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Siebzehntes Kapitel.

Soziale Schäden des Gefängnissystems. – Im Zentralgefängnis zu Clairvaux. – Industrielle und andere Tätigkeit in demselben. – Traurige Lage der alten Gefangenen. – Reger Verkehr der Gefangenen untereinander. – Moralische Wirkung der Gefängnisse.

 

Der Prozeß war vorüber, aber ich blieb noch ein paar Monate im Lyoner Untersuchungsgefängnis. Die meisten meiner Kameraden hatten nämlich gegen das Urteil des Polizeigerichts Berufung eingelegt, und wir mußten das Ergebnis abwarten. Nur ich lehnte es im Verein mit vier Genossen ab, mich an der Appellation zu beteiligen, und arbeitete ruhig in meiner ›Pistole‹ »Pistolen« heißen die Sonderzimmer, in denen Untersuchungsgefangene gegen Entgelt untergebracht werden, und wo sie auch eigene Beköstigung haben können. weiter. Ein Freund von mir, Martin, ein Wiener Weber, nahm die ›Pistole‹ neben der meinigen ein, und nach unserer Verurteilung durften wir im Hofe zusammen spazieren gehen. Wollten wir uns aber in der Zwischenzeit etwas mitteilen, so verständigten wir uns ganz wie in Rußland durch Klopfen.

 

Schon während meines Lyoner Aufenthaltes wurde mir klar, einen wie entsittlichenden Einfluß die Gefängnisse auf die Gefangenen ausüben, und die volle Erkenntnis dieser verderblichen Einwirkung brachte mich später dazu, die ganze Einrichtung unbedingt zu verdammen.

Das Gefängnis in Lyon ist ein ›modernes‹, nach dem Zellensystem in Sternform gebautes Gefängnis. Die Räume zwischen den Strahlen des sternartigen Gebäudes nehmen kleine, asphaltierte Höfe ein, in denen die Insassen bei gutem Wetter arbeiten, und zwar sind sie meist mit dem Schlagen der losgewickelten Cocons beschäftigt, aus denen sie Florettseide gewinnen. Außerdem führt man zu gewissen Stunden zahlreiche zu Gefängnisstrafen verurteilte Kinder auf die Höfe. Diese mageren, ausgemergelten, schlechtgenährten Kindergestalten, wahre Schattengebilde, beobachtete ich oft von meinem Fenster aus. Die Blutarmut stand offen auf allen den kleinen Gesichtern geschrieben und sprach aus ihren dürftigen, fröstelnden Körpern; und nicht nur in den Schlafsälen, sondern selbst in den Höfen, im vollen Sonnenlicht, verschlimmerte sich dieser ihr krankhafter Zustand. Was soll aus den Kindern werden, die eine solche Schule mit ruinierter Gesundheit, vernichtetem Willen und geschwächter Spannkraft verlassen? Gerade die Blutarmut, die die Energie mindert, die Arbeitslust raubt, Willen und Intellekt schwächt und der Einbildungskraft eine verkehrte Richtung gibt, ist für Verbrechen in weit höherem Maße verantwortlich zu machen als Vollblütigkeit, und eben jener Feind des Menschengeschlechtes wird im Gefängnis gezüchtet. Und dann, was lernen die Kinder in dieser Umgebung! Die Vereinzelung, und würde sie – was gar nicht möglich ist – noch so peinlich durchgeführt, hätte wenig Wert, denn in jedem Gefängnis atmet man gewissermaßen mit der Luft die Verherrlichung jener Gaunerkniffe ein, die bei allem Diebstahl, Schwindel und ähnlichem antisozialem Tun zur Anwendung kommen. Ganze Geschlechter von künftigen Gefangenen werden in diesen Lehranstalten aufgezogen, die der Staat unterhält und die Gesellschaft duldet, nur weil sie nicht ihre eigenen Gebrechen besprochen und zergliedert haben wollen. »Wer jung ins Gefängnis kommt, bleibt sein Lebenlang ein Zuchthausvogel,« sagten mir später alle, die die strafrechtlichen Verhältnisse kannten. Und wenn ich diese Kinder sah, und mir ihre voraussichtliche Zukunft vorstellte, so fragte ich mich beständig: »Wer von ihnen ist der schlimmste Verbrecher – dieses Kind oder der Richter, der jedes Jahr Hunderte von Kindern zu solchem Lose verurteilt?« Gern räume ich ein, daß das Verbrechen dieser Richter unbewußt erfolgt. Aber werden denn alle Verbrechen so bewußt ausgeführt, wie man gewöhnlich annimmt?

Ein zweiter Punkt, der mir gleich in den ersten Wochen meiner Kerkerhaft zum Bewußtsein kam, der sich aber unbegreiflicherweise der Beachtung der Richter wie der Kriminalisten entzogen hat, ist der, daß in unzähligen Fällen durch die Einkerkerung eines Menschen völlig Unschuldige weit härter getroffen werden, als der Verurteilte selbst.

Fast jeder meiner Kameraden, die einen guten Durchschnitt der Arbeiterbevölkerung darstellten, hatte entweder für Frau und Kinder zu sorgen oder besaß eine Schwester oder eine alte Mutter, die mit ihrem Lebensunterhalt auf seinen Verdienst angewiesen war. Ihres Versorgers beraubt, suchten diese Frauen nun nach Kräften Arbeit zu finden. Mancher gelang dies auch, doch brachte es keine auf einen regelmäßigen Tagesverdienst von anderthalb Mark. Sieben bis acht, oft nur vier bis fünf Mark die Woche, mehr konnten sie zur Bestreitung des Lebensunterhalts für sich und ihre Kinder nicht erwerben. Das bedeutete offenbar eine Unterernährung, Entbehrungen aller Art, Gesundheitsschädigung für die Frau und ihre Kinder, Schwächung des Intellekts, der Spannkraft und des Willens. So erkannte ich klar, daß die Verurteilungen in unseren Gerichtshöfen in Wahrheit ganz unschuldige Menschen zu allen möglichen Leiden verdammten, die meist sogar schlimmer waren als die dem Verbrecher selbst auferlegten. Man stellt sich vor, das Gesetz strafe den Betreffenden dadurch, daß es die verschiedensten seinen Körper und sein Ehrgefühl peinigenden Maßregeln über ihn verhängt. Der Mensch gewöhnt sich aber seiner Natur nach allmählich auch an die größten Widerwärtigkeiten. Kann er sie nicht abwenden, so nimmt er sie hin und findet sich nach einem gewissen Zeitraum mit ihnen ab, ganz wie er sich an eine chronische Krankheit gewöhnt und mehr oder minder unempfindlich gegen sie wird. Was wird aber während der Gefangenschaft des Mannes und Ernährers aus seiner Frau und seinen Kindern, das heißt, aus den Unschuldigen, die für ihren Lebensunterhalt auf ihn angewiesen sind? Sie werden noch grausamer gestraft als er selbst. Aber keiner denkt, da er sich von dem Banne des gewohnten beschränkten Vorstellungskreises nicht freimachen kann, je an die darin liegende ungeheure Ungerechtigkeit. Auch mich führte nur tatsächliche Erfahrung auf den Gedanken.

 

Mitte März 1883 brachte man zweiundzwanzig von uns, die zu mehr als einem Jahre Gefängnis verurteilt waren, in das Zentralgefängnis nach Clairvaux. Dies war früher die Abtei des heiligen Bernhard gewesen, aus der die Revolution ein Armenhaus gemacht hatte. Später wurde es ein Haft- und Korrektionshaus, das bei den Insassen und auch bei den Beamten den wohlverdienten Spitznamen ›Haft- und Korruptionshaus‹ führte.

Solange wir in Lyon blieben, erfuhren wir dieselbe Behandlung wie die Untersuchungsgefangenen in Frankreich überhaupt, das heißt, wir hatten eigene Kleidung, durften uns vom Wirtshaus unsere Kost bringen lassen und konnten uns für wenige Franken monatlich eine größere Zelle, eine ›Pistole‹, mieten. Dies machte ich mir zu nutze, indem ich angestrengt an meinen Aufsätzen für die ›Encyclopaedia Britannica‹ und das ›Nineteenth Century‹ arbeitete. Nun fragte es sich aber, wie man uns in Clairvaux behandeln würde. Doch huldigt man in Frankreich allgemein der Ansicht, daß der Verlust der Freiheit und die gezwungene Untätigkeit schon an sich für politische Gefangene eine so schwere Strafe bilden, daß man ihnen nicht noch weitere Widerwärtigkeiten aufzuerlegen brauche. Man teilte uns daher mit, es würden für uns auch ferner die Bestimmungen für Untersuchungsgefangene maßgebend sein. Wir sollten von den andern getrennt wohnen, eigene Kleidung behalten, keine Zwangsarbeit verrichten müssen und rauchen dürfen. »Denjenigen von Ihnen,« sagte der Gefängnisdirektor, »die etwas durch Handarbeit verdienen wollen, wird die Möglichkeit geboten werden, dies durch Korsettnähen oder durch kleine Gravierarbeiten in Perlmutter zu tun. Diese Arbeit wird zwar schlecht bezahlt, aber ich kann Sie nicht in unseren Werkstätten mit der Herstellung von eisernen Bettstellen, Bilderrahmen und andern Gegenständen beschäftigen, da Sie sonst mit den gemeinen Verbrechern zusammen wohnen müßten.« Wie die übrigen Gefangenen durften wir aus der Gefängniskantine weitere Nahrungsmittel und täglich einen Schoppen Wein, beides zu sehr billigem Preise und in guter Beschaffenheit, beziehen.

Der erste Eindruck, den ich von Clairvaux empfing, war ein höchst günstiger. Den ganzen Tag von zwei oder drei Uhr morgens waren wir auf der Reise in die bekannten engen Käfige der abgeteilten Eisenbahnwagen eingeschlossen gewesen. Als wir das Zentralgefängnis erreichten, brachte man uns zunächst in der Zellen- oder Strafabteilung unter und führte uns in die gewöhnlichen, übrigens höchst sauberen Zellen. Einfaches, aber sehr gutes, warmes Essen hielt man für uns trotz der späten Abendstunde bereit, auch konnten wir jeder einen halben Schoppen vorzüglichen Landwein haben, der in der Gefängniskantine an die Gefangenen zu dem außerordentlich niedrigen Preise von zwanzig Pfennigen der Schoppen verkauft wurde. Der Gefängnisdirektor wie die Wärter behandelten uns mit großer Höflichkeit.

Am nächsten Tage ließ mich der Direktor die für uns bestimmten Zimmer sehen, und als ich bemerkte, sie wären sonst wohl recht, aber für eine solche Anzahl – wir waren unser, wie gesagt, zweiundzwanzig – etwas zu klein, es könnten in so überfüllten Räumen leicht Krankheiten entstehen, gab er uns eine andere Reihe von Zimmern in den Baulichkeiten, wo in alten Zeiten die Gemächer des Abtes gewesen waren und sich jetzt das Hospital befand. Unsere Fenster führten auf einen kleinen Garten, und darüber hinaus bot sich uns ein schöner Blick auf die umgebende Landschaft. In einem Zimmer nicht weit von den unsern hatte der alte Blanqui die letzten drei oder vier Jahre vor seiner Entlassung zugebracht. Vorher war er in der Zellenabteilung gewesen.

Außer den drei geräumigen Zimmern, die man uns anwies, wurde Gautier und mir noch ein kleinerer Raum überlassen, so daß wir weiter literarisch tätig sein konnten. Diese Vergünstigung verdankten wir wahrscheinlich dem Eingreifen zahlreicher englischer Gelehrten, die gleich nach meiner Verurteilung in einer Bittschrift an den Präsidenten um meine Freilassung eingekommen waren. Viele Mitarbeiter der ›Encyclopaedia Britannica‹, wie auch Herbert Spencer und Swinburne hatten das Gesuch unterzeichnet, während Victor Hugo zu seinem Namen noch ein paar warme Worte gefügt hatte. Im ganzen äußerte sich die öffentliche Meinung in Frankreich sehr absprechend über unsere Verurteilung, und als meine Frau in Paris verlauten ließ, ich brauchte Bücher, bot die Akademie der Wissenschaften ihre Bibliothek an und stellte ihr Ernest Renan in einem liebenswürdigen Schreiben seine eigene Büchersammlung zur Verfügung.

Wir hatten einen kleinen Garten, in dem wir uns mit Kegelschieben unterhalten konnten. Überdies bestellten wir ein schmales Stückchen Land, das sich an der Mauer hinzog, und erzielten auf einigen achtzig Quadratmetern fast unglaubliche Mengen von Salatköpfen und Rettichen, wie auch einige Blumen. Selbstverständlich richteten wir sofort Klassen ein, in denen ich während der drei Jahre meines Aufenthaltes in Clairvaux meinen Genossen Unterricht in Erdbeschreibung, Geometrie und Naturlehre gab und ihnen bei der Erlernung von Sprachen behilflich war. Fast jeder lernte eine fremde Sprache, Englisch, Deutsch, Italienisch oder Spanisch, ein paar sogar zwei. Auch betrieben wir etwas die Buchbinderei, wozu uns die ausgezeichneten Bändchen der Roret'schen Sammlung die nötige Anweisung gaben.

Aber gegen Ende des ersten Jahres war meine Gesundheit aufs neue erschüttert. Clairvaux ist auf sumpfigem Boden, auf dem die Malaria einheimisch ist, erbaut, und so ergriff auch mich diese Krankheit, der sich noch Skorbut zugesellte. Da ließ meine Frau, die sich Studien halber in Paris aufhielt, dort in Würtz' Laboratorium arbeitete und sich auf die Doktorprüfung vorbereitete, alles im Stich und kam sofort nach dem Ort Clairvaux, der aus kaum mehr als einem Dutzend am Fuße der ungeheuren Gefängnismauer liegender Häuser besteht. Natürlich war der Aufenthalt in dem Dörfchen mit der Gefängnismauer gegenüber für sie nichts weniger als heiter, aber sie blieb hier wohnen, bis ich entlassen wurde. Während des ersten Jahres durfte sie mich nur einmal in je zwei Monaten sehen und zwar in Gegenwart eines Wärters, der zwischen uns saß. Als sie sich aber in Clairvaux dauernd niederließ und ihre feste Absicht erklärte, nicht vom Flecke zu weichen, gestattete man ihr bald, mich jeden Tag in einem der kleinen Wachthäuschen innerhalb der Gefängnismauer zu sprechen; auch erhielt ich meine Beköstigung aus dem Gasthaus, in dem sie wohnte, später durften wir sogar unter strenger Bewachung im Garten des Direktors spazieren gehen, wobei uns gewöhnlich einer meiner Genossen Gesellschaft leistete.

 

Anfänglich nahm ich mit Verwunderung wahr, daß das Zentralgefängnis in Clairvaux ganz wie ein kleiner Industrieort aussah, der von Obstgärten und Feldern umgeben und in weitem Umfange von einer Mauer umschlossen ist. Tatsächlich werden die Insassen eines französischen Zentralgefängnisses, wenn sie vielleicht auch der Willkür und Launenhaftigkeit des Direktors und der Wärter mehr preisgegeben sind, als es in englischen Gefängnissen der Fall ist, weit menschlicher behandelt als die Gefangenen jenseits des Kanals. Von dem mittelalterlichen Geiste der ›Vergeltung‹, der noch in englischen Gefängnissen vorherrscht, hat man sich in Frankreich schon lange freigemacht. Der Gefangene braucht nicht auf Brettern zu schlafen oder erhält nicht nur einen Tag um den andern eine Matratze; von dem Tage an, wo er das Gefängnis betritt, bekommt er ein anständiges Bett, das ihm dauernd bleibt. Er wird zu keiner entwürdigenden Arbeit wie Wergzupfen oder Raddrehen gezwungen; im Gegenteil, man hält ihn zu nützlicher Tätigkeit an, weshalb auch das Gefängnis in Clairvaux den Eindruck eines betriebsamen Ortes macht, in dem Möbel, Bilderrahmen, Spiegel, Metermaße, Samt, Leinwand, Korsette, Perlmutterartikel, Holzschuhe und anderes von den fast 1600 dort untergebrachten Gefangenen hergestellt werden.

Wenn auch ferner die Strafen für Unbotmäßigkeit sehr streng sind, so ist doch von Auspeitschen, wie es noch in englischen Gefängnissen geübt wird, keine Rede mehr; eine solche Bestrafung wäre in Frankreich ganz unmöglich. Alles in allem kann man das Zentralgefängnis in Clairvaux eines der besten in Europa nennen. Trotzdem sind aber die dort erzielten Ergebnisse nicht besser als in irgendeinem von den altmodischen Zuchthäusern. »Das Losungswort lautet heute, die Gefangenen würden in unseren Gefängnissen gebessert,« sagte einmal ein Mitglied der Gefängnisverwaltung zu mir. »Das ist völliger Unsinn, und ich werde mich niemals verleiten lassen, eine solche Lüge in meinen Berichten zu verteidigen.«

 

Die Gefängnisapotheke befand sich unterhalb unseres Zimmers, so daß wir hin und wieder mit den dort beschäftigten Gefangenen in Berührung kamen. Unter ihnen war auch ein grauhaariger, fünfzigjähriger Mann, dessen Strafzeit während unseres Aufenthalts zu Ende ging. Sein Scheiden aus dem Gefängnisse war rührend. Er wußte, daß er in wenigen Wochen oder Monaten zurück sein würde, und bat den Arzt, die Stelle in der Apotheke für ihn offen zu lassen. Es war nämlich nicht sein erster Besuch in Clairvaux gewesen, und er sah voraus, es würde nicht der letzte sein. Er hatte ›draußen‹ keine Menschenseele auf der ganzen Welt, bei der er seine alten Tage verbringen konnte. »Wer wird mir Arbeit geben wollen?« sagte er. »Und welches Handwerk verstehe ich? Keines. Wenn ich draußen bin, muß ich zu meinen alten Genossen gehen; die werden mich wenigstens sicher wie einen alten Freund aufnehmen.« Dann trank er einmal in ihrer Gesellschaft ein Glas zu viel, sie wurden warm bei der Unterhaltung über einen Hauptspaß, einen ›Hauptstreich‹ auf dem Gebiete der Gaunerei, den man ausführen könnte, und halb infolge seiner Willensschwäche, halb aus Gefälligkeit gegen seine einzigen Freunde machte er mit und wurde wieder gefaßt. So war es ihm schon mehrmals im Leben ergangen. Es verstrichen aber diesmal zwei Monate nach seiner Entlassung, und noch war er nicht wieder in Clairvaux. Da wurden die Gefangenen und auch die Wärter seinetwegen unruhig. »Ist er in einen andern Gerichtsbezirk geraten, daß er noch nicht zurück ist? Man kann nur hoffen, daß er nicht in was Schlimmeres verwickelt ist,« sagten sie und meinten dabei etwas Schlimmeres als Diebstahl. »Das wäre schade, er war so ein netter, ruhiger Mann.« Es zeigte sich aber bald, daß die erste Vermutung die richtige war, denn es kam aus einem andern Gefängnis die Mitteilung, der Alte sei dort und versuche, seine Verbringung nach Clairvaux zu erlangen.

Die alten Gefangenen machten einen ganz erbarmungsvollen Eindruck. Viele hatten ihre erste Bekanntschaft mit dem Gefängnis in der Kindheit oder im jugendlichen Alter, andere später gemacht, aber die Erfahrung lehrt die Richtigkeit des Wortes ›einmal im Gefängnis, immer im Gefängnis‹. Wenn einer daher die Sechzig erreicht oder überschritten hatte, so wußte er, daß er sein Leben in den Gefängnismauern beschließen würde. Um das Abscheiden dieser Zuchthausgreise zu beschleunigen, pflegte sie die Verwaltung in den Werkstätten zu beschäftigen, wo Filzsocken aus allem möglichen wollenen Abfall gemacht wurden. In dem Staube dieser Arbeitsstätten bekamen sie bald die Schwindsucht, die ihnen endlich Erlösung von ihrem trostlosen Dasein brachte. Dann trugen vier Mitgefangene den alten Genossen zum gemeinsamen Grabe, wohin der Begräbniswärter und sein Hund als die einzigen lebenden Wesen dem Zuge folgten. Da aber der voranschreitende Gefängnisgeistliche, sein Gebet mechanisch hermurmelnd, seine Augen über die umstehenden Kastanienbäume oder Kiefern schweifen ließ und die vier Kameraden sich ihrer momentanen Freiheit freuten, so war vielleicht der schwarze Vierfüßler das einzige Wesen, auf das die Feierlichkeit Eindruck machte.

 

Als man die reformierten Zentralgefängnisse in Frankreich einführte, glaubte man, es ließe sich in ihnen der Grundsatz völligen Stillschweigens durchführen. Es widerstreitet dies aber der menschlichen Natur so sehr, daß man die unbedingte Durchsetzung des Prinzips bald aufgeben mußte. In der Tat verhindert auch die Einzelhaft die gegenseitige Verständigung zwischen den Gefangenen nicht.

Dem außenstehenden Beobachter scheint das Gefängnis ganz stumm zu sein; aber in Wahrheit geht es darin so lebhaft zu wie in einer kleinen Stadt. Mit gedämpfter Stimme, durch leise geflüsterte, eiligst zugeworfene Worte oder bekritzelte Papierstückchen wird jede wichtig erscheinende Neuigkeit augenblicklich im ganzen Gefängnis bekannt gemacht. Alles, was sich unter den Gefangenen selbst, oder im ›Cour d'honneur‹, wo die Verwaltungsbeamten wohnen, oder im Dorfe, wo die Arbeitgeber ihre Häuser haben, oder was sich auf dem weiten Felde der Pariser Politik ereignet, findet sofort seinen Weg in alle Schlafsäle, Werkstätten und Zellen. Die Franzosen sind von Natur viel zu mitteilsam, als daß es möglich wäre, sie je zu völligem Schweigen zu bringen. Obwohl wir mit den sogenannten gemeinen Verbrechern anscheinend keinen Verkehr hatten, erfuhren wir doch alle Tagesneuigkeiten. »Johann, der Gärtner, ist wieder auf zwei Jahre da.« »Die Frau von dem und dem Inspektor hat mit der und der einen furchtbaren Auftritt gehabt.« »Jakob hat man abgefaßt, wie er Johann, dem Rahmer, einen freundschaftlichen Brief hat zustecken wollen.« »Der alte Esel … ist nicht mehr Justizminister, das Ministerium ist gestürzt.« So und ähnlich lauteten die geheimen Mitteilungen, und eine Nachricht wie »Hans hat für zwei Flanellwesten im Umtausch zwei Vierzig-Pfennig-Päckchen Tabak gekriegt,« flog mit Blitzesschnelle durch das ganze Gefängnis.

Beständig gelangten Bitten um Tabak an uns. Oder wenn ein Gerichtsdiener, der im Gefängnis saß, mir ein Schreiben senden wollte, in dem er meine Frau bitten ließ, seine ebenfalls im Orte weilende Frau zu sprechen, so interessierte sich eine ganze Anzahl von Menschen auf das lebhafteste für die Übermittelung dieser Botschaft, die ich weiß nicht durch wie viele Hände gehen mußte, ehe sie ihr Ziel erreichte. Ebenso kam ein Zeitungsblatt, dessen Inhalt kennen zu lernen für uns von besonderem Werte war, auf irgendeinem unvorhergesehenen Wege in unsere Hände, meist vermittels eines darin gewickelten kleinen Steines, der die Beförderung über eine hohe Mauer ermöglichte.

Das Zellensystem macht gegenseitige Mitteilungen keineswegs unmöglich. Als wir nach Clairvaux kamen und zunächst in der Zellenabteilung untergebracht wurden, war es in den Zellen bitter kalt – so kalt, daß meine Frau, als sie einen von mir dort geschriebenen Brief erhielt, meine Handschrift nicht wiedererkannte, weil ich mit so froststarren Fingern geschrieben hatte. Es wurde Befehl gegeben, die Zellen möglichst zu erwärmen; doch, was man auch anstellte, die Zellen blieben so kalt wie vorher. Schließlich stellte sich heraus, daß alle Heißluströhren in den Zellen mit Papierstückchen, Brieffetzen, Federmessern und allen möglichen andern Kleinigkeiten verstopft waren, die dort verschiedene Geschlechter von Gefangenen angehäuft hatten.

Mein Freund Martin, dessen ich schon oben Erwähnung getan habe, erhielt die Erlaubnis, seine Zeit zum Teil in der Zellenabteilung abzusitzen. Er wollte nämlich lieber allein in einer Zelle sein, als einen Raum mit einem Dutzend Kameraden teilen und ließ sich deshalb eine Zelle anweisen. Zu seiner großen Verwunderung fand er aber, daß er in seiner Zelle ganz und gar nicht einsam war. Die Mauern und Schlüssellöcher ringsherum redeten eine sehr vernehmliche Sprache. Es dauerte nicht zwei Tage, so wußten alle Zelleninsassen, wer er war, und er hatte im ganzen Gebäude Bekannte. Es entwickelte sich zwischen den anscheinend vereinzelten Zellen ein Leben wie in einem Bienenkorbe, nur daß dieses Leben einen durchaus psychopathischen Charakter trug; Krafft-Ebing selbst hatte keine Vorstellung, wie sich dieses Leben gestalten kann, wenn Gefangene von gewisser Art sich in Einzelhaft befinden.

Ich will hier nicht wiederholen, was ich in meinem Buche ›In Russian and French prisons‹, das 1886 bald nach meiner Entlassung aus Clairvaux in England erschien, über den sittlichen Einfluß der Gefängnisse auf die Gefangenen gesagt habe. Aber eines möchte ich hier betonen. Die Gefangenen setzen sich aus den verschiedenartigsten Elementen zusammen; nehmen wir aber nur diejenigen, die man gewöhnlich als die ›Verbrecher‹ im eigentlichen Sinne bezeichnet, und über die neuerdings Lombroso und seine Anhänger so viel geschrieben haben, so war mir betreffs ihrer die Erkenntnis besonders drückend, daß die Gefängnisse, die als Vorbeugungsmittel gegen antisoziale Tätigkeit gelten, diese gemäß ihren Einrichtungen gerade befördern müssen und durch den ›Gefängnisunterricht‹ nur noch verschlimmern. Niemand bestreitet, daß Mangel an Erziehung, lang genährte Scheu vor regelmäßiger Arbeit, physische Unfähigkeit zum Ertragen von Anstrengungen, mißleitete Abenteuersucht, Neigung zum Spiel, Mangel an Energie und mangelhafter Wille, sowie Gleichgültigkeit gegen das Wohlergehen anderer, daß dies die Hauptursachen sind, welche die in Rede stehenden Menschen vor Gericht bringen. Nun machte es auf mich während meiner Gefangenschaft den tiefsten Eindruck, daß gerade diese Mängel der menschlichen Natur und zwar jeder einzelne von ihnen durch das Gefängnis in seinen Insassen gefördert werden. Ja, es muß sie fördern, weil es ein Gefängnis ist, und wird sie immer fördern.

Die Gefängnishaft muß unzweifelhaft die Spannkraft eines Menschen zerstören und in noch höherem Maße seinen Willen töten. Im Gefängnisleben ist kein Platz zur Ausübung des Willens. Besitzt man dort einen eigenen Willen, so bereitet man sich zweifellos Schwierigkeiten. Der Wille des Gefangenen muß gebrochen werden und wird gebrochen. Noch weniger bietet sich dort Gelegenheit zur Betätigung des angeborenen Mitgefühls, da alles geschieht, um die freie Berührung mit den Mitmenschen, mit denen der Gefangene Mitgefühl empfinden könnte, innerhalb und außerhalb des Gefängnisses zu unterbinden. Körperlich und geistig wird er immer unfähiger gemacht, Anstrengungen zu ertragen, und empfand er früher eine Abneigung gegen regelmäßige Arbeit, so steigert sich diese Abneigung während seiner Haftzeit. War er vor seinem Eintritt ins Gefängnis eintöniger Arbeit, die er nicht recht ausführen konnte, bald überdrüssig, oder war ihm schlecht bezahlte Arbeit verleidet, so wird sein Widerwille jetzt zum Haß. Wenn er vorher über den sozialen Nutzen der herrschenden Moralgesetze Zweifel hegte, so wirft er jetzt, nachdem er einen kritischen Blick auf die offiziellen Verteidiger dieser Gesetze geworfen und die Ansichten seiner Kameraden in dieser Hinsicht kennen gelernt hat, die Gesetze offen über Bord. Und hatte ihn vorher eine krankhafte Entwicklung der leidenschaftlichen, sensuellen Seite seiner Natur auf Irrwege geführt, so hat sich dieser krankhafte Zug nach jahrelangem Aufenthalt im Gefängnis noch weiter gesteigert – oft in erschreckendem Maße. Gerade in dieser letzten Richtung, der gefährlichsten von allen, wirkt die Erziehung durch das Gefängnis am verhängnisvollsten.

In Sibirien hatte ich gesehen, was für Moräste voll Schmutz, was für Brutstätten physischer und moralischer Verkommenheit die unsauberen, überfüllten, ›nicht reformierten‹ russischen Gefängnisse waren. Im Alter von neunzehn Jahren dachte ich daher, die ganze Einrichtung könnte wesentlich gewinnen, wenn man etwas mehr Raum und Luft schaffte, die Gefangenen in passende Gruppen zusammenlegte und sie mit gesunder Arbeit beschäftigte. Jetzt mußte ich diesen Wahn aufgeben. Ich konnte mich selbst überzeugen, daß die ›Reformgefängnisse‹ – ganz gleich ob sie nach dem Zellensystem oder anders eingerichtet sind – was die Wirkung auf die Gefangenen und die Folgen für die Gesellschaft überhaupt betrifft, nicht besser oder sogar noch schlechter sind als die schmutzigen Löcher der alten Zeit. Die Gefangenen werden durch die modernen Gefängnisse nicht ›reformiert‹. Im Gegenteil, diese üben in der ganz überwältigenden Mehrheit der Fälle durchaus eine Wirkung zum Schlechtem aus. Der Dieb, der Betrüger, der Gewalttätige, der mehrere Jahre im Gefängnis zugebracht hat, ist nach dem Absitzen der Strafe mehr als je geneigt, seine alte Laufbahn wieder aufzunehmen; er ist besser daraus vorbereitet, er hat sein Ziel besser verfolgen lernen; er ist auch gegen die Gesellschaft noch mehr erbittert und glaubt, noch besseren Grund zu seiner Auflehnung gegen ihre Gesetze und Sitten zu haben. Notwendig, unvermeidlich muß er nun auf dem antisozialen Pfade, der ihn zuerst vor den Strafrichter führte, weiterschreiten. Seine Vergehen werden hinfort noch schwerer sein als das, welches ihn zuerst ins Gefängnis brachte, und er kann dem Geschick nicht entgehen, sein Leben im Gefängnis oder in einer Strafkolonie zu beschließen. In dem obenerwähnten Buche habe ich gesagt, Gefängnisse seien ›vom Staat unterhaltene Verbrecherhochschulen‹. Dieses Wort kann ich jetzt, nach fünfzehn Jahren, im Lichte meiner späteren Erfahrungen nur vollauf bestätigen.

 

Persönlich hatte ich nicht die geringste Veranlassung, mich über die Jahre, die ich in einem französischen Gefängnisse verlebt habe, zu beklagen. Für einen tätigen und unabhängigen Menschen bedeutet die Beschränkung der Freiheit und Tätigkeit an sich eine so große Entbehrung, daß alles übrige, all die kleinen Leiden des Gefängnislebens, nicht der Rede wert sind. Hörten wir von der lebhaften politischen Bewegung, die sich in Frankreich entwickelte, so empfanden wir unsere gezwungene Untätigkeit natürlich sehr unangenehm. Das Ende des ersten Jahres ist, besonders zur trüben Winterszeit, immer schwer für einen Gefangenen. Und kommt dann der Frühling, so fühlt man den Verlust der Freiheit drückender als je. Wenn ich von unsern Fenstern sah, wie die Wiesen sich mit grüner Hülle bekleideten und die Hügel Frühlingsduft umschwebte, oder wenn ich einen Eisenbahnzug im Tale zwischen den Hügeln dahinfliegen sah, ja, da fühlte ich freilich ein sehnendes Verlangen, ihm zu folgen, die Waldluft einzuatmen und mich mit dem Strome menschlichen Lebens in die geschäftige Stadt forttragen zu lassen, wer sich aber einer vorgeschrittenen Partei voll und ganz anschließt, der muß darauf rechnen, eine Reihe von Jahren im Gefängnisse zuzubringen und darf darüber nicht murren. Er fühlt, daß er auch während seiner Haft ein nicht ganz unnützer Bestandteil des fortschrittlichen Stromes bleibt, der den ihm teuren Ideen Ausbreitung und Kraft gibt.

In Lyon hatten allerdings meine Genossen, meine Frau und ich, über die Roheit der Wärter zu klagen. Aber nach verschiedenen Scharmützeln wurde es besser. Überdies wußte die Gefängnisverwaltung, daß wir die Pariser Presse auf unserer Seite hatten; und sie wünschte durchaus nicht, Rocheforts Donner und Clemenceaus Blitze auf sich zu ziehen. In Clairvaux dagegen bedurfte es solcher Korrektur nicht. Die gesamte Verwaltung war kurz vor unserer Ankunft in andere Hände übergegangen. Ein Gefangener war in seiner Zelle von Wärtern getötet und sein Leichnam, um Selbstmord vorzuspiegeln, aufgehängt worden. Doch diesmal kam die Untat durch den Arzt an den Tag. Der Direktor wurde entlassen, und es herrschte seitdem in allem ein besserer Ton im Gefängnisse. Ich nahm von Clairvaux die besten Erinnerungen an den Gefängnisdirektor mit, und mehr als einmal kam mir während meines dortigen Aufenthalts der Gedanke, daß schließlich die Menschen meistens besser sind, als die Einrichtungen, denen sie dienen. Aber gerade weil ich persönlich keine Beschwerde zu führen habe, kann ich um so freimütiger und ganz unbedingt die Einrichtung an sich verurteilen als ein Überbleibsel aus düsterer Vergangenheit, verfehlt von Grund aus, und als eine Quelle unergründlichen Unheils für die Gesellschaft.

Noch einen Punkt muß ich erwähnen, der mich vielleicht noch mehr betroffen machte als der entsittlichende Einfluß der Gefängnisse auf ihre Bewohner, Was für einen Ansteckungsherd bildet jedes Gefängnis und auch schon jeder Gerichtshof für seine Umgebung – für die Leute, die in der Nähe leben! Lombroso hat viel Wesens von dem ›Verbrechertypus‹ gemacht, den er unter den Insassen der Gefängnisse entdeckt zu haben glaubt. Hätte er ebensoviel Mühe auf die Beobachtung der Leute verwandt, die um die Gerichtshöfe herumlungern – Geheimpolizisten, Spitzel, Winkeladvokaten, Zuträger, Leute, die auf den Bauernfang ausgehen, und anders – so wäre er wahrscheinlich zu dem Schluß gekommen, daß sein ›Verbrechertypus‹ eine weit größere räumliche Ausdehnung besitzt als den Umfang der Gefängnismauern. Niemals sah ich wieder eine solche Sammlung von Gesichtern, die dem niedrigsten menschlichen Typus angehörten und tief unter dem Durchschnitt standen, wie ich sie damals in Lyon zu Dutzenden um das Justizgebäude und innerhalb desselben bemerkte; jedenfalls habe ich nichts Gleiches innerhalb der Clairvauxer Kerkermauern zu sehen bekommen. Dickens und Cruikshank haben ein paar solcher Typen unsterblich gemacht, aber sie vertreten eine ganze Welt, die sich an die Gerichtshöfe hängt und weit herum ihren Ansteckungsstoff ausspritzt. Dasselbe gilt aber auch für jedes andere Zentralgefängnis. Wie ein Ölfleck auf wollenem Gewande, so breitet sich um jedes Gefängnis eine ganze von Diebstahl, Betrug, Spitzeltum und Verderbtheit jeder Art geschwängerte Atmosphäre nach allen Richtungen aus.

Dies alles sah ich, und wenn ich daher schon vor meiner Verurteilung erkannt hatte, daß die Gesellschaft mit ihrem jetzigen Strafsystem auf falschem Wege ist, so wußte ich, als ich Clairvaux verließ, daß sie nicht nur bei der Anwendung dieses Systems falsch und ungerecht handelt, sondern daß es bare Torheit ist, wenn sie teils in unbewußter, teils in absichtlicher Verkennung der Wirklichkeit auf eigene Kosten diese Hochschulen des Verbrechertums und diese Moräste der Verderbnis unterhält, in dem Wahne, sie bedürfe ihrer zur Zügelung der verbrecherischen menschlichen Neigungen.

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