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Rechtsanwalt Dr. Bloch fuhr von Gugenzeil aus sofort zu dem Friseurgeschäft, in dem Frau Elsa Krüger tätig war. Zu dem Chef sagte er:
»Ich gratuliere Ihnen.«
»Wozu?«
»Zu Ihrer Berühmtheit.«
»Welcher Berühmtheit? Ich weiß von nichts.«
»In zehn Tagen wird Ihr Geschäft in aller Mund sein. Die Zeitungen werden zu Ihnen schicken und Sie interviewen. Denn ich bin entschlossen, aus dem Prozeß Richard Krüger eine cause célèbre zu machen.«
»Was habe denn ich damit zu tun?«
»Sie haben allem Gerede zum Trotz die Mutter des Angeklagten bei sich aufgenommen. Diese Mutter ist keine gewöhnliche Mutter. Um ihren Sohn zu retten, ersinnt sie phantastische Pläne. Diese Mutter werde ich berühmt machen – und damit zugleich Ihr Geschäft. Sagen Sie, lieber Freund, ist Ihnen nicht auch schon aufgefallen, daß diese Frau Krüger spintisiert und Geschichten erfindet, die man sonst nur in Romanen erlebt.«
»Das nicht. Aber sie ist natürlicherweise aus Angst um ihren Jungen in einer anormalen Erregung.«
»Anormale Erregung! Das wollte ich hören! Vergessen Sie es nicht! Es kann von ausschlaggebender Bedeutung sein. Anormale Erregung. Also ist der Sohn erblich belastet und hat die Tat in einem Zustand hereditär anormaler Erregung begangen.«
»So meinte ich das nicht.«
»Sie haben es gesagt – und müssen zu Ihrem Wort stehen, denn es gibt den Schlüssel zu der ganzen Affäre. Die Mutter ist eine krankhaft überspannte Person und kommt als glaubhafte Zeugin überhaupt nicht in Frage.«
»Sie beherrscht sich schwer . . .«
»Großartig! Also gesteigerter Affekt, den der Sohn von ihr geerbt hat.«
»Ich wollte ja sagen . . .«
»Sie haben genug gesagt. Belasten Sie die arme Frau nicht mehr.«
»Aber ich will ja im Gegenteil gerade . . .«
»Ich weiß. Anormale Erregung, gesteigerter Affekt – wollen Sie sich das nicht aufschreiben? Es ist von ausschlaggebender Bedeutung. Dann: wie steht es mit der Wahrheitsliebe? Sie erfindet Geschichten?«
»Das ist mir nicht aufgefallen.«
»Sie haben doch gesagt, sie sei anormal erregt.«
»Nun, ja.«
»Also! In anormaler Erregung, da sagt man doch Dinge, die man sonst nicht sagt.«
»Selbstredend.«
»Mutterliebe, die keine Grenzen kennt.«
»Die hat sie.«
»Nun also! Wiederholen wir: anormale Erregung, gesteigerter Affekt, unnatürliche Mutterliebe, die bei einem Kinde kein genügendes Feld zur Betätigung findet. Die Frau hätte sechs Kinder haben müssen.«
»Das stimmt.«
»Sehen Sie! Ist es da ein Wunder, wenn sie sich über dies Kind hinaus nach mehr Kindern sehnt.«
»Das begreife ich.«
»Es wundert Sie also nicht, wenn sie plötzlich behauptet, ein Kind, das zufällig am selben Tage geboren ist wie ihr Kind, gehöre ihr.«
»Das ist ja verrückt.«
»Ausgezeichnet! Behalten Sie: anormale Erregung, gesteigerter Affekt, unnatürliche Mutterliebe, verrückt!«
»Sie wird doch nichts anstellen hier? Wo sie mit Brennschere und Kämmen umzugehen hat?«
»Seien Sie unbesorgt. Derartige Geisteskranke sind ungefährlich.«
»Aber ihr Sohn hat doch . . .«
»Erst in der zweiten Generation kommt es in der Form zum Ausbruch.«
»Ich kann sie also behalten? Sie ist sehr tüchtig.«
»Das sind Kranke dieser Art immer. Sie werden keinen Ärger mit ihr haben. Nur vergessen Sie nicht Ihre Wahrnehmungen, wenn Sie als Zeuge von mir befragt werden: anormal erregt, gesteigerter Affekt, unnatürlich, verrückt. Sie helfen ihr und ihrem Sohn damit.«
»Das sollte mich freuen.«
»Und nun rufen Sie sie mir. Ich habe dringend mit ihr zu sprechen.«
Es dauerte keine Minute, da erschien Frau Krüger – und Rechtsanwalt Dr. Bloch sagte zu ihr:
»Nehmen Sie Hut und Mantel und kommen Sie mit mir mit.«
»Ich habe noch Dienst.«
»Der Chef gibt Sie frei.«
Während sie sich anzog, erbat und erhielt er Urlaub für sie. Dann nahm er sie unter den Arm, schob sie in sein Auto und sagte dem Chauffeur:
»Fahren Sie in den Grunewald, bis ich Ihnen sage: umkehren.«
»Ist was Neues passiert?« fragte Frau Elsa besorgt.
»Das kann man wohl sagen.«
»Was Gutes oder was Schlechtes?«
»Was Schlechtes – und zwar betrifft es Sie.«
»Mich?«
»Ja, sagen Sie, Frau Krüger, sind Sie denn ganz und gar verrückt? In ihrem Bestreben, ihren Sohn zu retten, erfinden Sie Geschichten, durch die Sie ihn nur immer mehr hineinreiten.«
»Großer Gott, was habe ich denn getan?«
»Sie haben das Schlimmste getan, was eine Mutter tun kann. Sie haben sich von Ihrem Sohn losgesagt. Sie verleugnen ihn. Und da nicht abzustreiten ist, daß Sie ein Kind haben, so reklamieren Sie ganz einfach Fräulein Hilde Gugenzeil für sich. Ja, merken Sie denn nicht, daß Sie damit Ihrem Sohn einen sehr schlechten Dienst erweisen? Denn die Richter werden sich sagen: die eigene Mutter rückt von ihm ab.«
»Es ist doch aber so.«
»Das ist nicht wahr.«
»Ich schwöre es Ihnen.«
»Und wenn es tausendmal so wäre, so müßten Sie es für sich behalten.«
»Wissen Sie, daß Sie schwer bestraft würden, wenn es wahr wäre? Wollen Sie, daß Hilde, falls Sie wirklich Ihre Tochter ist, eine Zuchthäuslerin zur Mutter hat? Sie machen sich, den Jungen und das Mädchen unglücklich. Und helfen tun Sie niemandem.«
»An alles das habe ich nicht gedacht.«
»Tun Sie es jetzt, wo es noch Zeit ist.«
»Das kann ich nicht mehr.«
»Weshalb denn nicht?«
»Weil ich vor der Hilde dann als Lügnerin dastehe.«
»Und was Sie bis dahin getan haben – wenn es wahr wäre –, war das denn nicht viel mehr als eine Lüge – und ein Verbrechen dazu?«
»Da haben Sie recht.«
»Die Folge wäre, daß Sie beide verlieren – ihn und sie – während Sie, wenn Sie widerrufen, unter Umständen zu Ihrem Sohn die Tochter noch hinzugewinnen.«
»Sie meinen, daß der Richard und die Hilde . . .?«
»Sehr möglich ist das.«
»Dann habe ich ja eine große Dummheit gemacht.«
»Eine ganz große. Aber seien Sie froh, daß es noch Zeit ist, sie wieder gutzumachen. – Umkehren!« rief er dem Chauffeur zu.
»Wenn das ginge! – Aber wie stell' ich das an?«
»Das übernehme ich – vorausgesetzt, daß Sie mir beim Leben Ihres Kindes – mag das nun der Sohn oder die Tochter sein – schwören, daß Sie die Sache ein für allemal ruhen lassen.«
»Wenn es für die beiden gut so ist.«
»Das habe ich Ihnen ja erklärt. Oder haben Sie nicht verstanden?«
»Doch! Doch! Und wenn Sie es aus der Welt schaffen, was ich gesagt hab', dann schwöre ich Ihnen . . .«
»Geben Sie mir die Hand – und denken Sie immer an diesen feierlichen Augenblick.«
Er streckte ihr die Hand hin – und sie schlug ein.
Sie war so erregt, daß sie seine Hand gar nicht wieder los ließ. Er redete ihr gut zu – und als das Auto hielt, nahm er sie unter den Arm und führte sie in sein Büro. Dort setzte er sie in einen Sessel.
»Fräulein!« rief er seiner Sekretärin zu. »Schreiben Sie!« – und er diktierte:
»Ich erkläre an Eidesstatt, daß Richard Krüger mein leibhaftiger Sohn ist. Wenn ich der Frau und dem Fräulein Gugenzeil einzureden suchte, daß ich den Richard und Hilde am Tage der Geburt vertauscht habe – so daß in Wirklichkeit Hilde mein Kind und Richard das Kind des Ehepaares Gugenzeil ist, so beging ich diese bewußte Unwahrheit nur, um meinem Sohn zu helfen. Denn ich war der Ansicht, daß Gugenzeils ihm in ganz anderer Weise hätten helfen können als ich in meinen beschränkten Verhältnissen dazu imstande war. Ich bedaure, in Sorge um meinen Sohn diesen Versuch gemacht zu haben, von dessen Strafbarkeit Herr Rechtsanwalt Dr. Bloch mich unterrichtet hat.«
Als die Sekretärin wieder draußen war, reichte Rechtsanwalt Dr. Bloch das Blatt Frau Elsa und sagte:
»Es ist in juristischer Form eine Bestätigung dessen, was Sie mir im Auto versprochen haben. Sie brauchen es gar nicht erst . . . oder es ist doch besser, Sie lesen es, ehe Sie unterschreiben.«
Frau Elsa, der große Schweißperlen auf der Stirn standen, nahm das Blatt und fuhr mit den Augen darüber her. Dann reichte sie es dem Anwalt zurück und sagte:
»Es schwimmt mir alles vor den Augen, lesen Sie es mir vor.«
Bei jedem Satz, den er las, schüttelte Frau Elsa den Kopf – und als er zu Ende war und ihr den Federhalter in die Hand drückte, zögerte sie und sagte:
»Es ist eine große Sünde.«
»Tun Sie, was Ihr Gewissen Ihnen vorschreibt«, erwiderte Rechtsanwalt Dr. Bloch – und Frau Elsa fragte:
»Mache ich mich strafbar, wenn ich etwas Falsches unterschreibe?«
»Unter Umständen ja!«
Frau Elsa saß eine Zeitlang in tiefen Gedanken. Dann raffte sie sich auf, nahm den Halter, sagte:
»Ich will, daß es den Kindern gut geht« – und unterschrieb.