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Erster Teil.


I.

Die Mittagsglocke hatte sämtliche Badegäste in die große Veranda des Kurhauses zusammengerufen; alle Damen waren rasch laufend und mit fliegenden Kleidern angelangt, denn der Wind wehte stark. Das Wetter war durchaus nicht dazu angethan, den Aufenthalt in der Veranda angenehm zu machen. Und doch – der erste blieb stehen und sah hinaus auf die See, ebenso der zweite und dritte; schließlich hatten sich alle Badegäste versammelt und mancher Ausruf des Schreckens wurde laut. Das Segeltuch schlug lärmend an das Geländer der Veranda; ein paar Kellner eilten aus dem Saal heraus, um es in Sicherheit zu bringen; endlich glückte es ihnen, die Vorhänge zu erhaschen und an den Pfosten, die das Dach der Veranda trugen, fest zu binden. Die meisten Damen waren im bloßen Kopf gekommen und die absichtliche Unordnung der Frisuren mit den gekräuselten Haarfransen war einer unbeabsichtigten gewichen, bei welcher kleine, gerade Haarsträhnchen zum Vorschein kamen, deren Erscheinen bei dem sonst so lockigen Haar ganz unbegreiflich war.

»Was gibt es? – Was ist los?«

»Ach, es ist der verrückte Norweger, der bei dem hohen Seegang draußen herumschwimmt.«

»Ach Gott, was sagen Sie da?« rief eine Dame, die aussah, als wollte sie bei dieser Nachricht in Ohnmacht fallen. »Herr Falk schwimmt da draußen herum – in diesen entsetzlichen Wogen!«

»Sehen Sie ›die Ranke‹?« flüsterte einer der Herren. »Jetzt braucht sie wieder eine Stütze; denken Sie an den Hasenbraten, wagen Sie hunderttausend!«

»Das ist wirklich unrecht,« sagte eine kleine, zwitschernde Vogelstimme. »Es ist geradezu unverantwortlich, sein Leben so aus reinem Uebermut zu riskiren.«

»Sagen Sie das nicht; ich finde, es liegt etwas Großartiges in solchem Mannesmut,« fiel ihr die Ranke ins Wort.

»So, da wäre der Streit zwischen der Ranke und ›der Himmelblauen‹ wieder in vollem Gang,« zischelten die Herren lachend.

Die Himmelblaue hatte diesen Namen wegen verschiedener Ursachen bekommen. Einesteils weil sie in Upsala studirte und für die Verfasserin verschiedener anonymer Schriften über die Frauenfrage galt, in welchen die radikalsten Ansichten verfochten wurden, andernteils weil sie es liebte, sich himmelblau zu kleiden, himmelblaue Augen hatte und ihre haarsträubenden Ansichten mit einer wie Vogelgezwitscher klingenden Stimme und mit dem sanftesten Lächeln ihres kleinen, reizenden Mundes aussprach. Sie hatte eine zierliche, schmächtige Figur, leichte, geräuschlose Bewegungen, glattes, rötliches Haar und eine hohe, etwas glänzende, gewölbte Stirn, die fast einen kahlen Eindruck machte. Ihre Freundinnen empfahlen ihr, Haarfransen zu tragen, weil ihr das besser stehen würde, aber sie hatte ihre ganz bestimmten Prinzipien und wollte nicht. Eine hohe, unbedeckte Stirn drückt dem Gesicht den Stempel der Intelligenz auf – sie wollte als ein Weib mit Denkvermögen begabt, nicht wie ein Affenpintscher aussehen.

Wenn ein Fremder die Spitznamen Ranke und Himmelblaue, welche die unbeschäftigten Badegäste den beiden Damen gegeben hatten, gehört und nach dem Bezeichnenden derselben auf die Trägerinnen hätte schließen sollen, würde er sicher falsch geraten haben.

Denn die kleine Himmelblaue erinnerte viel mehr an eine Ranke, die einer Stütze bedurfte, und es war nicht leicht, von diesem lächelnden Mund und der zwitschernden Stimme auf den wilden Radikalismus zu schließen, der sich hinter diesem sanften Aeußern verbarg.

Die sogenannte Ranke aber sah wie ein richtiger Blaustrumpf aus und zwar wie ein weithin leuchtender. Sie war fast drei Ellen hoch und ihre muskulöse Gestalt hatte wenig von der sonstigen Weichheit weiblicher Formen; wenn sie anfing zu sprechen, drehte man sich unwillkürlich nach ihr um, weil man im ersten Augenblick glaubte, ihr Platz müßte von einem Herrn eingenommen worden sein, so sehr erinnerte der tiefe Alt ihrer Stimme an einen Baß. Sah man aber von diesem, allerdings irre leitenden Aeußern ab, dann konnte man sich bald überzeugen, daß eine echt weibliche Seele in dieser kräftigen Gestalt wohnte. Sie haßte die modernen Emanzipationsbestrebungen – ja, sie haßte sie so sehr, daß ihre ganze Seele in Aufruhr geriet, wenn sie die kleine Himmelblaue sah und daran dachte, wie viel Unglück solche Frauen anstiften, die das Weib aufsässig gegen seinen natürlichen Herrn machen wollen, die es lehren, den zu kritisiren, zu dem es aufblicken sollte, und allen Zauber und alle Poesie dem Lieblichsten auf der Welt rauben – der Ranke, die sich um die kräftige Eiche schwingt, dem weichen, schwachen Weib, das sich liebend und demütig, ja, demütig an die starke Brust des Mannes lehnt. Wenn sie das mit ihrer Stentorstimme sagte und, soweit es die Umstände erlaubten, mit einem schwärmerischen Blick ihrer kleinen, hellgrauen Augen begleitete und wenn dann die kleine Himmelblaue mit ihrer immer gleich erschrocken aussehenden Miene dagegen zwitscherte, es habe wahrhaftig etwas geradezu Empörendes, hören zu müssen, wie eine Frau der Jetztzeit so bar und ledig jeglichen Selbstgefühls sein könne; wenn jemand zum andern aufzublicken hätte, dann wäre es der Mann, welcher zu der an sittlicher Reinheit so hoch über ihm stehenden Frau aufsehen müßte – ihr für ihre Person wäre es überhaupt unbegreiflich, wie ein Mädchen bei den heutzutage herrschenden Verhältnissen eine Ehe mit einem so tief unter ihr stehenden Mann noch eingehen könnte, und eine Verbesserung wäre nur denkbar, wenn sich sämtliche Frauen zu einem Antieheverein mit der Verpflichtung vereinigten, nur reine Männer zu heiraten – dann entstand in der Badegesellschaft jedesmal ein förmlicher Aufruhr. Man ergriff Partei dafür und dagegen, die Ranke brüllte fast vor Aufregung und die Himmelblaue weinte vor Entrüstung.

Heute aber kam es nicht so weit. Die Ranke war zu sehr in Anspruch genommen von dem ihrer Ansicht nach erhabenen Schauspiel, einen Mann, einen kraftvollen Mann mit den Elementen kämpfen zu sehen, und die Himmelblaue fand es zu grenzenlos unvernünftig, sein Leben auf diese Weise preiszugeben, ohne irgend jemand dadurch zu nützen. Sie wollte gar nichts mehr davon hören und sehen und wandte sich weg, um nicht Zeugin sein zu müssen, wie ein mit Verstand und Vernunft begabter Mensch sich bis zu einem solchen Grad von einem rein animalischen Naturtrieb leiten ließ.

Es gab aber auch noch andere in der Gesellschaft, welche diese Art norwegischen Mannesmutes scharf tadelten. Eine Dame, wegen ihrer roten Augen in ihrem blassen Gesicht von den müßigen Witzbolden »das Rotauge« getauft, sah eine Verletzung der Sittlichkeit darin, daß ein Mann im Naturzustand sich so unmittelbar vor der Veranda des Kurhauses zeigte, und war auf das äußerste empört darüber. Zwar konnte man nichts weiter sehen als einen Kopf mit dunkelblondem Haar, der bald auftauchte, bald wieder in den schäumenden Wogen verschwand. Da aber alle wußten, daß man nicht in Kleidern schwimmt, empfand es das Rotauge als eine entschiedene Verletzung des Schamgefühls, mit diesem Bewußtsein so hier unter allen anderen zu stehen. Sie war die Schwester des Badearztes, der mit seiner eben erwachsenen Tochter ebenfalls zugegen war, und sie äußerte ihren Unwillen gegen den Bruder über das lebhafte und unverhüllte Interesse, mit welchem das junge Mädchen das Schaukeln des braunen Hauptes auf den Wogen verfolgte.

»Aber das ist ja der beste Beweis, wie unschuldig das Mädchen ist,« erwiderte der Doktor. »Sie denkt gar nicht an so etwas. Du würdest sie nur demoralisiren, wenn Du solche Gedanken bei ihr wecken wolltest.«

»Da hast Du völlig unrecht,« sagte das Rotauge mit einer Stimme, die etwas von dem klaren, schrillen Klang einer silbernen Glocke hatte und sah den Bruder mit ihrem forschenden, prüfenden Blick an, der den Nächsten bis ins Innerste durchdringen zu wollen schien. »Man soll gerade an so etwas denken. Ein Christ kann gar nicht fein genug empfinden in allem, was die Keuschheit verletzt, und es ist kein Beweis von Unschuld, wenn man von solchen Dingen nicht traurig berührt wird, das verrät vielmehr einen Mangel an Zartgefühl.«

»Aber, meine Beste,« fiel der kleine, etwas rot aussehende Doktor mit lauter Stimme ein, »wir gehen doch alle nackend in den Kleidern und ich kann nicht einsehen, warum das in den Wellen weniger passen sollte.«

Diese von allen Umstehenden gehörte Antwort erregte große Heiterkeit, denn man begriff augenblicklich die Veranlassung und das verschämte Rotauge wurde der Gegenstand vieler spöttischer Blicke. Allein das genirte die Dame nicht. Sie begegnete allen mit ihrem großen, durchdringenden Blick, der sich in die innerste Tiefe einbohren zu wollen schien, so kühn und sicher, daß die meisten die Augen niederschlugen oder sich wegwendeten.

In einer entfernten Ecke der Veranda stand eine Dame, die hoch in den Zwanzigern sein mochte und ebenfalls Gegenstand verschiedener Blicke geworden war, ohne daß sich ihr jemand genähert oder mit ihr gesprochen hätte. Man war allgemein überzeugt, daß sie in den Norweger verliebt wäre; einige glaubten sogar an ein Verhältnis zwischen ihnen, ihre Stellung unter den Badegästen war deshalb etwas isolirt. Die Damen liebten sie nicht wegen ihres koketten Wesens, sie selbst schien sich auch nichts aus weiblichem Umgang zu machen. Die Herren zogen sich zurück, seitdem sie den Norweger offenkundig bevorzugte. Sie war verheiratet, lebte aber, wie man sagte, in französischer Ehe, was so viel heißen sollte als: Mann und Frau wohnten getrennt in ihren Gemächern und kamen nur bei den Mahlzeiten zusammen. Der Mann war den ganzen Tag draußen auf dem Fischfang – seine einzige große Leidenschaft, der er während der kurzen Ferien frönte, die er sich in seinem Geschäft gönnen konnte.

Frau Anna Krabbe stand am Geländer der Veranda und hielt sich mit den Armen an einem Pfosten fest, die schmale, schlanke Gestalt etwas nach vorn gebeugt, die großen, von langen Wimpern beschatteten, schwärmerischen und doch eigentümlich harten, kornblumenblauen Augen unbeweglich auf die See gerichtet, ganz erfüllt von dem, was dort geschah, und vollständig gleichgiltig gegen alle Bemerkungen um sich herum.

Da ereignete sich etwas, das aller Blicke von der See ablenkte und den interessanten Sport vergessen ließ, den man noch eben mit so großer Spannung verfolgt hatte.

Eine junge Dame – eine völlig fremde, junge Dame betrat die Veranda.

Gerade als ob sie der ganzen Gesellschaft vorgestellt und unwiderruflich in ihren Kreis aufgenommen wäre, anstatt allen eine völlig Unbekannte zu sein, ging sie direkt auf eine Gruppe Herren zu und fragte: »Glauben Sie, daß es Gefahr hat?«

Aller Blicke richteten sich auf sie; einer der Herren antwortete: »Durchaus nicht, er amüsirt sich nur etwas; er ist der kräftigste Schwimmer, den ich je gesehen habe.«

War es möglich – ja, gewiß war es so! Fragen an den Kellner! Die Antwort breitete sich mit der Schnelligkeit des Windes aus, der von der See her brauste. Ja, das war sie – sie! Endlich! Wochenlang schon hatten ihre Zimmer für ihre Rechnung leer gestanden, zwei der schönsten, nach der See zu gelegen, und sie war täglich erwartet worden, erwartet mit größter Neugierde und Ungeduld.

Obgleich sie seit mehreren Jahren ganz in Rom wohnte, hatten doch die meisten schon viel von ihr gehört. Alle Skandinavier, die in Rom gewesen waren, wußten bei ihrer Heimkehr viel von ihr zu erzählen, und wenn ihre Gemälde in Stockholm ausgestellt wurden, waren sie stets Gegenstand größter Aufmerksamkeit.

Das Rotauge freilich hegte starke Zweifel, ob sie ein sittlich entwickelter Charakter wäre, weil sie stets nackte Figuren malte, meistens Kinder, aber auch Waldnymphen und Faune und dergleichen zweifelhaftes Gelichter.

Und viele andere teilten in aller Stille diese Zweifel, obgleich sie sich genirten, es einzugestehen, denn sie wollten für kunstverständig gelten und wußten, daß man der Kunst das Recht zugesteht, sich nackt zu zeigen.

Die Ranke fand eine Kunst ohne idealen Inhalt traurig, aber die Himmelblaue verfocht eifrig den modernen Grundsatz, es komme nicht darauf an, was, sondern wie man male.

Fast täglich hatte man über ihre Werke disputirt, seitdem es bekannt geworden war, daß sie Zimmer hier gemietet hätte. Nun stand sie so plötzlich selbst da, daß man ihre Werke über ihrer Person vergaß.

Die Malerin, Fräulein Ulla Rosenhane, zeigte sich für den Sport, dessen Augenzeuge sie soeben war, lebhaft interessirt. Sie fragte, wer der Schwimmer wäre.

Alle Damen sahen aus, als ob sie die Frage nicht gehört hätten, als ob sie in der Luft verklingen sollte, ohne irgend jemand auch nur im geringsten anzugehen. Man konnte sich doch nicht in eine Unterhaltung mit einer Dame einlassen, der man nicht vorgestellt war.

Aber der Doktor kannte seine Pflicht als eine Art Wirt und erwiderte:

»Es ist der norwegische Volksredner, Rolf Falk, Vorsteher einer Volkshochschule im Innern des Landes. Vor etwa acht Tagen ist er hierher gesegelt. Dort unten liegt sein Boot.«

»Das ist wahrhaftig nicht groß,« sagte Ulla. »Und damit ist er von Norwegen hierher gesegelt?«

»Ja, er ist ein ebenso verwegener Segler wie Schwimmer. Er ist überhaupt ein äußerst excentrischer Mensch, wie Sie selbst bald finden werden, mein Fräulein. Aber vielleicht darf ich mir die Freiheit nehmen, mich Ihnen selbst vorzustellen, da es niemand anders hier kann. Doktor Bratt, Badearzt. Und hier ist meine Schwester, Frau Völler,« sagte er, indem er auf das Rotauge wies, die ihre großen Augen aufschlug, Ulla lang und prüfend ansah und ihr herzlich die Hand drückte. Der Doktor fuhr fort, die Honneurs zu machen.

»Es ist eine große Ehre für uns und unser kleines Utschär, eine solche Berühmtheit wie Fräulein Rosenhane unter unsere Gäste zählen zu dürfen,« sagte er. »Darf ich vielleicht auch Fräulein Evelina Suhr vorstellen,« er deutete auf die Ranke, »und Fräulein Nelly Nerman,« das war die Himmelblaue.

Fräulein Suhrs Begrüßung war etwas zurückhaltend, Fräulein Nelly Nerman aber drückte gleich ihre lebhafte Freude aus, die berühmte Malerin kennen zu lernen.

»Daß gerade unser kleines Utschär dieser Ehre teilhaftig wird,« sagte sie. »Aber es ist ja wahr, Sie haben wohl Verwandte hier, Fräulein Rosenhane. Eine Frau Rosenhane –«

»Ja, das ist meine Tante, die Schwester meiner Mutter und zugleich die Witwe von meines Vaters Bruder. Ich bin hierher gekommen, um mit ihr und ihren Kindern den Sommer zusammen zu verleben.«

»Sie essen nicht hier im Hotel,« sagte Nelly Nerman. »Sie leben sehr zurückgezogen.«

»Ja, sie haben ihren eigenen kleinen Haushalt, meine Tante ist kränklich und meine Cousine, Eglantine, taubstumm.«

»Ja, das hörte ich,« sagte Nelly. »Aber die Eltern waren Cousin und Cousine.«

Dann fuhr sie etwas befangen fort: »Ich kenne den Dozenten. Es ist sehr interessant, sich mit ihm zu unterhalten.«

»O ja,« sagte Ulla lächelnd. »Er ist ein Original, so viel ist sicher – aber, ich glaube, wohl auch recht gelehrt.«

»Und ein sehr guter Kopf,« fügte Nelly hinzu.

Frau Krabbe hatte sich jetzt von der See weggewendet, weil nichts mehr zu sehen war. Ihre und Ullas Blicke trafen sich.

»Ach – Du hier?«

»Ja, ich kann nur dasselbe sagen. Und ich erkannte Dich augenblicklich. Es ist merkwürdig, wie unverändert Du bist.«

»Ich – o! Wie kannst Du so sprechen!«

»Wie sonderbar doch Frau Krabbe ist,« sagten die anderen Damen zu einander. »Niemals hat sie sich merken lassen, daß sie Fräulein Rosenhane kennt, obgleich so oft die Rede von ihr war. Ja, sie ist die Verschlossenheit selbst.«

Frau Krabbe und Fräulein Rosenhane gingen zusammen zu Tisch. Da der Norweger ihr Tischnachbar war, hätte Frau Krabbe gar zu gern verhindert, daß Fräulein Rosenhane neben sie zu sitzen kam. Aber der aufmerksame Hotelbesitzer, der beobachtet hatte, daß sein berühmter Gast eine Bekannte unter den Badegästen hatte, gab augenblicklich Befehl, die Damen neben einander zu setzen, und dagegen war nichts zu machen.

Als die Suppe vorüber war und das Fischgericht kam, entstand eine Bewegung im Saal, eine jener Wellenbewegungen, die sich bei einem besonders treffenden Wort durch ein ganzes Theater fort zu pflanzen pflegt. Ohne daß man sagen könnte, es rührte sich jemand oder ein Laut würde vernehmbar, glaubt man doch plötzlich ein leises Rauschen oder einen leichten Windstoß zu hören, eine jener unwillkürlichen Gefühlsäußerungen, die ein intelligenter Schauspieler höher noch als Beifall zu würdigen weiß.

Eine wahre Wickingergestalt trat ein, ging mit raschen Schritten durch den Saal und nahm an Frau Krabbes Seite Platz. Eine hohe, breitschulterige und doch geschmeidige Figur, ein energischer, echt nordischer Gesichtstypus mit glatt zurückgestrichenem Haar, breiter Stirn und einem fast herausfordernden, trotzigen und doch heiteren und lebensfrischen Ausdruck. Das war der Held des Badeortes – der Held nicht nur in den männlichen Wettkünsten des Schwimmens und Segelns, sondern auch in der noch größeren männlichen, Frauenherzen höher schlagen und Mädchenwangen erröten oder erbleichen zu machen, weibliche Augen zu schüchternem Niederschlagen und weibliche Stimmen zu lieblichem Beben zu bringen, die »Ranken« zum sehnsüchtigen Ausblicken zur hochstämmigen Eiche.

Ulla Rosenhane, die eine gute Beobachterin war, hatte schon während der Suppe bemerkt, welche Rolle der excentrische Norweger in dem Badeorte spielte. Ihrem klaren, aufmerksamen Blick, der immer den Eindruck machte, als nähme er an der vor ihm stehenden Person der Länge und Breite nach Maß, waren verschiedene Symptome um sich herum und neben sich am Tisch nicht entgangen, die verraten, daß ein Mann eine Stelle in einem weiblichen Herzen einnimmt. Man sprach von ihm und sprach auch nicht, was wenig Unterschied macht – erschien er aber in der Thüre, so fuhr man zusammen, wurde rot, wendete sich nach der Thüre hin oder auch im Gegenteil davon weg. Alles das amüsirte Fräulein Rosenhane außerordentlich. Romanhelden fangen ja an selten zu werden, wie köstlich, einen solchen so unvermutet in dem kleinen, abgelegenen schwedischen Badeort zu finden.

Frau Krabbe sprach nicht mit ihm, sie grüßte ihn kaum und aß nichts mehr von dem Augenblick an, da er in das Zimmer eingetreten war. Er bemerkte es anfangs nicht. Er war heiter, unterhielt sich über den Tisch hinüber und zur Rechten und Linken, war etwas laut und geräuschvoll und hatte ein Lachen, das Ulla durch seine Herzensfrische anzog, durch seinen Mangel an feiner Lebensart indes abstieß.

»Aber Sie essen ja gar nicht, liebe Frau,« sagte er jetzt plötzlich zu Frau Krabbe, als diese ein neues Gericht vorübergehen ließ.

»Das kommt vom vielen Sprechen,« sagte Frau Krabbe leichthin mit einschmeichelndem Lächeln.

»Sprechen? Sie haben noch kein einziges Wort gesagt, seitdem ich in den Saal gekommen bin.«

»Ach so – wirklich, haben Sie das bemerkt?«

»Da haben wir's,« dachte Ulla. »Die echte nordische Koketterie. Man stößt ab, um anzuziehen, man spielt die Beleidigte, man kokettirt passiv. Ach, wie gekünstelt und unsympathisch das doch ist.«

»Aber was ist denn der Grund, daß Sie weder sprechen noch essen?« fragte endlich der Norweger.

»Das wird Sie vermutlich wenig interessiren. Aber ich möchte weder Ihre Eßlust noch Ihre Heiterkeit stören.«

Falk beugte sich plötzlich ganz nahe zu seiner Nachbarin hin, sah ihr mit einem eigentümlich glühenden Blick in die Augen und sagte halblaut:

»Wenn ich Sie verletzt habe, möchte ich wissen wodurch.«

Seine Blicke schienen sich in ihre Augen hinein zu brennen in einer Weise, die Ulla, welche auf ihrer andern Seite saß, nervös machte; nein, das war eine Art von Courmacherei, die sie nicht vertragen konnte. Denn es war nicht echte Leidenschaft in diesem Blick; wenn es das gewesen wäre, würde sie nichts dagegen eingewendet haben, es war nur ein Spielen, ein Tändeln mit der Leidenschaft.

Frau Krabbe bog sich auf ihren Teller nieder, schnitt ihr Brot in sechs große Teile, ordnete diese sorgsam in zwei Reihen und flüsterte dann leise:

»Ich bin nur nervös, ich kann keine Aufregung vertragen, deshalb kann ich nicht essen.«

»Aufregung!« rief er. »Aber was in aller Welt – meine tägliche Schwimmtour.«

»Ich kann das nicht ertragen,« sagte sie und schloß die Augen. »Von den großen Wogen Sie so hin und her geworfen zu sehen, das macht mich krank.«

Ulla wurde ungeduldig über diese offenbare Schauspielerin.

»Glauben Sie, daß man in meinem Alter noch schwimmen lernen könnte, wenn man es niemals vorher probirt hat?« fragte sie Falk.

»Ja, gewiß,« erwiderte er. »Wollen Sie es lernen, Fräulein? Sie haben Mut, nicht wahr? Ich schließe das aus Ihrer Frage, hat man den, dann ist es ganz leicht.«

»Wollen Sie mir Unterricht geben?« fragte sie.

Verschiedene Köpfe sahen von ihren Tellern auf.

»Mit dem größten Vergnügen. Ich habe immer gewünscht, daß Damen und Herren hier wie in Frankreich zusammen schwimmen könnten.«

»Ach, das ist ja wahr,« sagte Ulla, der in diesem Augenblick erst klar wurde, warum sich so viele befremdete Blicke auf sie richteten. »Das geht ja in Schweden nicht.«

»Es geht nicht, das ist ein Wort, was ich nicht leiden kann,« rief Falk. »Wie, wenn wir uns über die strenge Konvenienz hinweg setzten, Fräulein? Wie, wenn wir einen Verein für gemeinsame Schwimmtouren von Herren und Damen gründeten?«

»Das ist ein herrlicher Gedanke!« rief Ulla.

Ein plötzliches Schweigen entstand an der ganzen Tafel, ein erschrecktes, empörtes Schweigen. Ja, was sollte man denn auch anderes von einer erwarten, die nur nackte Figuren malte; daß sie aber gerade hierher an diesen Badeort kommen und einen solchen Skandal heraufbeschwören mußte!

Als man vom Tische aufstand, blieb Falk in der Veranda in lebhafter Unterhaltung mit Ulla stehen. Anna Krabbe verschwand, erst nach einer Weile sah sich Falk nach ihr um.

»Ich hatte mit Frau Krabbe segeln wollen,« sagte er, »wahrscheinlich ist sie einstweilen voraus zum Boot gegangen. Haben Sie Lust, mitzukommen?«

»Ja, gern,« sagte Ulla. An der schwedischen Küste hinzusegeln, das war für sie etwas ganz Neues, Ungewohntes und Erfrischendes. Die alten grauen Klippen! Sie wußte nicht, ob sie sie liebte, sehr wenigstens nicht, sie liebte den Süden, den Süden allein – und doch, die grauen Klippen, der bleiche Himmel mit seinem etwas kalten Ton und doch so ätherisch und hoch gewölbt, die Buchten und Inseln und das grünlich graue Wasser, das berührte Saiten in ihrem Innern, die nicht oft angeschlagen wurden.

»Vaterlandsliebe?« fragte der Norweger. Nein, sie hegte keine Vorliebe für ihr Vaterland, sie war Kosmopolitin.

»Ach, das ist schade,« sagte er mit fast herzlicher Naivität; »der Mensch, dessen Herz nie warm für sein Vaterland geschlagen hat, kennt das Beste im Leben nicht. Er weiß auch nicht, was es heißt, Familie und Heimat zu lieben.«

»Ich habe weder Familie noch Heimat,« unterbrach sie ihn. »Wildvogel hat weder Wohnung noch Weib, Wildvogel hat doch ein herrliches Los!«

Diese Worte berührten ihn unsympathisch. Offenbar fehlte ihr doch tieferes Gefühl. Deshalb konnte sie auch so einsam in der Fremde leben.

Seine Blicke flogen zu Anna Krabbe hin, die an der Brücke saß und wartete.

»Ich bin doch neugierig, wie das ablaufen wird,« sagte das Rotauge im Vorbeigehen zu einer älteren Dame. »Frau Krabbe segelt nie mit Herrn Falk, wenn eine andere Dame dabei ist.«

»Das geht sehr natürlich zu,« entgegnete die ältere Dame und blieb in einiger Entfernung so stehen, daß sie die Aussicht auf die Brücke behielt. »Mein Mann segelte einmal mit und während der ganzen Fahrt saß sie neben Falk; sobald das Boot sich auch nur unbedeutend neigte, ergriff sie seine Hand, drückte sie fest und schrie vor Angst. Sie hat die schrecklichste Angst vor der See und segelt nur mit, um mit Falk allein zusammen zu sein. In ihres Mannes Boot hat sie noch kein Mensch gesehen.«

Anna stand mit finsteren Blicken auf, als sie Ulla mitkommen sah, und ging ihnen entgegen.

»Jetzt bin ich bereit,« rief Falk, »und Fräulein Rosenhane kommt mit.«

»Ich mag heute nicht segeln,« sagte Anna, obgleich sie einen Plaid über den Arm und eine Wachstuchmütze auf dem Kopfe trug, die beide zeigten, daß sie sich zur Fahrt gerüstet hatte. »Es ist zu stürmisch.«

Ulla begriff augenblicklich die Veranlassung ihres Entschlusses.

»Ich glaube auch, daß es heute kein passendes Wetter ist,« sagte sie.

»Ich will nicht diejenige sein, welche die Liebenden trennt,« dachte sie mit einem leichten Anflug von Aerger.

Sie ging zurück zum Kurhaus, während Falk Anna nach einem überhängenden Felsen am Berge begleitete, ihrem Lieblingsplatz, wo sie oft zu sitzen und unverwandt hinaus auf die See zu blicken pflegte.

Frau Krabbe war heute verstimmt und sprach nicht viel. Sie dachte mit beklommenem und haßerfülltem Gefühl an ihre alte Schulkameradin, Ulla Rosenhane, ahnte mit der ganzen mißtrauischen Eifersucht einer gefallsüchtigen Frau, daß ihr diese Künstlerin mit den freien Gewohnheiten im Verkehr mit Männern, den Begriffen und dem leichten Umgangston der großen Welt eine gefährliche Nebenbuhlerin werden könnte. Was hatte sie dem alles entgegen zu setzen, sie, der keine fließende Unterhaltungsgabe zu Gebote stand und die weder Bildung noch sonst irgend welche Interessen hatte? Nichts weiter als ihre Liebe – oder richtiger gesagt, denn sie machte sich keine Illusionen über sich selbst – ihr brennendes, leidenschaftliches Verlangen, geliebt zu werden. Nicht nur geliebt werden in dem Sinne von hoher Wertschätzung, das war ihr so völlig gleichgiltig, daß sie nicht einmal eine Freundin hatte, aber geliebt in dem Sinn, das ersehnte Ideal eines Mannes zu sein, das Ziel aller seiner Wünsche, seiner brennenden Blicke, seiner heimlichen Träume. Ohne dies war ihr das ganze Leben nichts, ein leeres, gedankenloses Schattenspiel, dem sie mit abwesendem, gleichgiltigem Blick zusah, was ihr so wesenlos wie ein Traum erschien.

Schon als Kind waren solche erotische Stimmungen über sie gekommen. Eltern und Lehrer hatten sie wegen ihres träumerischen Wesens für besonders intelligent gehalten und geglaubt, von diesem reich begabten Kinde weniger Fleiß beim Lernen und Arbeiten fordern und sie nicht mit dem gewöhnlichen Maß messen zu dürfen. Die seelenvollen Augen, der verschlossene Mund, das Zurückhaltende ihres ganzen Wesens gaben ihr etwas Rätselhaftes, Sphinxartiges und alle Männer, welche sich in sie verliebten, waren diesem geheimnisvollen Zauber verfallen, der bei näherer Bekanntschaft so viel zu versprechen schien.

Auch Falk gehörte zu diesen Bezauberten, und doch saß er jetzt hier an ihrer Seite und dachte an die andere. Noch nie hatte jemand einen so tiefen Eindruck auf ihn gemacht wie diese Malerin. Er wußte selbst nicht recht, ob es ein sympathischer war, er wußte nur, daß er mit seinen Gedanken nicht von ihr loskommen konnte. Die hohe, schlanke Gestalt, die freie, kühne Haltung des Kopfes, dann diese Sicherheit in jeder Bewegung, die freie Sicherheit der geborenen Weltdame – und das Haar, lauter Löckchen über den ganzen Kopf, und die Augen und das Lächeln!

»Nun!« sagte Anna und sah ihn an.

»Was?«

»Wollen Sie jetzt segeln?«

»Jetzt! Das wäre ja aber unhöflich gegen Fräulein Rosenhane.«

»So gehen Sie doch zu ihr. Warum sitzen Sie hier!« sagte Anna und zog ihre starken Augenbrauen zusammen.

»Es ist auch wirklich zu stürmisch, Frau Krabbe.«

»Ich fürchte mich nicht,« sagte sie erbleichend und stand auf.

»Sie fürchten sich wohl, ich sehe es Ihnen an.«

»Es gibt Dinge, vor denen ich mich mehr fürchte als vor dem Segeln mit Ihnen,« sagte sie, und ihre Blicke begegneten sich.

»Sie wollen also wirklich jetzt mit mir segeln?« fragte er.

Sie sah hinaus auf die schäumende See, schloß zusammenschauernd eine Sekunde die Augen, antwortete aber in bestimmtem Tone: Ja.



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