. Ich möchte gerne, sagt er, von denen, welche mit so viel Zuversicht behaupten, daß die Seele des Menschen oder, was dasselbe ist, der Mensch immer denkt, erfahren, woher sie das wissen.
Theoph. Vielleicht gehört größeres Selbstvertrauen dazu, zu leugnen, daß es Vorgänge in der Seele gibt, die wir nicht gewahr werden, denn alles Merkliche muß aus Teilen bestehen, die nicht merklich sind, weil nichts, der Gedanke so wenig wie die Bewegung, auf einmal entstehen kann. Übrigens kommt mir dies so vor, als wenn heutzutage jemand fragte, woher wir etwas von unsichtbaren Körperchen wissen.
§ 19. Philal. Ich erinnere mich nicht, daß diejenigen, die behaupten, daß die Seele immer denke, uns jemals sagen, daß der Mensch immer denke.
Theoph. Das geschieht wohl deshalb, weil ihr Satz auch von der Seele an und für sich, sofern man sie losgelöst vom Körper denkt, gelten soll; indessen werden sie leicht zugeben, daß während der Vereinigung beider der Mensch immer denkt. Ich für meinen Teil, der ich Gründe zu der Annahme habe, daß die Seele niemals von aller Körperlichkeit losgelöst ist, glaube, man könne schlechthin sagen, daß der Mensch denkt und immer denken wird.
Philal. Zu sagen, daß der Körper ausgedehnt sei, ohne Teile zu haben, und daß ein Ding denke, ohne sein Denken gewahr zu werden, sind zwei Behauptungen, welche mir gleich sehr unverständlich scheinen.
Theoph. Verzeihen Sie mir, wenn ich Ihnen sagen muß, daß die Behauptung, es gebe in der Seele nichts, das sie nicht gewahr wird, eine petitio principii ist, die schon während unserer ganzen ersten Unterredung vorherrschend war, wo sie zur Widerlegung der eingeborenen Ideen und Wahrheiten dienen sollte. Würden wir dies Prinzip zugeben, so würden wir nicht nur gegen Erfahrung und Vernunft zu verstoßen glauben, sondern auch ohne Grund unserer Ansicht entsagen, die ich doch hinreichend verständlich gemacht zu haben glaube. Aber abgesehen davon, daß unsere Gegner trotz all ihrem Scharfsinn keinen Beweis für ihre so oft wiederholte und so bestimmte Behauptung beigebracht haben, so ist es auch leicht, ihnen das Gegenteil zu beweisen: nämlich daß es uns nicht möglich ist, über alle unsere Gedanken immer ausdrücklich zu reflektieren; sonst müßte der Geist über jede Reflexion eine neue Reflexion bis ins Unendliche anstellen, ohne jemals zu einem neuen Gedanken übergehen zu können. Indem ich mir z. B. irgendeiner gegenwärtigen Empfindung bewußt wäre, müßte ich immer denken, daß ich daran denke, und wieder auch denken, daß ich über ihr Denken denke, und so bis ins Unendliche. Aber schließlich muß all dies Denken über das Denken wohl ein Ende haben und ein Gedanke in mir sein, den ich vorübergehen lasse, ohne an ihn zu denken; sonst würde man immer bei derselben Sache bleiben.
Philal. Würde es dann aber nicht ebenso begründet sein, zu behaupten, daß der Mensch immer hungert, indem man sagt, es sei möglich zu hungern, ohne es zu bemerken?
Theoph. Das ist ein großer Unterschied: der Hunger hat besondere Gründe, die nicht immer obwalten. Gleichwohl gilt selbst hier, daß man auch Hunger haben kann, ohne jeden Augenblick daran zu denken; denkt man aber daran, so wird man ihn gewahr, da es sich hier um einen sehr deutlich bemerkbaren Trieb handelt. Reize im Magen sind immer vorhanden; aber sie müssen ziemlich stark werden, um Hunger zu verursachen. Dieselbe Unterscheidung muß man zwischen dem Denken überhaupt und den merklichen Gedanken machen. So dient das, was man vorbringt, um unsere Ansicht ins Lächerliche zu ziehen, dazu, sie zu bestätigen.
§ 23. Philal. Man kann nun fragen, wann der Mensch in seinem Denken beginnt, Ideen zu haben? Und mir scheint, man muß antworten, es geschehe, sowie er Empfindung hat.
Theoph. Ich bin derselben Ansicht, die ich aber auf einen etwas eigentümlichen Grundsatz stütze: ich glaube nämlich, daß wir niemals ohne Denken und auch niemals ohne Empfindung sind. Ich unterscheide nur zwischen Ideen und Gedanken, denn alle reinen oder distinkten Ideen besitzen wir stets von den Sinnen unabhängig, unsere Gedanken aber entsprechen immer irgendeiner Empfindung Man erinnere sich, daß Leibniz in diesem Zusammenhang unter »Gedanken« (pensée) den wirklichen Denkakt, unter Idee dagegen den »Gegenstand« versteht, auf den dieser Denkakt sich richtet. (S. ob. Anm. 1 dieses Buches.) Dieser Gegenstand ist seiner logischen Natur und Geltung nach von den Sinnen unabhängig, während der Akt des Denkens, in seinem wirklichen Vollzug, niemals isoliert steht, sondern nur vereint mit sinnlichen Empfindungen und Vorstellungen psychologisch möglich ist. (S. ob. S.43.).
§ 25. Philal. Passiv aber ist der Geist doch nur in der Auffassung der einfachen Vorstellungen, die die Rudimente oder Materialien der Erkenntnis sind, während er tätig ist, wenn er zusammengesetzte Vorstellungen bildet.
Theoph. Wie könnte er auch nur in der Auffassung aller einfachen Vorstellungen rein passiv sein, da es nach Ihrem eigenen Geständnis einfache Vorstellungen gibt, deren Bewußtsein aus der Reflexion stammt, und da die Gedanken der Reflexion doch etwas sind, was der Geist sich selbst gibt: denn er ist es ja doch, welcher reflektiert? Ob er sich dieser Gedanken ganz entschlagen kann, ist eine andere Frage: ohne Zweifel kann er es nicht ohne einen Grund, der ihn gelegentlich von ihnen abzieht.
Philal. Bis jetzt haben wir, wie es scheint, ex professo disputiert. Nunmehr, wo wir zu den Ideen im einzelnen kommen wollen, hoffe ich, werden wir miteinander einiger sein und nur in gewissen Besonderheiten voneinander abweichen.
Theoph. Mich soll es freuen, gescheite Männer mit mir einer Meinung zu finden; denn sie vermögen dieser Meinung Geltung zu verschaffen und sie in das rechte Licht zu setzen.