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XII.

Der Docent Rosenhane hatte eine Anstellung an der königlichen Bibliothek in Stockholm, und Nelly Nerman, nachdem sie ihr philosophisches Kandidatenexamen glücklich bestanden hatte, eine Stelle als Lehrerin an einer staatlichen Elementarschule für Knaben bekommen. Noch hatten sie nicht gewagt, sich zu verheiraten, aber der Docent sammelte für ein eigenes Heim, versagte sich, was irgend möglich war und sparte und arbeitete bis zum Aeußersten. Er hatte schon eine kleine Summe zurückgelegt, als im Frühjahr der Arzt wiederum erklärte, daß seine Mutter sowohl wie Eglantine diesen Sommer unbedingt auf das Land müßte und dort Bäder nehmen. Der Docent hätte gern irgend ein kleines Häuschen in den Schären nahe bei Stockholm gemietet, aber seine Mutter hatte die fixe Idee, daß Utschär und nur Utschär ihr Leben retten könnte. Sie erklärte indessen mit Bestimmtheit, daß sie gerade deshalb nicht nach Utschär wollte. Es wäre viel besser, wenn sie in Stockholm bliebe und da stürbe, damit sie nicht länger eine Bürde für ihren Sohn sein müßte. Diese Aeußerungen bestimmten den Docenten natürlich, gerade Utschär zu wählen – aber das ersparte Sümmchen mußte dafür geopfert werden. Nelly, obgleich sehr unzufrieden darüber, reiste mit.

Eglantine war den letzten Winter elender als gewöhnlich gewesen, und Ulla kam, als sie sich zu der Reise nach Christiania entschlossen, deshalb auf den Gedanken, ihre Cousine dorthin einzuladen mit dem Vorschlag, dann nach Jökelheim mitzukommen, um zu versuchen, ob nicht die Luft in Norwegen sie stärken würde. Christiania war von Utschär aus durch eine kurze Dampfschiffsreise zu erreichen, und Eglantine konnte diese ohne Schwierigkeit allein unternehmen.

Frau Rosenhane wollte sie indessen nicht gern fort lassen. Sie hatte niemals daran gedacht, ihre Tochter einmal herzugeben – sie betrachtete die Taubstumme als auf ganz besondere Weise ihr allein gehörig. Weil deren Taubheit sie von anderen trennte, glaubte die Mutter einen Hinweis darin sehen zu dürfen, daß die Tochter nur für sie allein leben sollte. Diesmal aber zeigte sich der Docent ungewöhnlich entschlossen und erklärte auf das entschiedenste, daß es seine und Nellys Schuldigkeit wäre, Eglantine der Mutter zu ersetzen, denn diese hätte es wirklich nötig, einmal heraus zu kommen; man sähe ja deutlich, wie sie täglich mehr hinschwände, sie brauchte einmal Veränderung und Zerstreuung. Und so wurde die Reise durchgesetzt, obgleich Nelly durchaus nichts daran lag, Eglantinens Stelle bei der Mutter zu vertreten. Aber so war Ludwig; immer gut und liebenswürdig in den meisten Fällen, hatte er sich aber einmal etwas in den Kopf gesetzt, dann konnte selbst Nelly ihn nicht davon abbringen.

Falk und Ulla waren unten am Dampfboot, um Eglantine zu empfangen. Falk sprang an Bord, noch ehe der Landungsgang ausgelegt war, fand sie auf dem Achterdeck und umarmte und küßte sie ganz brüderlich. Eglantine wurde dunkelrot und so verwirrt darüber, daß sie weder wußte, wo ihre Sachen waren, noch wie viel Stück sie mit hatte. Endlich hatten sie alles zusammen gefunden, und unten in der Kajüte umarmte auch Ulla Eglantine, die in stürmisches Weinen ausbrach.

Schon den Tag darauf reiste Ulla mit ihr und Lewison nach Hause, während Falk in das Krankenhaus übersiedelte.

Der Abschied zwischen den beiden Eheleuten war aufregend und zärtlich, als ob ihnen eine lange Trennung bevorstände. Ulla sah so verweint darnach aus, daß sie erst lange, nachdem Falk sie verlassen hatte und sie schon weit draußen im offenen Meer waren, aus der Kajüte hinauf auf das Deck kam.

Währenddessen hatte Lewi neben Eglantine gesessen und vergebliche Versuche gemacht, sie zu verstehen und sich ihr verständlich zu machen. Letzteres verhinderte sein Bart. Sie beschränkten sich deshalb bald darauf, sich gegenseitig freundlich zuzulächeln, aber Lewison fand die Situation höchst unbehaglich und sah ungeduldig nach Ulla aus.

Endlich kam sie herauf mit einem Schleier vor dem Gesicht und in steifer Haltung. Vergebens versuchte Lewison, sie in eine Unterhaltung zu ziehen – sie blieb schweigsam und träumerisch.

Sie wunderte sich selbst, daß es ihr so nahe ging. Aber sie hatten beide diese erste Trennung wie den Vorboten einer kommenden, größeren, schwereren empfunden. Jetzt schien es Ulla, als würde es ihr niemals möglich sein, ihren Mann auf längere Zeit zu verlassen, als würde sie nie im stande sein, das freiwillig zu thun – und doch hatte sie ein Gefühl, als ob eine solche Trennung vorausbestimmt und unabweisbar wäre – als ob sie gleichsam auf der Lauer läge und sich ihnen früher oder später einmal aufzwingen würde, selbst gegen ihren Willen.

Lewison ärgerte sich über ihren geistig abwesenden Blick.

»Schöne Aussichten,« dachte er. »Auf der einen Seite eine seufzende, sentimentale Strohwitwe – auf der andern eine junge Dame, der man unaufhörlich zulächeln muß, um sie damit zu versöhnen, daß man nicht versteht, was sie sagt.

»Meiner Treu, tritt da nicht Ulla gar eine Thräne ins Auge, während sie so hinaus auf das Wasser starrend dasitzt!« Er beobachtete diese unbewegliche Thräne mit einer gewissen Gereiztheit; »fällt sie denn, im Namen aller Naturgesetze, nicht bald herunter auf die Wange!«

Endlich konnte er es nicht länger aushalten; er nahm ein reines Taschentuch aus seiner Tasche und reichte es ihr hin.

»Was soll das?« fragte Ulla etwas erschrocken.

»Ich versuche mich in meine Rolle einzuleben,« sagte er. »Meine Aufgabe auf dieser Reise scheint zu werden – wie heißt es doch gleich: ›Trost der Witwen und Freund der Waisen.‹«

Dabei lächelte er mit einer anstrengend verbindlichen Grimasse, da Eglantine eben etwas äußerte.

Ulla konnte der komischen Wirkung dieser Art von Galanterie nicht widerstehen und brach in Lachen aus.

»Nein, Lewi, es ist wirklich schade, daß Du Dich jetzt nicht im Spiegel sehen kannst!« sagte sie.

»Gott sei Dank, sie lacht!« rief er. »Wenn Du nur nicht wieder weinst, dann will ich gern den ganzen Tag Grimassen schneiden.«

Aber Eglantine hatte nicht zu ihm, sondern zu Ulla gesprochen, und Ulla erwiderte ihr jetzt: »Nein, deshalb brauchst Du Dich nicht zu beunruhigen. Meine Schwiegermutter wird sich sehr freuen, Dich zu sehen. Sie hat mich oft von Dir sprechen hören.«

»Schwiegermutter!« rief Lewi bestürzt. »Herrgott, Ulla, hast Du auch eine Schwiegermutter – davon hast Du ja noch gar nichts gesagt.«

»Du brauchst Dich nicht vor ihr zu fürchten,« sagte Ulla lachend. »Sie ist wirklich sehr nett.«

»Das erste Stadium noch – alles spricht dafür, daß sie noch im ersten Stadium ist,« murmelte Lewi.

»Und was heißt das?«

»Im ersten Stadium bewundert man stets auch noch die ganze Familie des Mannes – daß aber das erste Stadium so lange dauert, das ist das Merkwürdige an diesem Fall.«

Ullas erster Gedanke nach ihrer Ankunft war, ihr Kind zu besuchen. Lewi hatte gebeten, mitkommen zu dürfen, aber das wollte sie nicht erlauben. Sie hatte ein Gefühl, als ob seine Gegenwart dieses Wiedersehen profaniren würde, denn ihre Liebe zu Falk, die sie durch die Trennung wieder doppelt tief empfand, idealisirte gewissermaßen auch ihre eigene Mutterliebe und übertrieb ihre Sehnsucht nach ihrem Kinde so, daß sie mit klopfendem Herzen und in exaltirter Spannung auf den Bauernhof kam, wo es in Pflege war. Als es aber die Bauernfrau getragen brachte, empfand sie einen Augenblick Zweifel, ob das wirklich ihr Sohn wäre. Sie betrachtete ihn mit einem wunderlich fremden Gefühl. Er war so dick und klumpig geworden, mit breiten Backen und etwas mißvergnügtem, trotzigem Munde – sie mußte sich selbst eingestehen, daß Margits Junge viel niedlicher war. Sie drückte ihn an ihre Brust und setzte sich mit ihm hin, um ihn zu herzen und zu küssen; aber er schrie und streckte die Aermchen nach seiner Pflegemutter aus. Sie wollte ihn nicht wieder hergeben und versuchte ihn durch Hin- und Hergehen und Schaukeln zu beruhigen, aber alles war vergebens, er strampelte und schrie so, daß ihm die Thränen die Backen herunterliefen.

Ulla war selbst nahe daran zu weinen, und als sie dann ihr Kind ruhig und zufrieden an der Brust der fremden Frau trinken sah, fühlte sie sich so verlassen und einsam, daß sie die Thränen nicht länger zurückhalten konnte.

Nachdem er sich satt getrunken hatte, legte ihn die Pflegemutter wieder in Ullas Arme, wo er nun ruhig und lächelnd auf dem Rücken lag und vor sich hin lallte, während er mit seinen Händchen in ihrem Gesicht und Haar herumfuhr. Es war kein Zeichen von Zärtlichkeit, denn er würde nach anderem Erreichbaren ebenso gegriffen haben, trotzdem aber fühlte sich Ulla so stolz und glücklich über diese Zuthunlichkeit, legte ihr Gesicht an das seine und ließ sich von ihm kratzen und zausen nach Herzenslust, daß ihr schließlich die Thränen, die sie vorher unterdrückt hatte, nun vor Lachen über die Backen liefen.

Endlich schlief er auf ihrem Schoß ein, und sie saß mehrere Stunden, ohne sich zu rühren, ihr Herz aber strömte über von Zärtlichkeit und Sehnsucht, ihn selbst pflegen und aufziehen zu können – und als die Pflegemutter wieder hereinkam, empfand sie bei deren Anblick fast etwas wie Widerwillen.

Bei ihrer Rückkehr nach Hause war sie so erfüllt von dem Kinde, daß sie den ganzen Abend von nichts anderem sprach und der Mutter in Lewis Gegenwart alle die kleinen Erlebnisse ihres Besuchs ausführlich beschrieb – wie er schrie – welche merkwürdig starke Stimme er hatte – wie er kratzen konnte – es war wahrhaftig Kraft in den kleinen Nägelchen – wie possirlich er mit seinen dicken Bäckchen aussah – ganz wie ein Kirchenengel, der mit aller Kraft in die Posaune stößt und so weiter.

Lewi machte kurze Randglossen während der ganzen Erzählung und sagte: »Nein, wie merkwürdig!« und »Ach, wie erstaunlich!« einmal um das andere, aber Ulla nahm sie nicht so gutmütig hin wie sonst seine Scherze, sondern wurde allmälich ganz böse auf ihn und bereute es, ihn eingeladen zu haben. Wäre er nicht dagewesen, hätte sie bei ihrem Kinde bleiben können.

Einige Tage später schlug Lewi vor, sie wollten beide eine Studie malen, mit Margit als Modell. Margit zu malen, war eine alte Idee von Ulla und deshalb ergriff sie diesen Vorschlag auf das lebhafteste. Das würde ihr Beschäftigung geben, die ihr helfen könnte, die Sehnsucht zu überwinden, unter der sie litt, die Unruhe und den inneren Zwiespalt, die sie seit ihrer Reise so eigentümlich quälten – seit jenem Tag, als sie im Boot, auf dem Wege nach Christiania, sich selbst gesagt hatte, daß sie jetzt den Hafen gefunden habe, daß die Zukunft klar und geebnet vor ihr läge.



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