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Zwanzigstes Kapitel.

Die sozialistische Bewegung in England im Jahre 1886. – Meine Teilnahme an dieser Bewegung. – Ergänzung der Formel vom ›Kampf ums Dasein‹ durch das Naturgesetz der gegenseitigen Unterstützung. – Die heutige weite Verbreitung sozialistischer Ideen.

 

Im Jahre 1886 war die sozialistische Bewegung in England in vollem Schwunge. In geschlossenen Haufen hatten sich ihr in allen bedeutenden Städten die Arbeiter offen angeschlossen und ebenso nicht wenige Angehörige der Mittelklassen, besonders solche in jüngerem Lebensalter, die auf die eine oder andere Weise zu ihrer Förderung beitrugen. Es herrschte in jenem Jahre in den meisten Arbeitszweigen eine scharfe industrielle Krisis, so daß ich jeden Morgen und oft den ganzen Tag lang Scharen von Arbeitern in den Straßen das ›Lied der Arbeitslosen‹ singen und nach Brot verlangen hörte. Nachts strömten Leute zum Trafalgar Square, um dort im Freien bei Wind und Wetter, eine Zeitung über und eine unter sich, zu schlafen. Eines Tages im Februar geschah es auch, daß ein Haufe, nachdem er Ansprachen von Burns, Hyndman und Champion angehört hatte, nach Piccadilly stürzte und dort in den großen Geschäften ein paar Fenster zerschlug. Doch viel bemerkenswerter als dieser Ausbruch der Unzufriedenheit war der Geist, der unter der ärmeren Arbeiterbevölkerung der Londoner Vorstädte herrschte. Er war derart, daß eine strenge Bestrafung der wegen der Unruhen vor Gericht gestellten Führer ein Gefühl des Hasses und der Rache, wie es bisher in der neuesten Geschichte der englischen Arbeiterbewegung noch nicht hervorgetreten ist, dessen Anzeichen aber 1886 nicht zu verkennen waren, wachgerufen und der Bewegung auf lange Zeit ihr Gepräge aufgedrückt hätte. Doch es schien, als hätten die Mittelklassen die Gefahr begriffen. Sofort brachte man im reichen Westende Londons beträchtliche Geldsummen zur Linderung der Not im Ostende auf, die freilich nicht genügten, dem weitverbreiteten Elend abzuhelfen, aber doch bedeutend genug waren, den guten Willen zu zeigen. Die Strafurteile gegen die angeklagten Führer gingen nicht über zwei oder drei Monate Gefängnis hinaus.

 

In allen Schichten der Gesellschaft bekundete sich eine rege Teilnahme an allem Sozialistischen, an den verschiedensten Plänen zur Reform und Neubildung der Gesellschaft. Vom Herbste an und den ganzen Winter hindurch ergingen an mich aus allen Teilen des Landes Aufforderungen, über das Gefängniswesen, zumeist aber über den anarchistischen Sozialismus Vorträge zu halten, und auf diese Weise besuchte ich fast jede große Stadt Englands und Schottlands. Da ich regelmäßig nach dem Vortrag die erste Einladung zum Übernachten, die mir zuteil wurde, annahm, so kam es, daß ich heute im Palast eines Reichen und morgen in der ärmlichen Behausung einer Arbeiterfamilie weilte. Aber allabendlich sammelten sich zahlreiche Angehörige aller Klassen um mich, und im prächtigen Empfangszimmer wie in der ›guten Stube‹ eines Arbeiters entspann sich bis zu später Nachtstunde eine lebhafte Unterhaltung über Sozialismus und Anarchismus, die in der Hütte Hoffnungen und im Palaste Befürchtungen erregte, aber hier wie dort mit gleichem Ernste verfolgt wurde.

Bei den Reichen lautete die Hauptfrage: »Was verlangen die Sozialisten? Was wollen sie tun?« und sodann: »Welche Zugeständnisse sind gegebenenfalls unerläßlich, um ernstliche Kämpfe zu vermeiden?« Selten hörte ich bei diesen Gesprächen die sozialistischen Bestrebungen einfach als ungerecht und bloßen Unsinn hinstellen. Aber ich fand auch überall die Überzeugung, eine Umwälzung sei in England unmöglich, auch gehe die Arbeitermasse in ihren Forderungen nicht so weit oder stelle sie mit der Schärfe auf wie die Sozialisten; die englischen Arbeiter, meinte man, würden sich mit weit weniger zufrieden geben und minder einschneidende Konzessionen, wie die Aussicht auf langsam sich mehrenden Wohlstand oder verringerte Arbeitszeit, als eine Abschlagszahlung auf eine noch bessere Zukunft annehmen. »England ist, parlamentarisch gesprochen, ein Land des ›linken Zentrums‹ und schreitet auf dem Wege der Kompromisse vorwärts,« sagte mir einmal ein altes Parlamentsmitglied, das über eine reiche Erfahrung im Leben seines Vaterlandes verfügte.

Auch bei den Arbeitern fiel mir ein Unterschied zwischen den in England und den auf dem Festlande an mich gerichteten Fragen auf. Die Arbeiterschaft romanischer Völker interessiert sich in hohem Grade für allgemeine Grundsätze, deren Anwendung sich zum Teil durch die Grundsätze selbst bestimmt; wenig fragt sie danach, ob einmal eine Stadtverwaltung etwas zu einer Streikkasse beigesteuert hat oder die Schulkinder speisen läßt. Das nimmt man als etwas Selbstverständliches hin. »Natürlich, ein hungerndes Kind kann nicht lernen,« sagt der französische Arbeiter. »Man muß ihm zu essen geben.« »Natürlich, es war unrecht vom Arbeitgeber, seine Leute zum Ausstand zu nötigen,« heißt es einfach, und es wird von solchen gelegentlichen kommunistischen Anwandlungen der bestehenden individualistischen Gesellschaft weiter kein Rühmens gemacht. Die Gedanken der Arbeiter gehen über die Periode solcher vereinzelten Zugeständnisse hinaus und beschäftigen sich mit der Frage, ob die Kommune oder die Arbeitervereinigungen oder der Staat die Gütererzeugung in die Hand nehmen sollen, ob freie Vereinbarung allein zur Aufrechterhaltung der Ordnung in der Gesellschaft genüge, und welche moralischen Schranken verbleiben, wenn die Gesellschaft ihre gegenwärtigen Unterdrückungsmittel aufgibt, ob eine aus Wahlen hervorgegangene demokratische Regierung imstande sei, ernsthafte Änderungen im sozialistischen Sinne herbeizuführen, und ob schon vor der Gesetzgebung vollendete Tatsachen geschaffen werden müssen, und so weiter.

In England legte man dagegen das Hauptgewicht auf eine fortlaufende Reihe immer größerer Konzessionen. Doch schienen sich immerhin die Arbeiter über die Unmöglichkeit einer staatlichen Leitung der industriellen Tätigkeit längst klar geworden zu sein, und es richtete sich ihr Interesse nicht minder auf die Art der Verwirklichung ihres Programms wie auf die Herbeiführung von Umständen, unter denen die Verwirklichung möglich wäre. »Gut, Krapotkin, nehmen Sie an, wir könnten morgen unsere Docks hier übernehmen, wie, denken Sie, sollen wir es mit dem Betriebe einrichten?« so lautete beispielsweise eine Frage, die man an mich richtete, wenn wir in einer Arbeiterwohnung Platz genommen hatten. Oder es sagte einer: »Der Gedanke der Verstaatlichung der Eisenbahnen gefällt uns nicht, und der gegenwärtige Betrieb durch Privatgesellschaften ist nichts als organisierter Diebstahl. Aber nehmen wir an, die Eisenbahnen gehörten den Arbeitern, wie ließe sich dann der Betrieb einrichten?« Dem Mangel an allgemeinen Ideen stand so die Neigung gegenüber, tiefer in die Einzelheiten der praktischen Anwendung einzudringen.

 

Einen weiteren Charakterzug erhielt die Bewegung in England durch die beträchtliche Zahl von Angehörigen der Mittelklassen, die ihr auf die eine oder die andere Weise, bald durch offenen Anschluß, bald durch tatkräftige Hilfe ohne förmlichen Beitritt, ihren Beistand liehen. In Frankreich und der Schweiz standen die beiden Parteien – die Arbeiter und die Mittelklassen – einander gewappnet gegenüber und hielten sich völlig voneinander getrennt. Mindestens war dies in den Jahren von 1876 bis 1885 der Fall. Als ich mich in der Schweiz befand, beschränkte sich der Kreis meiner Bekannten während meines drei- bis vierjährigen Aufenthaltes im Lande ausschließlich auf Arbeiter. Ich kannte kaum mehr als ein oder zwei Angehörige der Mittelklassen. Das wäre in England unmöglich gewesen. Wir fanden hier eine ganze Anzahl von Männern und Frauen aus den Mittelklassen, die kein Bedenken trugen, in London wie in den Provinzen offen als Helfer bei der Organisierung sozialistischer Versammlungen aufzutreten oder während eines Ausstandes in den Parken mit der Sammelbüchse herumzugehen. Daneben konnten wir auch eine Bewegung beobachten, ähnlich der, die wir in Rußland im Anfang der siebziger Jahre gesehen hatten, als unsere Jugend sich ›zum Volke‹ drängte, nur war sie keineswegs so heftig, so opfervoll und so völlig bar jedes Anscheins von ›Mildtätigkeit‹. Auch hier, in England, suchten ziemlich viele Leute den Arbeitern in den Winkelkneipen, in den Volkshallen, in Toynbee Hall und ähnlichen Plätzen auf die eine oder die andere Weise näherzutreten. Sicher gingen in dieser Zeit die Wogen der Begeisterung hoch, wahrscheinlich glaubten auch damals schon viele, wie es der Dichter William Morris in seiner Komödie aussprach, die soziale Revolution komme nicht erst, sondern habe bereits begonnen. Wie es aber immer bei solchen Enthusiasten geht, als sie erkannten, daß in England wie überall eine lange ermüdende Arbeit der Vorbereitung nötig sei, um den Hügel hinaufzuklimmen, da verzichteten sehr viele auf tatkräftige Beteiligung und stehen jetzt als bloße sympathische Zuschauer außerhalb der Bewegung.

 

An dieser Bewegung nahm ich lebhaften Anteil und fing an, unter Mitwirkung von ein paar englischen Freunden neben den drei bereits bestehenden sozialistischen Blättern ein anarchistisch-kommunistisches Monatsblatt ›Freedom‹ erscheinen zu lassen, das sich bis auf den heutigen Tag des Daseins erfreuen konnte. Zugleich nahm ich meine Arbeit über den Anarchismus wieder auf, wo ich sie bei meiner Verhaftung hatte unterbrechen müssen. Den kritischen Teil derselben hatte, wie erwähnt, Elisée Reclus während meiner Gefängnishaft in Clairvaux unter dem Titel ›Paroles d'un Révolté‹ herausgegeben. Jetzt begann ich, den konstruktiven Teil einer anarchistisch-kommunistischen Gesellschaftsordnung – soweit er sich im voraus entwerfen läßt – in einer Reihe von Aufsätzen auszuarbeiten, die in der pariser ›La Révolté‹ zum Abdruck kamen. ›Unser Junge‹, dem der Staatsanwalt wegen seiner antimilitärischen Propaganda nachstellte, hatte sein Titelblatt ändern müssen und erschien nun unter einem Mädchennamen. Später wurden diese Aufsätze nach weiterer Ausarbeitung als Buch unter dem Titel ›La Conquête du Pain'‹ (in der deutschen Übersetzung ›Der Wohlstand für alle‹) veröffentlicht.

Diese Arbeiten veranlaßten mich, bestimmte Punkte im heutigen wirtschaftlichen Leben der sogenannten gesitteten Völker gründlicher zu untersuchen. Bisher hatten die meisten Sozialisten erklärt, wir erzeugten bei der gegenwärtigen Gesellschaftsordnung tatsächlich weit mehr, als zum Wohlbefinden aller nötig wäre. Nur die Güterverteilung sei mangelhaft, und fände eine gesellschaftliche Umwälzung statt, so sei nichts weiter nötig, als daß jeder zu seinem Tagewerk in der Fabrik oder Werkstätte zurückkehre, während die Gesellschaft den Überschuß oder Mehrwert, der jetzt dem Kapitalisten zufalle, für sich in Anspruch nehme. Mir schien es im Gegenteil, daß auch die Gütererzeugung unter den zur Zeit bestehenden Verhältnissen des Privateigentums eine falsche Richtung genommen habe und selbst in Betreff der notwendigsten Lebensbedürfnisse völlig unzulänglich sei. Kein einziges dieser Bedürfnisse wird in größerer Menge erzeugt, als es zum Wohlbefinden aller nötig ist, und die so viel beklagte Überproduktion bedeutet lediglich, daß die Massen zu arm sind, auch nur das zu kaufen, was jetzt zu einem anständigen Leben für erforderlich gilt. Aber in allen gesitteten Ländern sollte und könnte ohne Schwierigkeit die landwirtschaftliche wie die gewerbliche Gütererzeugung mächtig gesteigert und so für alle eine Zeit der Fülle geschaffen werden. Dieser Gedankengang führte mich einerseits zu der Untersuchung der Leistungsfähigkeit der modernen Landwirtschaft, andrerseits zu der Beschäftigung mit der Erziehungsmethode, die jeden in den Stand setzte, zugleich genußreiche Handarbeit und geistige Tätigkeit auszuüben. Ich entwickelte meine Gedanken, darüber in einer Reihe von Aufsätzen im ›Nineteenth Century‹, die jetzt in Buchform unter dem Titel ›Fields, Factories and Workshops‹ erschienen sind.

Auch eine andere wichtige Frage zog meine Aufmerksamkeit auf sich. Es ist bekannt, zu welchen Schlußfolgerungen Darwins Formel vom ›Kampf ums Dasein‹ seine Anhänger, selbst die intelligentesten unter ihnen wie Huxley, verleitet hat. Es gibt keine Schändlichkeit in der ›gesitteten‹ Gesellschaft oder in den Beziehungen der Europäer zu den sogenannten niedriger stehenden Rassen oder der Starken zu den Schwachen, die man nicht mit jener Formel entschuldigen wollte.

Schon während meines Aufenthaltes in Clairvaux erkannte ich, daß die Formel an sich wie ihre Anwendung auf menschliche Verhältnisse unbedingt einer gründlichen Revision bedurften. Die Versuche, die ein paar Sozialisten in dieser Richtung gemacht hatten, befriedigten mich nicht, aber ich fand in einem Vortrag eines russischen Zoologen, des Professors Keßler, eine zutreffende Formulierung für das Gesetz des Kampfes ums Leben. »Gegenseitige Hilfe,« sagte er in jenem Vortrage, »ist ebenso ein Naturgesetz wie gegenseitiger Kampf; aber für die fortschrittliche Entwicklung der Art ist die erstere weit wichtiger als die letztere.« Diese wenigen Worte, denen leider nur ein paar Beispiele zur Erläuterung dienten (der früher erwähnte Zoologe Sjewerzow hat noch ein oder zwei weitere dazugefügt) schienen mir den Schlüssel für das ganze Problem zu enthalten. Als Huxley 1888 seine ›erbarmungslose‹ Abhandlung ›Der Kampf ums Dasein, ein Programm‹, veröffentlichte, entschloß ich mich, zur Bekämpfung seiner Auffassung vom Kampfe ums Leben unter den Tieren wie unter den Menschen das von mir seit zwei Jahren gesammelte Material in lesbare Form zu bringen. Ich sprach mit meinen Freunden darüber, fand aber, daß die Deutung des Kampfes ums Dasein als eines Schlachtrufes im Sinne von ›Wehe den Schwachen!‹ als ein wissenschaftlich festgestelltes Naturgesetz galt und in den Herzen der Engländer fest, so fest wie ein religiöses Axiom, gewurzelt war. Nur zwei Personen unterstützten mich in meinem Kampfe gegen diese Mißdeutung der tatsächlichen Naturvorgänge. Der Herausgeber des ›Nineteenth Century‹ erfaßte mit seinem bewundernswerten Scharfblick sofort die volle Bedeutung der Sache und redete mir mit wahrhaft jugendlicher Spannkraft zu, sie in Angriff zu nehmen. Der zweite war der viel beklagte W. Bates, den Darwin in seiner Autobiographie als einen der intelligentesten Menschen hinstellte, die er je getroffen habe. Er war Sekretär der Londoner Geographischen Gesellschaft und ein Bekannter von mir, weshalb ich ihm von meiner Absicht Mitteilung machte. Er war entzückt davon und sagte: »Ja, schreiben Sie es unbedingt; das ist wahrer Darwinismus. Es ist eine Schande, wenn man bedenkt, was sie aus Darwins Ideen gemacht haben. Schreiben Sie es, und wenn Sie es veröffentlicht haben, so will ich Ihnen ein Empfehlungsschreiben senden, von dem Sie in der Öffentlichkeit Gebrauch machen können.« Eine bessere Aufmunterung konnte mir nicht zuteil werden, und ich machte mich an die Arbeit, die dann im ›Nineteenth Century‹ unter den Überschriften ›Mutual Aid among Animals‹, ›Among Savages‹, ›Among Barbarians‹, ›In the Mediaeval City‹ und ›Among Ourselves‹ (›Gegenseitige Hilfe unter Tieren‹, ›Unter Wilden‹, ›Unter Barbaren‹, ›Das Leben einer mittelalterlichen Stadt‹ und ›Unter uns‹) erschien. Leider versäumte ich, Bates die beiden ersten auf das Tierleben bezüglichen Aufsätze dieser Reihe, die während seines Lebens erschienen, vorzulegen. Ich hoffte, mit dem zweiten Teile der Arbeit ›Mutual Aid among Men‹ (›Gegenseitige Hilfe unter den Menschen‹) bald fertig zu werden, aber seine Vollendung nahm einige Jahre in Anspruch, und inzwischen ist Bates von uns geschieden.

Diese Studien veranlaßten mich zu Forschungen über die Institutionen der barbarischen Periode wie der mittelalterlichen freien Stadtgemeinden und führten mich dadurch zu einer weiteren wichtigen Untersuchung, nämlich darüber, welche Rolle in den letzten drei Jahrhunderten die Staatsidee bei ihrer jüngsten Betätigung in Europa gespielt habe. Und auf der andern Seite führte mich die Beschäftigung mit den Einrichtungen zu gegenseitiger Unterstützung, wie sie sich uns auf den verschiedenen Gesittungsstufen darstellen, zur Prüfung der Frage, wie sich in der Menschheit der Sinn für Gerechtigkeit und Moral entwickelt habe.

 

Während des letzten Jahrzehnts zeigt sich das Anwachsen des Sozialismus in England in neuer Weise. Urteilt man nur nach der Anzahl der im Lande veranstalteten sozialistischen und anarchistischen Versammlungen und der sich dabei einfindenden Zuhörer, so möchte man zu dem Schlusse kommen, die sozialistische Propaganda sei im Niedergang begriffen; oder beurteilt man den Fortschritt nach der Zahl der den heutigen parlamentarischen Vertretern des Sozialismus gegebenen Stimmen, so möchte man ebenfalls schließen, mit der sozialistischen Bewegung sei es in England so ziemlich aus. Aber nirgends kann uns die Zahl der für mehr oder minder sozialistische Wahlprogramme abgegebenen Stimmen über die Tiefe und Ausdehnung der sozialistischen Ideen Aufschluß geben. Dies trifft ganz besonders für englische Verhältnisse zu. Tatsächlich verhält es sich so, daß unter den drei von Fourier, Saint-Simon und Robert Owen formulierten Systemen des Sozialismus das letztgenannte in England und Schottland vorherrscht. Folglich kann man die Macht der Bewegung nicht sowohl aus der Zahl der Versammlungen oder der sozialistischen Wahlstimmen ermessen, als vielmehr aus dem Grade, in dem die sozialistische Anschauung den Trade-Unionismus, die kooperative und die sogenannte munizipal-sozialistische Bewegung durchdrungen hat, und aus der allgemeinen Ausbreitung sozialistischer Ideen über das ganze Land hin. Unter diesem Gesichtspunkte hat sich die sozialistische Anschauungsweise im Vergleich mit dem Zustande von 1886 neuerdings in ganz gewaltigem Maße Geltung verschafft, und beim Rückblick auf die Jahre 1876-1882 finde ich den Fortschritt sogar kolossal. Auch darf ich wohl hinzufügen, daß die rastlosen Bemühungen der kleinen Anarchistengruppen zur Ausbreitung der Ideen von Herrschaftslosigkeit, individuellen Rechten, örtlicher Selbstbestimmung und freier Vereinbarung gegenüber den vor zwei Jahrzehnten herrschenden Begriffen von staatlicher Bevormundung, von Zentralisation und Disziplin in einer Ausdehnung beigetragen haben, die uns mit dem Bewußtsein erfüllt, unsere Zeit nicht vergeudet zu haben.

Ganz Europa macht jetzt eine sehr üble Phase der Entwicklung des militärischen Geistes durch. Dies war eine unausbleibliche Folge des Sieges, den das deutsche Militärreich mit seiner allgemeinen Dienstpflicht 1871 über Frankreich davontrug, und wurde schon damals von vielen vorausgesehen und vorausgesagt, in besonders eindrucksvoller Weise von Bakunin. Aber bereits machen sich im modernen Leben die ersten Zeichen einer Gegenströmung bemerkbar.

Ihrer mönchischen Form entkleidete kommunistische Ideen haben sich in den fast dreißig Jahren, seit ich an der sozialistischen Bewegung tätigen Anteil nehme und ihr Wachstum beobachten konnte, in gewaltigem Maße in Europa und Amerika Eingang verschafft. Denke ich an die unbestimmten, unklaren, nur scheu sich hervorwagenden Ideen, die auf den ersten Kongressen der Internationalen Arbeiterassociation von den Arbeitern zum Ausdruck gebracht wurden, oder die in Paris während des Kommuneaufstandes selbst bei den gedankenreichsten Führern vorherrschend waren, und vergleiche sie mit den heute von einer großen Zahl von Arbeitern gehegten Anschauungen, so muß ich gestehen, diese beiden sozialen Auffassungen scheinen mir zwei ganz verschiedenen Welten anzugehören.

Es gibt keine Periode in der Geschichte – vielleicht mit Ausnahme jener Revolutionszeit im zwölften und dreizehnten Jahrhundert, der Wiege der mittelalterlichen Stadtgemeinden –, in welcher die bestehenden gesellschaftlichen Anschauungen sich so stark geändert hätten. Und jetzt, in meinem neunundfünfzigsten Jahre, bin ich noch fester als vor einem Vierteljahrhundert davon überzeugt, daß ein glückliches Zusammentreffen von zufälligen Ereignissen in Europa eine der l848 er an Ausdehnung nicht nachstehende und weit folgenreichere Revolution herbeiführen kann: nicht ausschließlich im Sinne eines blutigen Kampfes zwischen den Anhängern verschiedener sozialer Anschauungen, sondern eine Revolution im Sinne einer tiefgreifenden, reißend schnell sich entwickelnden Neugestaltung. Auch bin ich überzeugt, daß sich hinfort überall – ungeachtet des verschiedenartigen Charakters der Bewegung in den einzelnen Ländern – ein weit tieferes Verständnis für die notwendigen Änderungen zeigen wird, als es je während der letzten sechs Jahrhunderte der Fall war. Auf der andern Seite werden die bevorrechtigten Klassen der Bewegung schwerlich mit der sinnlosen Halsstarrigkeit entgegentreten, welche den Revolutionen vergangener Zeiten solche Heftigkeit verlieh.

Die Erringung dieses großen Erfolges ist ein schöner Lohn für die Anstrengungen, die so viele Tausende von Männern und Frauen aller Völker und aller Klassen in den letzten dreißig Jahren gemacht haben.

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