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In dem Abteil von Richard saß nur noch ein Herr, mit dem er gleich hinter Paris ins Gespräch kam. Es war ein Juwelenhändler aus Brüssel, der in Paris gut verkauft hatte und den Rest seiner Juwelen in Berlin an den Mann zu bringen hoffte.
»Am liebsten verkaufe ich an Private«, sagte er zu Richard. »Aber ich habe in Berlin keine Einführung in Familien. Können Sie mich vielleicht in ihre Familie einführen?«
»Das kann ich. Aber Sie werden nicht viel Freude davon haben. Meine Mutter ist Friseuse und meine beiden Onkel haben ein Zigarrengeschäft in der Frankfurter Allee.«
»Das sieht man Ihnen aber nicht an.«
»Wenn das ein Kompliment sein soll – ich bin stolz darauf, meiner Mutter ähnlich zu sehen.«
»Eine schöne Frau demnach.«
»Hören Sie mal! Ich bin doch kein junges Mädchen.«
»Ich hätte nichts dagegen, wenn Sie es wären.«
»Nachts im dunklen Kupee, das könnte Ihnen so passen.«
»Leider muß ich immer auf meine Juwelen aufpassen und komme daher selten zu einem Vergnügen.«
»Tragen Sie die Juwelen denn bei sich?«
»Das ist immerhin noch das Sicherste.«
»Ich glaube, ich könnte kein Auge zutun.«
»Unangenehm ist es nur, wenn man zu zweien fährt.«
»Erlauben Sie! Das ist ja eine Beleidigung.«
»Man bekommt Menschenkenntnis, wenn man wie ich in der Welt herumfährt. Ihnen traue ich nichts Schlechtes zu.«
»Wissen Sie, daß mir das trotzdem unbehaglich ist?«
»Ich bitt' Sie.« – Er wies auf seine Brust. – »Der Schatz ist fünfmal gesichert.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Erst kommt der Pelz, dann der Rock, die Weste, das Oberhemd und die Unterjacke.«
»Sie tragen die Juwelen also auf der Brust?«
»Es ist das Sicherste.«
»Für wieviel haben Sie heute bei sich?«
»Fast für eine halbe Million Mark.«
»Das sollten Sie niemandem erzählen.«
»Sie wissen es nun.«
»Ich finde Sie sehr unvorsichtig.«
»Wenn ich Sie nicht von Ciro her kennen würde.«
»Sie haben da verkehrt? Oft? Ich erinnere mich nicht, Sie gesehen zu haben.«
»Ich war vierzehn Tage lang jeden Abend da. Zum Teil Ihretwegen.«
»Das freut mich. – Aber wenn Sie mich kannten – ein Primgeiger hat doch selten eine Familie, die Juwelen kauft.«
»Es war ja nur eine Anfrage.«
Der Kellner ging den Gang entlang. – Richard rief ihn und fragte:
»Münchener Export.«
»Fein!« – Er wandte sich zu dem Juwelier. »Das sollten Sie auch trinken, danach schlafen Sie wie ein Toter.«
Sie bestellten zwei Flaschen – später nochmals zwei. Hinter Köln zog Richard die Gardinen vor die Fenster. Reisenden, die in das Abteil sahen, sagte er:
»Hier ist alles besetzt« – woraufhin der Juwelier meinte:
»Sie scheinen ja wirklich großen Wert darauf zu legen, mit mir allein zu bleiben.«
In Köln hatte Richard ein Telegramm an seine Mutter aufgegeben:
»Bin sieben Uhr früh Berlin. Freue mich unbändig auf dich. Nicht abholen. Alles andere mündlich. Richard.«
Als der Zug aus dem Kölner Bahnhof herausfuhr, waren Richard und der Juwelier noch immer allein. Richard gab dem Schaffner drei Mark und sagte:
»Bitte, sorgen Sie dafür, daß wir nicht gestört werden.«
Dann machten sich beide ihr Lager für die Nacht zurecht.
Als der Zugführer gegen sechs Uhr früh aus dem Gepäckwagen kam und den Gang des Zuges betrat, vernahm er einen Knall, der sich anhörte, als sei die Pneumatik eines Autoreifens geplatzt. Er blieb verwundert stehen und suchte dann der Reihe nach die Abteile ab. Plötzlich hörte er Hilferufe. Im vorletzten Abteil des ersten Wagens sah er, etwa zwanzig Sekunden nach der Detonation, den Juwelenhändler und Richard in höchster Erregung stehend, aufeinander einreden:
»Sie sind ja irre, Herr!« rief Richard und bedrohte den Juwelier mit der Faust.
Der Zugführer trat dazwischen und fragte:
»Ist hier eben ein Schuß gefallen?«
»Ja!« sagten beide wie aus einem Munde.
Der Zugführer sah das durchschossene Fenster, fragte weiter:
»Von außen?« – und wollte die Notleine ziehen, um den Zug zum Stehen zu bringen.
»Ja«, erwiderte Richard – aber der Juwelier rief lebhaft:
»Es ist nicht wahr! Er hat mich erschießen wollen.«
»Du lügst, du Hund!«
»Er hatte es auf meine Diamanten abgesehen.«
»Schuft du!«
»Er hatte sich schon seit Beginn der Fahrt durch allerlei Redensarten verdächtig gemacht.«
»Was habe ich getan?«
»Ich nahm daher ein Mittel, um wach zu bleiben.«
»Dunkles Bier haben Sie getrunken, um schlafen zu können.«
»Das Bier haben Sie mir aufgezwungen, um mich im Schlaf ohne Gegenwehr niederknallen zu können.«
»Alles gelogen.«
»Aber ich bin wach geblieben und habe mich nur schlafend gestellt, um ihn zu beobachten.«
»Geschnarcht haben Sie – und der Kopf mit dem Fußsack hat Ihnen auf dem Bauch gelegen.«
»Herr! mein Vollbart und mein Bauch gehen Sie gar nichts an!«
»Erzählen Sie weiter!« wandte sich der Zugführer an den Juwelier. Und der fuhr fort:
»Ich sah deutlich, wie er mich beobachtete. Er ging leise zum Gang, überzeugte sich, daß er leer war, schloß die Tür, zog die Gardinen vor und zog dann plötzlich einen Revolver aus der Tasche.«
»Das haben Sie gesehen?«
»Ganz deutlich.«
»Erstunken und erlogen von Anfang bis zu Ende.«
»Als er den Arm hob und den Revolver auf mich ansetzte, sprang ich auf und fiel ihm in den Arm.«
»Das ist ja toll!«
»Wir rangen ein paar Augenblicke miteinander . . .«
»Ein Kinnhaken und Sie wären für die Zeit auf dem Boden gewesen.«
»Plötzlich – er hörte wohl Schritte auf dem Korridor . . .«
»Hören Sie sich doch den Wahnsinn nicht mit an, Herr Zugführer.«
». . . ließ er mich los und warf die Waffe mit einem Ruck zum Fenster hinaus.«
Der Zugführer wandte sich an Richard und fragte:
»Welche Darstellung geben Sie?«
»Ich schlief.«
»Sie sagten doch eben, Sie seien wach gewesen und hätten ihn schnarchen hören.«
»In den ersten Stunden. Da schnarchte er so laut, daß ich nicht einschlafen konnte. Gegen Morgen bin ich dann aber eingeschlafen. Plötzlich hörte ich einen Knall und das Gerassel von Scherben. Als ich die Augen aufmachte, sah ich den Juwelier . . .«
»Woher wußten Sie denn, daß er ein Juwelier ist?«
»Er hatte es mir ja selbst erzählt.«
»Also was sahen Sie?«
»Ich sah den Juwelier, der die Tür zum Flur aufriß und laut um Hilfe rief. Als ich ihn fragte: was ist denn geschehen? – wandte er sich um und rief: Halunke! Ihnen werden ich es besorgen.«
»Das klingt sehr wenig glaubhaft«, erwiderte der Zugführer. »Wie erklären Sie den Schuß und das Loch im Fenster?«
»Ich nehme an, daß von außen jemand in das Abteil geschossen hat – und dem Juwelier haben sich vor Schreck darüber die Sinne verwirrt.«
»Mache ich den Eindruck eines Geisteskranken?« fragte der Juwelier – und der Zugführer sah jetzt erst, daß dem Juwelier Pelz, Rock, Weste und Hemd aufgerissen waren. Als er ihn darauf aufmerksam machte, rief er:
»Ich bin bestohlen!« – griff sich an die Brust und sagte bestürzt: »Die Tasche mit den Brillanten ist fort. – Bitte, Herr Zugführer, veranlassen Sie seine Festnahme.«
»Sie haben gar keine Brillanten gehabt!« rief Richard – und der Juwelier erwiderte beherrscht und beinahe höflich:
»Aber, mein Herr, Sie haben mich doch noch nach ihrem Wert gefragt.«
»Sie haben die Brillanten Ihrer Firma unterschlagen und täuschen jetzt einen Überfall vor.«
»Wer so raffiniert denkt, handelt auch raffiniert.«
»Erlauben Sie, daß ich Ihre Taschen untersuche?« fragte der Zugführer.
»Ich verbitte mir – das ist eine Beleidigung!« erwiderte Richard.
»Dann muß ich Sie in Berlin der Polizei übergeben.«
»Den Halunken sperren Sie ein, aber nicht mich. Wer weiß, was der nicht noch alles auf dem Gewissen hat.«
»Sie glauben doch nicht, daß Sie mich beleidigen können?«
Der Disput ging noch lange hin und her. Der Zugführer setzte schließlich den Schaffner zur Aufsicht in das Abteil, das er verschloß. Auch der Juwelier erbat und bekam die Erlaubnis, in dem Abteil zu bleiben, um zu verhindern, daß Richard in einem unbewachten Augenblick die Tasche mit dem Schmuck aus dem Fenster warf. Der Zugführer benachrichtigte die Charlottenburger Bahnpolizei, die mehrere Beamte auf den Bahnsteig entsandte. Als er kurz vor Berlin wieder den Gang entlang kam, wälzten sich Richard, der Juwelier und der Schaffner in einem Knäuel auf dem Fußboden. Sie hatten sich so fest ineinander verbissen, daß der Zugführer den Schlauch zum Löschen von Feuer vom Gang nahm und ihn auf die drei Männer ansetzte. Aus Schreck über den kalten Strahl ließen sie sich los, richteten sich auf und glitten völlig erschöpft auf die Bänke. Der Zugführer stellte sich zwischen sie und fragte:
»Was war denn los?«
Der Schaffner wies auf Richard und sagte:
»Der hat angefangen und hat sich auf den Herrn da« – er wies auf den Juwelier – »gestürzt.«
»Gott sein Dank«, erwiderte Richard. »Die erste Wut bin ich los. Ich habe mich abgekühlt und sehe den weiteren Ereignissen mit Ruhe entgegen.«
»Sie haben es nötig, sich aufzuspielen – Eisenbahndieb!« erwiderte der Juwelier.
Richard sprang auf und wollte sich von neuem auf den Juwelier stürzen. Aber Zugführer und Schaffner hielten ihn zurück.
»Was liegt denn da bei Ihnen?« fragte der Zugführer und wies auf einen Lederbeutel, der unter dem Sitz von Richard lag.
»Das ist mein Schmuck!« rief der Juwelier und hob den Beutel hastig auf, öffnete ihn und überzeugte sich, daß der Schmuck drin war.
»Dann sind Sie wohl überführt«, sagte der Zugführer, trat ans Fenster und gab den Polizisten, die auf dem Bahnsteig standen, ein Zeichen. Als der Zug hielt, bestiegen an jeder Seite zwei Beamte den Wagen, nahmen Richard fest und legten ihm Handfesseln an. Als sie ihn über den Bahnsteig führten, schloß er die Augen und sah nicht, daß neben dem Zeitungskiosk mit einem Veilchenstrauß in der Hand Frau Elsa stand. Sie sah den Sohn kommen, sah, daß seine Hände in Fesseln lagen und Polizisten ihn am Arm führten. Ihr wurde schwarz vor den Augen, der Veilchenstrauß glitt ihr aus der Hand, die Kräfte verließen sie – und sie schlug mit einem Aufschrei, der allen noch lange im Ohr haften blieb, hin.
Vorn an der Treppe, zuckte Richard, der jetzt völlig apathisch war, zusammen. Er blieb einen Augenblick stehen und die Polizisten, die ihn anfuhren:
»Weiter gehen!«
hörten nicht, wie sich aus dem Herzen herauf das Wort »Mutter!« auf seine Lippen drängte.