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XV.

Frau Möller war im Dörfchen zurückgeblieben, um in die Hütten zu gehen, sich über den religiösen Standpunkt der Familien zu orientiren und kleine Traktätchen zu verteilen. Jetzt traf sie mit Falk und der zurückkehrenden Gesellschaft zusammen. Man teilte ihnen die Verlobung mit, aber Falk verriet nur flüchtiges Interesse für diese Neuigkeit. Er fragte nach Ulla.

Ja, wo war sie? Niemand wußte es. Man hatte sie schon auf dem Hinweg verloren – sie war gar nicht mit auf dem Aussichtsberg gewesen. Sie beschrieben Falk, wie sie gegangen waren und wo sie ungefähr Ulla aus den Augen verloren hatten, und er machte sich auf, sie zu suchen, während die übrige Gesellschaft nach dem Häuschen zurückkehrte, um die Abendmahlzeit herzurichten.

Er fand sie noch unter den Fichten auf der Heide liegend. Sie wußte, daß er es war, der kam, und erhob sich hastig. Aber anstatt ihm entgegen zu gehen, schlug sie den entgegengesetzten Weg ein und that, als ob sie sein Kommen nicht bemerkte. Sie machte sich selbst nicht klar, warum sie so handelte, es geschah ohne alle Reflexion, sie eilte nur rasch vorwärts und sah immer geradeaus.

Trotzdem erreichte er sie bald, sprang an ihr vorbei und vertrat ihr den Weg.

»Sie wollen mir entfliehen, aber Sie dürfen nicht weiter. Ach, Fräulein Ulla,« sagte er und beugte halb scherzend ein Knie, während das andere Bein ganz steif gerade ausgestreckt im Grase lag. »Ich komme als ein großer Sünder. Können Sie mir verzeihen?«

»Was?« fragte sie, und wieder trat die Versuchung an sie heran, sich zu ihm herab zu beugen und seine Stirn zu küssen, als sie den weißen Streifen zunächst den Haarwurzeln sah, der ihr so gut gefiel. Und sie wandte sich weg, um der Versuchung nicht zu unterliegen.

»Eigentlich ist es schade,« fuhr sie neckisch fort, »daß Kniefälle heutzutage nicht mehr Mode sind. Nicht einmal mehr auf dem Theater, wo sie sich doch recht gut ausnehmen. Es steht Ihnen wirklich, wenn Sie so liebenswürdig und demütig aussehen.«

»Ja, ›liebenswürdig und demütig‹ will ich wirklich sein, wenn ich Ihre Verzeihung erhalte. Ach, Fräulein – es hat mich so tief gerührt, daß – daß, wie ich von Frau Möller hörte –« er sprang auf und erfaßte ihre beiden Hände – »daß Sie meinetwegen Thränen vergossen haben.«

Er zog sie näher an sich heran und wollte ihr in die Augen sehen, aber sie wich seinem Blick aus und wurde rot. Das hatte er doch nicht erfahren sollen – lag nicht darin gewissermaßen ein Bekenntnis aller ihrer heimlichen Gedanken, die sie, da oben auf dem Berge sitzend, gehabt hatte.

»Und nachdem ich Ihnen so viel Angst bereitet hatte,« fuhr er fort, »kam ich Ihnen noch so unfreundlich und gereizt entgegen und stieß Ihre Teilnahme zurück. Ach, ich selbst kann mir das ja niemals verzeihen. Und dennoch bin ich nicht im stande, zu bereuen, Sie mit dieser dummen Schwimmtour beunruhigt zu haben, weil sie mir den teuren Beweis gegeben hat, daß ich Ihnen nicht ganz gleichgiltig bin; daß ich aber so albern sein konnte, auch noch heftig zu werden, wie Sie mir helfen wollten – nein, das war doch zu toll.«

»Deshalb machen Sie sich keine Sorgen, daran denke ich nicht mehr,« sagte Ulla und wollte weiter gehen.

»Nein, bleiben Sie!« bat er. »Ich möchte so gern Ihre Erlaubnis erbitten, einmal allein mit Ihnen sprechen zu dürfen – und hier ist eine so wunderschöne Stelle. Wollen wir uns nicht etwas hinsetzen?«

»Ja, das können wir ja thun, ein Weilchen,« sagte Ulla zögernd und ließ sich auf einen kleinen Grasabhang in halbliegender Stellung nieder.

Er setzte sich etwas tiefer ihr gegenüber, stützte sich auf den einen Ellenbogen, sah zu ihr auf mit dem ihm eigenen wunderbar innerlichen, energisch zwingenden Blick und sagte: »Gehe ich fehl, wenn ich dem, was Frau Möller mir erzählt hat, eine große Bedeutung beilege? Eine sehr große Bedeutung.«

Sie konnte der Macht dieses Blickes nicht widerstehen, er wirkte wie ein Zauber auf sie, sie mußte ihn ansehen, und ein sonniges Lächeln verklärte ihr ganzes Gesicht. Er schwang sich hinauf neben sie auf den Grasabhang und ergriff ihre Hände.

»Sagen Sie nur das eine, sagen Sie es! Sagen Sie, daß Sie mich ein wenig lieb haben – nein, nicht wenig, viel – so viel, daß Sie mein werden wollen?«

Sie sah ihm eine Sekunde tief und fest in die Augen, dann aber sank ihre Hand aus der seinen, und sie wandte den Blick weg.

»Es ist unmöglich,« sagte sie mit einem tiefen Seufzer.

»Warum unmöglich?« fragte er hastig.

»Ach, das sehen Sie doch selbst ein, das müssen Sie einsehen. Weil ich, wie ich Ihnen schon sagte, ein Wildvogel bin, der weder Wohnung noch Familie hat. Ich kann mich nicht an ein geregeltes Leben gewöhnen; von dem Augenblick an, wo ich wüßte, daß Sie mein gesetzlicher Herr wären und mit Recht über mich wie über Ihr übriges Eigentum verfügen könnten, würde ich Sie, das fühle ich, nicht länger lieben können. Ich kann nun einmal weder Wahrheit noch Schönheit in einem gebundenen Liebesverhältnis sehen – für mich kann die Liebe nicht anders als in voller Freiheit existiren – ohne Pflichten, ohne Rechte …«

»Halten Sie einen Augenblick ein, ein Wort, was Sie soeben fallen ließen, will ich fest halten,« rief er aus. »›Dann würde ich Sie nicht länger lieben!‹ Mehr verlange ich fürs erste nicht. Sie lieben mich also jetzt, wo ich noch nichts fordern darf. Habe ich nach etwas anderem gefragt? Ich mache es nicht wie der Dozent, der nur von seiner Verlobung, statt von seiner Liebe spricht. Nein, ich bin kein solcher vertrockneter Gesetzesmensch, daß das erste, woran ich bei einem Liebesverhältnis denke, der Trauschein wäre. Ich will nur wissen, ob Sie mich lieben, dann habe ich keine Sorge wegen der Zukunft, das andere kommt dann alles von selbst.«

»Ist es aber recht, sich an eine Liebe zu hängen, die keine Zukunft hat? Wir können noch ein paar Wochen zusammen sein, vielleicht – dann müssen Sie zu Ihrer Schule und ich zu meiner Malerei zurückkehren …«

»Wie!« rief er und sprang auf. »Zwei Wochen versprechen Sie, mich zu lieben. Ist das sicher?«

»Nein, nein – es ist besser, wir scheiden,« sagte Ulla, während sie ebenfalls aufgestanden war und ihre Hände, die er fest hielt, aus den seinen los zu machen suchte. Ihr Gesicht hatte einen Ausdruck quälender Unruhe bekommen.

»Nein, nicht so,« bat er. »Sagen Sie mir nur, daß Sie mich heute lieben – nur heute …«

»Ja, heute …«

»Das ist alles, wonach ich frage. Du liebst mich, was ist da die übrige Welt für mich, was die Zukunft? Ich habe ja alles, alles in Deiner Liebe. Sie ist für mich Vergangenheit und Zukunft, ist für mich Vaterland, Eltern, Freunde und Beruf, sie ist mir Arbeit und Vergnügen, Speise und Trank – ohne sie ist mir das Leben nichts, mit ihr besitze ich alles, was das Leben bietet. Hast Du niemals sagen hören, daß ein Mensch in seiner Todesminute noch einmal sein ganzes Leben in einem einzigen Augenblick durchlebt? Ebenso kann die Liebe das ganze Leben in einen Augenblick konzentriren. Fühlst Du das nicht – ist es Dir nicht ebenso?«

»Ich weiß es nicht – ich bin fast erschrocken vor dieser Liebe,« sagte sie. »Ich habe ein Gefühl, als ob in meinem Leben kein Platz dafür wäre. Laß mich erst zu größerer Klarheit kommen, laß mir noch etwas Zeit!«

»Nein, nein, ich lasse Dir keine Zeit – ich kann nicht länger warten,« rief er. »Du hast gesagt, daß Du mich liebst – und keine Macht der Welt, nicht einmal Du selbst kannst Dich mir entreißen.«

Er nahm sie in seine Arme und zog sie stürmisch an seine Brust. Aber diese Heftigkeit stieß sie ab, dieses gewissermaßen Erzwingenwollen, was sie nicht freiwillig gab. Sie war blaß geworden und riß sich los, und ein Zug von Strenge lag um ihren Mund.

»Sie fordern zu viel,« sagte sie. »Sie selbst haben lange genug gezweifelt, ob ich würdig wäre, Ihre Frau zu werden – ja, sagen Sie nichts dagegen, glauben Sie denn, ich hätte das nicht gesehen? Sie haben gegen Ihre Liebe gekämpft, weil Sie nicht überzeugt waren, daß ich allen Anforderungen, die Sie an Ihre künftige Frau stellen, genügen würde, noch vor ein paar Stunden, als ich mich Ihnen freundlich näherte, stießen Sie mich heftig zurück – jetzt aber, in dem Augenblick, wo Sie sich selbst entschlossen haben, verlangen Sie, daß auch ich bereit sein soll, meinerseits alle Bedenken über Bord zu werfen – Sie wollen nicht einsehen, daß auch ich Grund zu Zweifeln habe …«

»Es ist wahr, ich weiß es, Sie können tausend Gründe anführen, aber die Liebe kennt kein Hindernis auf ihrem Wege, sobald sie sich ihrer selbst bewußt geworden ist. Wenn Sie mich wirklich lieben …«

»Ich habe nicht gesagt, daß ich Sie liebe.«

»Sie haben kein Recht mehr, so zu sprechen,« fuhr er heftig auf, während er mit hartem Griff ihre Handgelenke umfaßte und seine Blicke in die ihren bohrte. »Sie haben kein Recht, Ihre eigenen Worte zurück zu nehmen. Noch vor einer Minute sagten Sie: ›Ja, heute‹. Sie können nicht – Sie dürfen mich nicht derartig behandeln – es macht mich verrückt …«

Er ließ sie los, hielt die Hände vor das Gesicht und bebte am ganzen Körper.

Ulla fühlte sich von diesem gewaltsamen Ausbruch seiner Leidenschaft peinlich berührt. Sie hatte schon oft bemerkt, daß er heftig war und keinen Widerspruch duldete, und dieser Zug war ihr unsympathisch. Diese maßlose Heftigkeit seiner Leidenschaft aber erschreckte sie förmlich. Sie war wie eine Naturrevolution – unberechenbar, entsetzlich.

Sie versuchte, ihn zu beruhigen, wie man die leidenschaftlichen Thränen eines Kindes zu stillen sucht, und redete ihm in zärtlich scherzendem Ton zu.

»Warum wollen wir uns unser schönes Zusammensein zerstören?« sagte sie. »Wenn Sie jetzt gut und verständig sind, will ich alles thun, was Sie vernünftigerweise von mir fordern können.« Sie machte eine kleine Pause – »ich will zugeben, daß ich Sie liebe …«

Er sah auf und ergriff wieder ihre Hände. Er war blaß und seine Augen hatten sich gerötet.

»Sagen Sie das noch einmal,« rief er, das Gesicht ganz nahe dem ihren.

»Ja, ich liebe Dich, aber – ich wiederhole es noch einmal, laß mir Zeit, laß mir Zeit …«

Er führte ihre Hände an seine Lippen und küßte sie heftig, ließ sie aber gleich wieder los, als fürchtete er, sie möchte sie zurückziehen. Er sah, daß er sich beherrschen müßte, wenn er nicht alles, was er gewonnen hatte, wieder verlieren wollte. Dennoch war es ihm unmöglich, das innere Gleichgewicht so rasch wieder zu gewinnen, nach diesem gewaltsamen Ausbruch seiner Leidenschaft, der sein ganzes Nervensystem erschüttert hatte. Er drückte den Südwester tief in die Augen und kletterte in großen Sätzen den steilen Weg zum Strand hinab.

Als sie auf ebeneren Boden kamen, holte ihn Ulla wieder ein und legte ihren Arm in den seinen. Er dankte ihr mit einem Blick, ließ aber den Arm liegen, ohne einen Versuch zu machen, sie näher an sich zu ziehen.

Schweigend gingen sie durch die Schlucht, wo sie die Mittagsmahlzeit gehalten hatten, bis an die Hütte des Lotsen. Durch das offene Fenster, das so tief lag, daß sie schon vom Bergabhang aus die ganze Stube übersehen konnten, schallten ihnen muntere Stimmen entgegen.

Mitten auf dem Sofa saßen die Neuverlobten, die Hände in einander gelegt, und der Dozent erzählte zum drittenmal seine Verlobungsgeschiche, diesesmal Fräulein Suhr: »Wir disputirten anfangs immer – ja, wir stritten uns geradezu.«

Herr Krabbe schlief im Schaukelstuhl. Eglantine deckte den kleinen Tisch vor dem Sofa mit den echten ostindischen Tassen des Lotsen und goß Thee aus dem kupfernen Kessel ein, der auf einem Dreifuß auf den Steinen vor dem Ofen stand.

Falk und Ulla standen einen Augenblick still und betrachteten die gemütliche Gruppe um den Theetisch.

»Wollen Sie hinein?« fragte er, und als Ulla zögerte: »Können Sie wirklich hinein wollen und sich unter diese gleichgiltigen Menschen setzen – in einem Augenblick wie diesem?«

»Nein, nein, lassen Sie uns draußen bleiben,« sagte sie und zog ihn mit weg.

Sie gingen weiter, am Häuschen vorbei, hinab zum Hafen, bis zur Landungsbrücke.

Er sprang in sein Boot. »Lassen Sie uns segeln!« bat er. »Was könnten wir sonst Besseres thun an einem solchen Abend, wie der heutige für uns ist, als zusammen segeln – allein zwischen Himmel und Meer?«

»Aber geht das, bei diesem Wind?« sagte sie, während sie doch seine Hand ergriff und in das Boot sprang.

»Draußen auf dem offenen Meer hat es keine Gefahr, nur hier zwischen den Skären.«

Während er die Segel hißte, schaukelte das Boot langsam zum Hafen hinaus. Es glitt vorbei an der Hütte des Lotsen mit dem Theetisch und dem verlobten Paare – vorbei an einer noch kleineren Hütte, aus der man eine Silberstimme mehrere Kinderstimmen ein geistliches Lied dirigiren hörte. Sonst war am Land alles still.

Aber auf dem Meer jagte der Wind die Wogen in jubelnder Fahrt dahin. Sie eilten alle nach Westen – nach Westen, wo Himmel und Meer in einander schmolzen bei dem gedämpften Licht der Sommernacht, und wo das ferne Land in dunklem, geheimnisvollem Nebel der Zukunft lag.



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