Artur Landsberger
Das Blut
Artur Landsberger

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Achtzehntes Kapitel.

In das Haus der Frau van Jörgens ging ein Herr in Zivil, dem man an Gang und Haltung aber ansah, daß er sonst in Uniform zu stecken pflegt. Ob die beiden Polizisten, die im Hausflur rechts und links von der Jörgensschen Villa verschwanden, in einem Zusammenhang mit ihm standen, war nicht zu erkennen.

Aber Menschen, die mehr mit dem Gefühl als mit dem Auge den Ereignissen folgen, sahen doch, daß sich hier etwas nicht Alltägliches vorbereitete.

Als kurz darauf Kornelia die Straße entlangkam, in einem Schritt, der bestimmt und voller Hoffnung schien, hatte man das Gefühl, als müsse man auf sie zugehen und ihr warnend »Halt!« zurufen.

Dem Diener, der Kornelia die Türe öffnete, sagte sie:

»Ich bin die Gesellschafterin, die sich Frau van Jörgens vorstellen sollte.«

Sie wurde überaus bereitwillig eingelassen.

Der Salon, in den man sie führte, war elegant und geschmackvoll, vor einem großen Spiegel brachte Kornelia ihr Haar in Ordnung. Jetzt erst nahm sie wahr, daß sie unsicher und erregt war. Ihre Hand zitterte und die Blässe in ihrem Gesicht erschreckte sie.

Da sah sie im Spiegel, wie hinter ihr langsam eine Hand die Portiere zurückzog. Deutlich erkannte sie: es war die Hand eines Mannes. Sie fuhr zusammen und schloß für einen Augenblick die Augen.

Als sie wieder aufsah, stand zwischen der zu beiden Seiten aufgezogenen Portiere, den Blick fest auf sie gerichtet, die Frau, der sie auf dem Ball in jener Nacht unter Johannes Zwang die Kette gestohlen hatte.

Sie trug eine Matinée, die so tief dekolletiert war, wie das Ballkleid an jenem Abend, und der bloße Hals schien ihr laut zuzurufen: »Diebin!«

Entsetzt starrte sie auf das Bild im Spiegel, ließ die Tasche fallen, schrie laut auf und stürzte aus dem Zimmer.

Sie sah noch, wie hinter der Dame, die niemand anders als Frau van Jörgens war, jener Herr in Zivil hervortrat, ans Fenster stürzte, es aufriß.

Als sie eben, ganz nur dem Instinkte folgend und ohne sich Rechenschaft zu geben, was sie tat, die paar Stufen zur Wohnungstür hinablief, hörte sie einen schrillen Pfiff, der sie körperlich traf und ihr wehtat.

Sie wollte rechts die Straße entlanglaufen, da trat ihr ein Polizist entgegen.

Sie machte kehrt – wieder stand, drei Schritte vor ihr, ein Polizist.

Sie stürzte über den Damm, um in den Park zu laufen – hinter einem Baume trat ein Polizist hervor – versperrte ihr den Weg.

Ihr kam der Gedanke, sich in das Haus zurückzuretten – an dem offenen Fenster stand der Herr in Zivil.

Sie blieb stehen. – Ihr Herz stand still. – Die Polizisten kamen näher – stellten im Halbkreis sich vor sie hin – sahen sie an – gaben durch Blicke zu verstehen, daß jeder Versuch, zu entkommen, zwecklos sei.

Der Herr am offenen Fenster gab ein Zeichen. Die Polizisten traten ganz dicht an sie heran, wollten sie fassen; da streckte sie die Arme nach ihnen aus und beugte, als sie zugriffen, die Knie.

Die Polizisten hielten den Pelz, aus dem sie blitzschnell glitt, in der Hand – taumelten, stutzten – und Kornelia lief, lief ohne sich umzusehen, in den Park.

Der Herr am Fenster wetterte gegen die Polizisten, trieb sie an, wies mit der Hand die Richtung, in der Kornelia lief.

Die Polizisten folgten ihr.

Der Herr in Zivil trat wütend ins Zimmer zurück und sagte zu Frau van Jörgens: »Entwischt!«

Die erwiderte: »Sie holen sie ein!«

»Vielleicht – vielleicht auch nicht! – Mit der ist der Teufel!«

Dann nahm er die Tasche, die Kornelia hatte fallen lassen, von der Erde auf. Er öffnete sie, sah hinein und entnahm ihr die Kette, die Johannes in einem unbemerkten Augenblick hineingelegt hat.

Frau van Jörgens traute ihren Augen nicht.

»Ist das die Kette, die man Ihnen gestohlen hat?« fragte der Herr.

Frau van Jörgens erwiderte: »Ja!«

»Bitte!« sagte er und legte ihr die Kette in die Hand.

»Und woher wußten Sie . . .?« fragte sie zögernd.

»Eine anonyme Anzeige!« erwiderte er. »Vermutlich der Racheakt eines Komplizen, der sich betrogen sah.«

Frau van Jörgens schloß die Augen und sagte: »Das . . . mag . . . sein.«

Dann ließ sie ihn stehen und wankte aus dem Zimmer.

* * *

Die verfolgenden Polizisten kamen Kornelia, deren Kräfte zu Ende gingen, näher und näher.

An einer Kreuzung tat sie erst ein paar Schritte auf dichtes Gestrüpp zu, trat ganz fest auf, lief dann, fast ohne den Boden zu berühren, ein paar Schritte zurück, und hatte noch Zeit, ehe die Polizisten die Kreuzung erreichten, auf einen Baum zu klettern, an den sie sich mit letzter Kraft klammerte.

Als die Polizisten an die Kreuzung kamen, war Kornelia verschwunden. Der Klügste von ihnen wies auf die Fußspuren, die vom Wege ab, rechts in das Gestrüpp führten. In dieser Richtung folgten sie eine Viertelstunde lang, bis ihnen selbst die Luft ausging, das Herz schlug, der Atem versagte. Dann blieben sie völlig ausgepumpt stehen und gaben, in dem Bewußtsein, ihre Pflicht getan zu haben, die Verfolgung auf.

Erst als sie eine Stunde später dem Herrn in Zivil Meldung erstatteten und der sie anfuhr: »Idioten! Drei ausgewachsene Männer lassen sich von einem Frauenzimmer an der Nase herumführen!« – da erst verloren sie an männlicher Würde, wurden klein und drückten sich an die Wand.

* * *

Als Kornelia sich außer Gefahr sah und sich von dem Baum herunterließ, war sie völlig erschöpft. Sie hatte noch grade die Kraft, sich bis zur nächsten Bank zu schleppen, auf der sie, nur halb noch bei Bewußtsein, zusammenbrach.

Sie war sich selbst nicht klar darüber, wie lange sie hier wohl zugebracht hatte, als sie durch Stimmen in der Nähe aufgeschreckt wurde. Sie fühlte, daß sie kaum noch die Kraft hatte sich aufzusetzen und völlig außerstande war, Widerstand zu leisten. So wandte sie kaum den Kopf um, sah aber doch, daß es keine Verfolger waren, deren Stimmen jetzt deutlicher zu ihr drangen.

Eine äußerst ärmliche, wachsbleiche Frau kam in gebückter Stellung näher und suchte die Erde nach Holz ab. Ihr folgte in einigem Abstand ein Mann von etwa dreißig Jahren, abgearbeitet, elend, abgerissen, der einen mit Holz beladenen Handwagen hinter sich her zog.

Auf dem Wagen hockte ein Kind von kaum fünf Jahren; schmal, gelb, unterernährt.

»Hier komm' her, Vater!« rief die junge Frau. »Hier gibt's viel Holz,« woraufhin der Mann seinen Wagen näher schob. Die Frau nahm das Kind und setzte es auf die Erde, um das herumliegende Holz besser auf den Wagen packen zu können.

Apathisch kroch das Kind auf der Erde umher und hielt plötzlich ein goldenes Armband in der Hand, das Kornelia beim Hinaufklettern auf den Baum verloren hatte.

Die Mutter sah es, lief hinzu und nahm es ihm ab.

»Sieh' nur!« rief sie ihrem Manne zu, »was unsere Elisabeth gefunden hat!«

»Was ist das?« fragte der ohne Interesse.

Die Frau war ganz in den Anblick des Armbands versunken.

»Unsere Elisabeth braucht sich nur zu bücken und hebt mehr auf als wir in drei Monaten verdienen,« erwiderte die Frau. »Die wird einmal mehr Glück im Leben haben als wir.«

Der Mann war an Frau und Kind herangetreten. Strahlend zeigte sie ihm das Schmuckstück.

»Das ist Tausende wert!« rief sie, sah plötzlich Kornelia, die den Vorgang genau verfolgte, im selben Augenblick aber, in dem die Frau zu ihr hinsah, die Augen schloß. »Leise!« sagte sie, »am Ende gehört das Armband gar ihr.«

»Wem es gehört ist ganz gleich,« erwiderte der Mann. »Uns gehört es jedenfalls nicht!«

»Du wirst doch nicht etwa . . .?« fragte die Frau erschrocken und schloß die Hand, in der sie das Armband hielt, »Das wäre ja Wahnsinn! Wahnsinn wäre das!«

»Geh!« trieb sie der Mann an, »und frage die Dame da, ob es ihr gehört.«

»Du bist toll!« erwiderte die Frau bestürzt, »als ob wir es nicht nötiger hätten als die!«

»Darauf kommt es nicht an!«

»Doch!«

Die Frau nahm das Kind auf und hielt es ihm vor das Gesicht.

»Sieh' dir dein Kind an! es ist schwach und blaß wie der Tod! Mit dem Gelde, das wir dafür bekommen« – und sie wies auf das Armband – »kriegen wir unser Kind hoch, und machen es stark und kräftig.«

Der Mann schien zu überlegen.

Voller Erwartung sah die Frau ihn an.

»Nein!« sagte er plötzlich und noch bestimmter als zuvor. »Von dem, was wir anderen fortnehmen, wollen wir unser Kind nicht hochbringen! Dabei käme nichts Gutes heraus. Nicht wahr, Elisabeth, das willst du auch garnicht?« sagte er zu dem Kinde und nahm es der Mutter ab, die beschämt den Kopf senkte und das Armband zu Kornelia trug.

Kornelia war von dem Vorgang auf's Stärkste beeindruckt.

»Das gibt es?« fragte sie sich immer wieder und glaubte, zu träumen. »So gut sind Menschen?« – Und sie zog Vergleiche mit sich und empfand tiefe Reue.

»Behalten Sie das Armband!« sagte sie zu der Frau, streifte einen kostbaren Ring vom Finger, gab ihr auch den und sagte:

»Und viele gute Wünsche für Ihr Kind!«

Das Glück der beiden Leute, von denen plötzlich alle Erdenschwere abzufallen schien, die wie erlöst zu ihr aufblickten, und deren Augen zu fragen schienen: – ist es denn wahr? – dieser Vorgang, der wie ein Wunder auf Kornelia wirkte, war das stärkste Erleben und der glücklichste Augenblick ihres Lebens. – Wie ein Zeichen des Himmels, das ihre Befreiung von dem Fluch vorbereitete, erschien es ihr.

Kornelia folgte nun ganz ihrer Stimmung. Sie ging durch den Park, sprach Kinder, die aus der Schule kamen, an, und fragte sie: »Habt ihr nicht irgendwo Polizisten gesehen?« Die Kinder lachten und verstanden erst nicht. Dann aber nickten sie mit den Köpfen und nannten irgendeinen Platz oder Straße, die Kornelia nicht kannte.

»Wollt Ihr mich nicht dahin führen?« fragte Kornelia. Und da die Kinder sie erstaunt ansahen, so fügte sie hinzu: »Ich bin krank und möchte gesund werden.«

Da taten sie, als wenn sie Kornelia verstanden – am Ende taten sie nicht nur so – unverbildete Kinderseelen sehen oft tief – nahmen sie rechts und links bei der Hand und führten sie durch den Park auf einen Platz, an dem ein Polizist stand.

Als sie dicht vor ihm standen, sagte Kornelia: »Führen Sie mich ab! Ich habe gestohlen und will meine Schuld sühnen.«

Mit großen, teilnahmsvollen Augen sahen die Kinder zu dem verblüfften Polizisten auf, der erst den Kopf schüttelte, dann aber glaubte, eine Geisteskranke vor sich zu haben und schon der Kinder wegen, die er schützen wollte, schließlich sagte: »Kommen Sie!«

* * *


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