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Es war Sommer mit langen, heißen Tagen und kurzen, lauen, hellen Nächten. Ullas Hängematte hing zwischen den Fichten, die den Hof von Jökelheim an der einen Seite begrenzten. Dort lag sie und lauschte dem Brausen des Wasserfalles, träumte oder las, während Margit die beiden kleinen Jungen in einem Korbwagen auf dem Sandweg vor dem Hause hin und her fuhr.
Ulla war noch schwach nach ihrem ungewöhnlich schweren Wochenbett, und über ihrem Wesen lag eine Wehmut, die ihr sonst nicht ähnlich war. Sie konnte ein Gefühl von Abscheu und Entsetzen nicht überwinden bei dem Gedanken an das, was sie durchgemacht hatte. Ihre erste Bekanntschaft mit körperlichen Qualen, mit all den Widerwärtigkeiten eines schweren Krankenlagers waren ihr eine so unschöne und peinliche Erinnerung, daß sie sich störend sogar in ihre Freude über ihr frisches und wohlgebildetes Kind mischte. Daß das Mutterglück, dieses poetischeste und am häufigsten besungene Gefühl, mit etwas so Widerwärtigem verknüpft sein sollte, wie das, was sie hatte durchmachen müssen, erschien ihr so verabscheuungswürdig, daß sich ihr ganzes Innere dagegen empörte, und sie hatte die Empfindung, daß diese Erinnerung für immer einen Schatten über ihr Glück werfen würde.
Diese Phantasien wurden noch dadurch außerordentlich bestärkt, daß das, was für eine Mutter die süßeste Pflicht sein sollte, ihr Kind zu nähren, für sie mit großen Schmerzen verknüpft war. Infolge ihrer bedenklichen Schwäche nach der Operation hatte man ihr das Neugeborene nicht gleich an die Brust legen können und Margit hatte ihm die erste Nahrung gegeben. Als aber Ulla das Kind dann selbst nehmen sollte, entstanden Schwierigkeiten, weil man zu lange damit gezögert hatte, und so wurde ihr die Freude, den Kleinen bei sich zu haben, von vornherein getrübt.
Sie selbst würde mit dem Nähren aufgehört und das Kind mit Kuhmilch aufgezogen haben, wenn sie nicht gefühlt hätte, daß Falk von ihr erwartete und forderte, auszuhalten. Das Kind wuchs und gedieh, und er dachte gar nicht daran, daß die Mutter auch nur einen Augenblick zweifeln könnte, sich aufzuopfern, wenn es das Wohl des Kindes galt.
Ulla war zu stolz, sich dem zu entziehen, was er als ihre Pflicht ansah. Aber es kränkte sie, daß er so große Anforderungen an sie stellte, und sie wartete darauf, daß er sie von selbst bitten sollte, es aufzugeben.
Falks Bein war seit jener Nacht, als er stundenlang vor Ullas Bett auf den Knieen gelegen hatte, bedeutend schlimmer geworden. Er hinkte auffallend, und Ulla bat ihn noch einmal, doch nach Christiania zu reisen und dort ärztliche Hilfe zu suchen. Aber er wollte nichts davon hören. Der Gedanke widerstrebte ihm zu sehr, daß er für sein Uebel Hilfe suchen sollte, während er sie nicht von ihren Leiden befreien wollte. Denn er wußte recht gut, daß das nur von ihm abhing, daß sie viel mehr um seinetwillen als des Kindes wegen aushielt. Er wollte das kleine Wort, worauf sie wartete, nicht aussprechen; er versuchte, sich gegen die Weichheit zu stählen, die ihn überkam, wenn er sah, wie sie litt, denn es war ihre Pflicht, auszuhalten, und es würde ihn geschmerzt haben, wenn sie sich derselben entzogen hätte.
Er war in dieser Zeit viel auf Reisen und hielt Vorträge weit und breit im Lande umher. Diese Vorträge waren ihm nicht nur eine Freude und Erquickung nach der mehr einförmigen Arbeit in der Schule, sie verschafften ihm auch den Hauptteil seiner Einnahme. Die Abgaben für die Schüler waren so niedrig bemessen, daß sie nur mit knapper Not die Auslagen für die Kost deckten. Der geringe Beitrag, den Staat und Kommune zahlten, ging für Besoldung der Hilfslehrer darauf, und das kleine Vermögen, was er besaß, hatte er schon fast völlig geopfert, um bauen und das Ganze in das Leben rufen zu können. Er mußte deshalb noch auf allerlei Extraeinnahmen denken, um sich und seine Familie zu erhalten.
[Falk] war gerade von einer mehrtägigen Reise zurück gekommen, und er und Ulla saßen zusammen und erzählten sich, was sich während ihrer Trennung zugetragen hatte, als Margit mit dem Knaben kam und sagte, er wolle »zur Mutter«.
Ulla überfiel ein Frösteln schon beim Anblick des Kindes trotz des glühend heißen Sommernachmittags. Falk fuhr in die Höhe und wollte gehen.
»Warum gehst Du?« fragte Ulla. »Bleib nur hier, Du sollst es sehen. Es ist schrecklich … Aber ich fange auch an, einen förmlichen Widerwillen gegen ihn zu bekommen. Wenn ich den großen Kopf und den dicken Mund sehe, so fühle ich etwas in mir, das ihn zurückstoßen möchte – warum soll er das Recht haben, mich zu Tode zu martern?«
Sie wurde ganz rot und biß die Zähne vor Schmerz zusammen, als sie jetzt das Kind an die Brust legte.
Ihre Worte hatten Falk dermaßen erregt, daß er, obschon es ihn folterte, ihre Leiden zu sehen, doch nicht im stande war, ein verletzendes Wort zu unterdrücken.
»Meine Mutter hat Dir gewiß erzählt, was sie alles für ihre Kinder durchgemacht hat,« sagte er. »Ja, eine Mutter, die aushält, ist eine Heldin. Kein Mann, auch wenn er auf dem Schlachtfeld fällt, verdient so verehrt zu werden wie sie. Denke doch, daß meine Mutter zehn Kinder gehabt und nie daran gedacht hat, sie von jemand anderem nähren zu lassen.«
Ulla löste vorsichtig, aber mit bebenden Händen das Kind von sich los und reichte es Margit hin, die noch auf der Treppe stand.
»Du hast Dich schon öfter erboten, Margit,« sagte sie, nur mit Mühe ihre Stimme beherrschend, »den kleinen Rolf mit Deinem eigenen Kinde zusammen zu nähren – willst Du ihn jetzt nehmen?«
Das Kind schrie laut und Margit nahm es augenblicklich in seine Arme.
»Ja, von Herzen gern. Ich werde gewiß für beide genug haben.«
Sie drückte das Kind an ihre Brust und küßte es, während sie mit ihm hinein ging. Falk folgte ihr mit den Augen. Es lag etwas so echt Mütterliches in der Art und Weise, wie sie es an sich drückte. Alle natürlichen, physischen Instinkte des Weibes waren bei Margit stark entwickelt, sowohl die sensuell erotischen wie die beschützenden und vorsorglichen.
Ulla war aufgestanden und wandte sich jetzt mit zurückgehaltenen Thränen an Falk.
»Wenn Du von Deiner Frau forderst,« sagte sie mit bebender Stimme, »daß sie Dir auch zehn Kinder gebären und sich für sie zu Grunde richten soll, dann hättest Du Dich nicht mit mir verheiraten dürfen. Ich bin schon so total herunter, so nervös – seit fast einem Jahre bin ich nicht gesund und normal gewesen – und seitdem das Kind da ist, habe ich ja unaufhörlich Schmerzen – das schlimmste aber ist noch, daß ich fast nichts anderes mehr denken, mir nichts anderes mehr ausmalen kann als meine Schmerzen. Dann aber noch Vorwürfe zu bekommen und neue Forderungen hören zu müssen, das ist zu viel …«
Sie ging von ihm weg über den Hof, während sie ihre Augen trocknete und ihr Schluchzen zu beherrschen suchte.
Falk bereute seine Worte augenblicklich und eilte ihr nach.
»Bin ich hart und ungerecht gegen Dich gewesen?« sagte er innig und zog sie zu sich heran. »Vergib mir, Geliebte! Nein, Du darfst nicht so weinen. Ach ja, es ist leicht für uns Männer, Anforderungen an euch zu stellen, wir wissen ja nicht, was ihr leidet. Du Aermste – und ich habe von Dir verlangt, was über Deine Kräfte ging. Das war abscheulich von mir – ich hätte doch bedenken müssen, daß nicht alle gleiche Kräfte haben.«
»Die gleiche moralische Kraft meinst Du,« sagte Ulla. Es lag in seiner mitleidigen Zärtlichkeit etwas, das sie auf das tiefste schmerzte. Sie war nicht die Heldin wie seine Mutter und wie er sie sich gewünscht hätte; da sie nun aber einmal so schwach und feig war, mußte man schon Nachsicht mit ihr haben. Das war es, was für sie in seinen Liebkosungen lag, und deshalb entzog sie sich ihnen und ging von ihm weg.
Der kleine Rolf gedieh nicht bei Margit. Er sowohl wie sein zwei Monate älterer Bruder fingen an, magerer zu werden – und auch Margits Kräften merkte man es an. Sie war zu jung – erst achtzehn Jahre alt – um zwei Kinder aufziehen zu können.
Da es unbedingt gegen Falks und seiner Mutter Theorie von dem Natürlichen verstieß, das Kind mit der Flasche aufzuziehen, schlug Ulla mit naivem Egoismus vor, Margit solle ihr Kind einer Bauernfrau in der Nachbarschaft geben, die ihr eigenes verloren hatte, und nur die Amme des kleinen Rolf bleiben.
Dem aber widersetzte sich Falk auf das entschiedenste. Diese Sitte, eine Amme zu nehmen, die ihr eigenes Kind infolge dessen fremden Leuten zum Aufziehen geben muß, fand er hassenswürdig und unmoralisch.
»Denke doch, auszunützen, daß man vielleicht zufällig mehr Geld als die andere hat und dem Kinde der Armen die Muttermilch für das eigene abzukaufen – kann man sich etwas Empörenderes denken?« sagte er. »Nein, dann müssen wir unseren kleinen Rolf nach dem Bauernhof schicken.«
Und so reisten Falk und Ulla eines Tages mit ihm fort. Es war ein reicher Bauernhof, die Frau jung und frisch und sehr kinderlieb, so daß es der kleine Rolf in jeder Beziehung sehr gut bekam. Aber trotzdem hatten sie doch ein recht unbehagliches Gefühl, ohne ihn wieder nach Hause zu kommen. Sie wagten nicht, von dem zu sprechen, was ihnen fehlte. Falk aber konnte nicht umhin, ihr in seinem Innern Vorwürfe zu machen, daß sie nicht ausgehalten hatte, und das fühlte sie. Es quälte sie, zu wissen, daß sowohl Falk wie seine Mutter, die still herumschlich und sich grämte, fanden, sie habe sich ihrer Pflicht entzogen. Sie fühlte, daß sie etwas von ihres Mannes früherer Bewunderung verloren habe und hätte lieber ihre körperlichen Schmerzen wieder ertragen als dieses.
Es dauerte übrigens auch noch eine geraume Zeit, ehe sie wieder hergestellt war; sie hatte noch Schmerzen und war noch lange sehr schwach, nervös und unruhig.
»Ich habe es ja immer gewußt, daß die Ehe nichts für mich wäre,« sagte sie sich einmal um das andere. Und doch – sie dachte an ihre kurze Sommergeschichte, an die Fahrt über das Skagerrack, die Wanderung über die Fjälle, die Nacht in der Sennhütte, und mitten in ihren Schmerzen seufzte sie Gretchens Worte:
»Doch alles, was dazu mich trieb,
Gott, war so gut! ach, war so lieb!«