Artur Landsberger
Mensch und Richter
Artur Landsberger

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XVIII.

Richard Krüger, der als Künstler den Namen Richard de Cruche trug, hatte gar nicht begriffen, in was für eine Gesellschaft er da geraten war. Dem Namen nach kannte sie jeder, den er danach fragte. Aber die meisten sagten: »Satanisten? Teufelsjäger? Ja, gibt es die denn heute noch?« – Nur der Oberkellner von Ciro, der mit allen Wassern gewaschen war und die Welt und Unterwelt gründlich kannte, erwiderte:

»Richard, nehmen Sie sich in acht! Die Sekte ist fanatisch und scheut auch vor einem Morde nicht zurück.«

Richard spielte an diesem Abend kaum eine Stunde bei Ciro, als Aga Tramm in großer Erregung in das Restaurant gestürzt kam und ihm vor allen Gästen zurief:

»Richard! Du bist in Gefahr! Mach, daß du fortkommst.«

Sie stand noch vor der Musikkapelle, als durch die geschlossenen und mit dicken Portieren verhängten Fenster eine Kugel pfiff, die zwar nicht Richard, aber Aga Tramm in den linken Arm traf.

Wie ein Film, dachte Richard und stürzte auf Aga zu, während der Ober und ein paar Mann der Jazzkapelle die Gardinen beiseite schoben und die Fenster aufrissen. Die Seitenstraße war leer von Menschen. Im Hause gegenüber stand in der ersten Etage ein Fenster offen.

»Benachrichtigt die Polizei!« rief ein Gast, aber Aga Tramm, die einer Ohnmacht nahe war, raffte sich auf und sagte:

»Um Himmels willen! Unternehmen Sie nichts, wenn Ihnen Ihr Leben lieb ist.«

»Exaltierte Person!« sagte der Gast. Aber wie auf ein stillschweigendes Übereinkommen hin unterblieb eine Anzeige. Die Kapelle wechselte den Platz und weigerte sich weiterzuspielen, wenn Richard nicht das Feld räumte.

»Sie bedeuten für uns alle eine Gefahr«, sagte der Ober. »Machen Sie, daß Sie aus Paris herauskommen.«

Man führte Aga Tramm, die als Freundin des türkischen Prinzen bei Ciro bekannt und geschätzt war, zu einem Auto, während Richard durch einen Hinterausgang verschwand. Ihm war jetzt doch unbehaglich zu Mute – und wenn er das gestrige Erlebnis auch immer noch als unwirklich und Maskerade empfand, so fühlte er doch, daß irgend etwas, was er nicht begriff, diese Menschen zusammenhielt. Die Unruhe verließ ihn nicht. Er ließ seine Post, die meist von Damen der Gesellschaft stammte, ungeöffnet und überlegte gerade, ob er in ein Hotel ziehen solle, ohne jemanden zu sagen, wo er sich aufhielt, als die Klingel ihn ans Telephon rief. Es war Aga Tramm, die zu ihm sagte:

»Mach dir keine Sorge um mich. Ich bin in der Klinik« – sie nannte Namen und Adresse – »gut aufgehoben. Aber bleibe du nicht eine Stunde länger in Paris.«

»Genügt es, wenn ich in die Vorstadt ziehe?«

»Verlasse Frankreich!«

Wieder fiel ihm das Dramatische in ihrer Sprache auf – und er sagte sich gerade: das ist ja alles Theater – als er Aga Tramm rufen hörte:

»Großer Gott! Wer ist da am Fenster?«

»Was ist?« rief er erschrocken in den Apparat. Aber er hörte nur noch, wie ein Fenster klirrte und Aga laut aufschrie.

Er stürzte ohne Hut und Mantel auf die Straße, sprang in ein Auto und fuhr zur Klinik.

Der Pförtner verwehrte ihm den Eintritt. Er bestürmte ihn und erzählte ohne Zusammenhang das telephonische Erlebnis. Der Pförtner ließ ihn ein, schloß die Tür hinter ihm ab und verständigte den Arzt vom Dienst.

»Offenbar ein Geisteskranker«, sagte er zu dem Arzt, der schnell herbeieilte, ein paar Worte mit Richard wechselte und dann in das Zimmer Aga Tramms eilte. Richard folgte ihm.

Das Zimmer war stockfinster. Der Arzt knipste das Licht an. Aga Tramm lag in tiefem Schlaf. – Der Arzt wollte schon wieder hinausgehen, als Richard auf das zertrümmerte Fenster wies.

»Gnädige Frau!« rief der junge Arzt, – und Aga Tramm schlug langsam die Augen auf.

»Ist da wer?« fragte sie.

Der Arzt war an ihr Bett getreten:

»Werden Sie wach«, sagte er, »und erzählen Sie uns, was hier vorgefallen ist.«

Aga Tramm tat verwundert und sagte:

»Nichts.«

»Sie haben doch vor einer Viertelstunde mit Monsieur Richard telephoniert.«

»Ich?« – Sie schüttelte den Kopf.

»So sag die Wahrheit!« forderte Richard. »Du hast mir geraten, Paris zu verlassen – und während wir noch sprachen, klirrte plötzlich eine Scheibe und du schriest laut auf.«

»Ich habe nicht mit dir telephoniert.«

»Und die Scheibe?« fragte der junge Arzt und wies auf das eingeschlagene Fenster.

Aga Tramm wandte sich zu dem Fenster um und tat erstaunt. Sie wies auf ihren Arm, der in einer Binde lag und sagte:

»Ich hatte große Schmerzen. Der Professor gab mir eine Spritze. Ich schlief gleich ein – und habe nichts gehört.«

»Hast du so große Furcht vor deinen Leuten, daß du nicht zu reden wagst?«

»Ich weiß gar nicht, was du meinst.«

»Und der Schuß bei Ciro – und dein zerschossener Arm – ist das alles nicht wahr?«

»Quäl mich nicht und geh! – Weit fort! Ich darf es dir nicht noch einmal sagen.«

»Bist du dann sicher, wenn ich verschwunden bin?«

Aga Tramm gab zu verstehen, daß sie in Gegenwart des Arztes nicht sprechen wolle. Als der Arzt draußen war, schlang sie den gesunden Arm um Richards Hals, küßte ihn auf den Mund und sagte schluchzend:

»Richard! Ich habe den Auftrag . . .« – Sie stockte und wies auf den Nachttisch. Richard zog ihn auf. Vorn an lag ein Browning – und Aga Tramm fuhr fort: ». . . dich zu erschießen.«

»Du hast es versprochen?«

»Ich mußte.«

»Und wenn du es nicht tust?«

»Dann bin ich verloren.«

»Das ist ja ein Wahnsinn! So etwas gibt es? – In Paris! Im zwanzigsten Jahrhundert. – Und kein Mensch weiß etwas davon.«

»Erzähl es nicht dem Arzt.«

»Er würde es nicht glauben.«

»Darin liegt unsere Sicherheit und zugleich die große Gefahr: daß niemand es glaubt.«

»Wenn einem das in Wildwest passiert, man würde auch dann noch staunen – aber mitten in Paris.«

»Du siehst nun ein, daß du schon meinetwegen fort mußt.«

»Kann man die Bande denn nicht festnehmen und unschädlich machen?«

»Es ist ein Glaube – genau wie deiner – nur an strengere Gesetze gebunden.«

»Und wenn ich verschwinde, geschieht dir nichts?«

»Möglich, daß sie sich damit zufrieden geben.«

»Hängst du denn so daran?«

»Eher macht sich ein Mensch, der unrettbar dem Morphium verfallen, zum Skelett abmagert und ein Schatten seiner selbst geworden ist, von dem Gift frei als ein Satanist von seiner Kirche. Denn sie gibt ihm mehr als alle Rauschgifte der Welt ihm je geben können.«

»Und das Ende?«

»Der Tod kommt früher. Aber statt des unerträglich stupiden Lebens hat man ein Dasein höchster Wollust gelebt. – Richard! Noch ist es Zeit für dich. Sage, daß du bereust, ich versöhne sie und du wirst einer der Unseren!«

»Ich bedaure – aber ich bin zu gesund und habe keinerlei Anlage zum Verbrecher.«

»Schade für dich, mein Junge! Dann sehe ich dich also zum letztenmal.«

Sie küßte ihn – und er erwiderte ihre Zärtlichkeit ohne innere Anteilnahme.

»Schade, daß du für mich verloren bist«, sagte er – nur, weil er fühlte, daß er ohne ein Wort des Abschieds nicht von ihr gehen konnte. Aber er war sich klar, daß er nichts mehr für sie empfand.

»Was wirst du dem Arzt sagen?« fragte sie, als er sich zur Tür wandte.

»Ein harmloses Abenteuer – ein verrückter Verliebter – ein türkischer Prinz.«

In diesem Augenblick öffnete sich die Tür. Der junge Arzt erschien, hinter ihm der Prinz.

Das ist ja eine fabelhafte Regie, dachte Richard und trat zur Seite.

Der Prinz hatte einen Strauß Orchideen in der Hand.

»Wo hast du denn die herbekommen mitten in der Nacht?«

»Sage mir lieber, wie dieser Herr – Sie sind ja wohl der Primgeiger von Ciro? – in dein Krankenzimmer kommt?«

Aga Tramm setzte ihr reizvollstes Lächeln auf, wies auf die Scheiben und sagte:

»Durchs Fenster.«

Der junge Arzt witterte ein Liebesabenteuer – und wenn er es auch nicht zu entwirren vermochte, so lächelte er doch verständnisvoll und sagte:

»Ich habe mir gleich so etwas gedacht.«

Der Prinz dachte: Wie unbequem ist doch die Liebe, wenn man kein Geld hat – ging ans Bett, küßte Aga Tramm die Hand, die sie ihm entgegenstreckte und überreichte die Orchideen.

Richard machte zu dem jungen Arzt hin eine Verbeugung und verschwand. Er fuhr nach Haus, packte in Eile seine Koffer, schrieb ein paar Zeilen an Ciro und fuhr mit dem Mittagszug nach Berlin.

 


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