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Fünftes Kapitel.

Unter den Uhrmachern des Jura. – Die ersten Anfänge des Anarchismus. – Freunde in Neuchatel. – Flüchtige Kommunarden. – Bakunins Einfluß. – Mein sozialistisches Programm. – Verbotene Bücher über die Grenze geschmuggelt.

 

Zuerst ging ich nach Neuchatel und brachte etwa zwölf Tage unter den Uhrmachern im Jura zu. Dabei machte ich meine erste Bekanntschaft mit dem Jurabund (Jura-Föderation), der in den nächsten paar Jahren eine wichtige Rolle in der Entwicklung des Sozialismus spielte, indem er in denselben die antigouvernementale oder anarchistische Tendenz einführte.

Es war im Jahre 1872, als der Jurabund gegen die Autorität des Generalrats der Internationale rebellierte. Diese war ihrem Wesen nach eine Arbeiterorganisation, und die Masse ihrer Mitglieder betrachtete sie daher auch als Arbeiter-, nicht als politische Partei. Im östlichen Belgien hatte man z. B. eine Klausel in die Satzungen aufgenommen, vermöge deren nur Handarbeiter Sektionsmitglieder sein durften und selbst Vorarbeiter ausgeschlossen wurden.

Überdies waren die Arbeiter im Grundsatz föderalistisch gesinnt. Jedes Volk, jede eigene Landschaft, ja, jede lokale Sektion sollte sich unabhängig und nach eigenen Prinzipien entwickeln dürfen. Aber die Revolutionäre der alten Schule aus den Reihen der Mittelklassen, die sich, voll von den Ideen zentralisierter und pyramidenförmig aufgebauter geheimer Gesellschaften früheren Datums, der Internationale angeschlossen hatten, brachten diese ihre Vorstellungen auch hier zur Anwendung. So wurde neben den Föderal- und Nationalräten ein Generalrat in London eingerichtet, der eine Art Vermittlerrolle zwischen den Vertretungen der verschiedenen Nationen zu übernehmen hatte. Seine leitenden Geister waren Marx und Engels. Doch zeigte es sich bald, daß die bloße Tatsache der Existenz einer solchen zentralen Körperschaft eine Quelle erheblicher Unzuträglichkeiten bildete. Der Generalrat begnügte sich nicht mit der Rolle eines Korrespondenzbureaus; er wollte die Bewegung leiten und das Vorgehen der lokalen Bünde und Sektionen, ja selbst der einzelnen Mitglieder seinem beistimmenden oder abweisenden Urteil unterwerfen. Als der Kommuneaufstand in Paris begann und ›die Führer nur zu folgen hatten‹, ohne sagen zu können, wohin sie in den nächsten vierundzwanzig Stunden geführt würden, bestand der Generalrat darauf, den Aufstand von London aus zu leiten. Er verlangte täglich Bericht über die Ergebnisse, gab Befehl, befürwortete dies und verwarf das und machte so die Nachteile offenbar, mit denen das Bestehen einer leitenden Körperschaft innerhalb der Assoziation verbunden ist. Noch sichtbarer wurde diese Schattenseite, als der Generalrat 1871 in einer geheimen Konferenz, der außer ihm selbst nur einige wenige Delegierte beiwohnten, den Beschluß faßte, die verfügbaren Kräfte der Assoziation bei den politischen Wahlen einzusetzen. Mit Gewalt wurden dadurch die Leute zum Nachdenken über die schädigende Wirkung jeder Regierung, mochte ihre Wurzel auch noch so demokratisch sein, gebracht. Das war der erste Funke des Anarchismus. Seinen Mittelpunkt fand der Widerstand gegen den Generalrat im Jurabund.

 

Die Trennung zwischen Führern und Arbeitern, die ich in der Genfer Freimaurerloge bemerkt hatte, existierte im Jura nicht. Es fand sich auch dort eine Anzahl von Männern, die scharfsinniger und vor allem tätiger waren als die andern, aber das war alles. James Guillaume, einer der klügsten und allseitig gebildetsten Männer, die ich je getroffen habe, war Korrektor und Faktor einer kleinen Druckerei. Als solcher verdiente er so wenig, daß er nachts Romane aus dem Deutschen ins Französische übersetzen mußte, wobei er acht Franken für den Bogen erhielt.

Als ich nach Neuchatel kam, konnte er, wie er mir sagte, nicht einmal ein paar Stunden zu einer gemütlichen Unterhaltung erübrigen. Zufällig gab die Druckerei an dem Nachmittage die erste Nummer eines Lokalblattes heraus, und er hatte neben seinen gewöhnlichen Pflichten als Korrektor und Mitherausgeber auf die Kreuzbänder tausend Adressen an Personen zu schreiben, an die die ersten drei Nummern gesandt werden sollten, und die Kreuzbänder selbst anzulegen.

Ich erbot mich, ihm beim Schreiben der Adressen zu helfen, dies erwies sich aber als untunlich, weil sie entweder gar nicht oder auf kleine Stücke Papier in unleserlicher Handschrift notiert waren … »Gut,« sagte ich, »so will ich nachmittags ins Geschäft kommen und die Kreuzbänder anlegen, und Sie schenken mir die Zeit, die Sie so sparen.«

Wir verstanden einander. Guillaume schüttelte mir warm die Hand, und das war der Anfang unserer dauernden Freundschaft. Wir brachten den ganzen Nachmittag in der Druckerei zu, wo er die Adressen schrieb, ich die Kreuzbänder anlegte, während sich dabei ein französischer Kommunard, der Setzer war, mit uns unterhielt. Der letztere setzte dabei beständig an einem Roman und unterbrach daher seine Reden mit den laut gelesenen Sätzen, die er gerade unter den Fingern hatte. Seine Unterhaltung lautete etwa folgendermaßen:

»Der Straßenkampf wurde sehr heftig« … »Liebe Marie, ich liebe Sie« … »Die Arbeiter waren voll Wut und kämpften am Montmartre wie die Löwen« … »und er fiel vor ihr auf die Knie« … »und so dauerte der Kampf vier Tage. Wir wußten, daß Gallifet alle Gefangenen erschießen ließ – um so schrecklicher wogte der Kampf,« und so fuhr er fort, dabei behend die Lettern aus dem Setzkasten nehmend.

Spät abends erst konnte Guillaume seine Bluse ausziehen und waren wir imstande, ein paar Stündchen gemütlich miteinander zu reden, worauf er an seine Arbeit als Herausgeber des ›Bulletin‹ des Jurabundes gehen mußte.

In Neuchatel machte ich auch Malons Bekanntschaft. Er war in einem Dorfe geboren und in seiner Jugend Schäfer gewesen. Später kam er nach Paris, erlernte hier ein Handwerk, die Korbflechterei, und war mit seinen zwei Genossen, dem Buchbinder Varlin und dem Schreiner Pindy, während der Verfolgung der Internationale durch Napoleon III. im Jahre 1869 in weiteren Kreisen als einer der leitenden Geister derselben bekannt geworden. Alle drei hatten die Herzen der Pariser Arbeiter völlig für sich gewonnen und wurden, als der Aufstand der Kommune ausbrach, mit ganz gewaltiger Stimmenzahl zu Mitgliedern des obersten Rates gewählt. Malon wurde auch Maire eines Pariser Arrondissements. In der Schweiz verdiente er sich jetzt sein Brot als Korbmacher. Er hatte für einen ganz geringen Monatszins einen kleinen offenen Schuppen vor der Stadt am Abhang eines Hügels gemietet, von wo er während der Arbeit einen weiten Ausblick auf den Neuchateler See genoß. Abends schrieb er Briefe, ein Buch über die Kommune, kurze Artikel für Arbeiterblätter und wurde so ein Schriftsteller. Täglich besuchte ich ihn und lauschte den Mitteilungen des breitköpfigen, fleißigen, einigermaßen poetisch veranlagten und äußerst gutherzigen Kommunarden über den Aufstand, in dem er selbst eine hervorragende Rolle spielte, und den er eben in einem Buche ›Die dritte Niederlage des französischen Proletariats‹ beschrieb.

Als ich eines Morgens den Hügel erklommen hatte und seine Bude betrat, begrüßte er mich ganz strahlend mit den Worten: »Sie wissen, Pindy ist noch am Leben! Hier ist ein Brief von ihm, er weilt in der Schweiz!« Seit dem 23. oder 26. Mai, wo man ihn zuletzt in den Tuilerien gesehen hatte, war Pindy verschollen, und man hielt ihn für tot, aber er hatte sich nur in Paris verborgen gehalten, während Malon dann fortfuhr, aus Weidenzweigen einen eleganten Korb zu flechten, erzählte er mir mit seiner ruhigen, nur manchmal etwas bebenden Stimme, wie viele von den Versailler Truppen, in der Annahme, es wären Pindy, Varlin, er selbst oder noch andere Führer, erschossen worden. Er teilte mir mit, was er von dem Tode des von den pariser Arbeitern vergötterten Buchbinders Varlin wußte, auch vom alten Delscluze, der die Niederlage nicht überleben wollte, und vielen andern erzählte er mir. Er berichtete ferner von den Schrecken, deren Zeuge er während der Blutorgie gewesen war, die die vermögenden Klassen bei ihrer Rückkehr nach der Hauptstadt feierten, sowie von dem Geist der Rache, der einen von Raoul Rigault geführten Haufen ergriff und zur Erschießung der Geiseln der Kommune führte.

Mit zitternden Lippen sprach er von dem Heldenmute der Jugend, und das Herz wollte ihm brechen, als er mir die Geschichte von dem Knaben erzählte, der von den Versaillern eben erschossen werden sollte und den Offizier um Erlaubnis bat, zuvor eine silberne Uhr, die er trug, seiner ganz in der Nähe wohnenden Mutter bringen zu dürfen. Einer augenblicklichen Regung der Barmherzigkeit folgend, ließ der Offizier den Knaben gehen, wohl in der Hoffnung, er werde nicht wiederkommen. Aber dieser war nach einer Viertelstunde wieder da, stellte sich mitten unter den Leichnamen der Erschossenen an die Mauer und rief: »Ich bin bereit.« Zwölf Kugeln setzten seinem jungen Leben ein Ende.

Ich glaube, niemals war mir schmerzlicher zu Mute als beim Lesen des fürchterlichen Buches ›Le Livre Rouge de la Zustice Rurale‹. Es enthielt nichts als Auszüge von Pariser Briefen der Korrespondenten Londoner Blätter, des ›Standard‹, ›Daily Telegraph‹ und der ›Times‹, aus den letzten Maitagen 1871, die von den Schreckenstaten des Versailler Heeres unter Gallifet berichteten, und außerdem nur ein paar von Blutdurst gegen die Aufständischen triefende Artikel des Pariser ›Figaro‹. Beim Lesen dieser Zeilen wollte ich an der Menschheit verzweifeln, und dieses Gefühl der Verzweiflung hätte mich auch so bald nicht wieder verlassen, wäre mir nicht im Verkehr mit den Mitgliedern der unterlegenen Partei, die all diese Schrecken hatten über sich ergehen sehen, jene Freiheit von jedem Gefühl des Hasses, jene Zuversicht in den schließlichen Erfolg ihrer Ideen, jener zwar traurige, aber mit Ruhe auf die Zukunft sich richtende Ausdruck der Augen, jene Bereitwilligkeit, das Gespenst der Vergangenheit zu vergessen, entgegengetreten, wie ich sie bei Malon und tatsächlich fast bei allen Genfer Flüchtlingen der Kommune bewunderte und noch immer in Luise Michel, Lefrançais, Elisée und Elie Reclus und anderen Freunden bewundern kann.

Von Neuchatel ging ich nach Sonvilliers. In einem schmalen Tale des Schweizer Jura liegt eine Reihe kleiner Städte und Dörfer, deren französisch sprechende Bevölkerung damals ausschließlich mit der Uhrmacherei beschäftigt war und zwar in der Weise, daß ganze Familien in kleinen Werkstätten dieser Arbeit oblagen. In einer von ihnen traf ich einen zweiten Führer, Adhemar Schwitzgebel, zu dem ich nachher ebenfalls in die engsten Beziehungen trat. Er saß unter einem Dutzend junger Leute, die in goldene und silberne Uhrendeckel gravierten. Man lud mich zum Sitzen ein, und bald waren wir alle in lebhafter Unterhaltung über Sozialismus, Regierung oder Nicht-Regierung, sowie über die bevorstehenden Kongresse begriffen.

Am Abend wütete ein heftiger Schneesturm, der uns auf unserm Wege zum nächsten Dorfe blendete und das Blut in den Adern erstarren ließ. Aber trotz dieses Schneegestöbers kamen etwa fünfzig Uhrmacher, meist alte Leute, von den benachbarten Ortschaften, zum Teil aus einer Entfernung von mehr als einer Meile, um einer kleinen auf jenen Abend einberufenen außerordentlichen Versammlung beizuwohnen.

Die besondere Organisation des Uhrmachergewerbes, bei der die Leute einander genau kennen lernen und in ihren Wohnhäusern arbeiten können, erklärt die Erscheinung, daß die Bevölkerung auf einer höheren geistigen Stufe steht, als sie gewöhnlich Arbeiter einnehmen, die ihr Leben von klein auf in den Fabriken zubringen. Es findet sich unter den in kleinen Betrieben tätigen Arbeitern mehr Unabhängigkeit und Originalität. Aber auch der Umstand, daß es beim Jurabund keine Scheidung zwischen Führern und Massen gab, trug jedenfalls mit dazu bei, daß sich jedes Mitglied des Bundes über jede Frage eine eigene Meinung zu bilden suchte. Hier hatte ich also das Schauspiel, daß die Arbeiter nicht eine von wenigen geleitete und den politischen Zwecken dieser wenigen dienstbar gemachte Masse darstellten, ihre Führer waren nichts anderes als besonders rührige Genossen, mehr Anreger als eigentliche Leiter. Die klare Einsicht, das gesunde Urteil, die Fähigkeit zur Lösung verwickelter sozialer Fragen, wie ich sie unter diesen Arbeitern, besonders den dem mittleren Lebensalter angehörigen, antraf, machten einen tiefen Eindruck auf mich, und ich bin fest überzeugt, daß die hervorragende Rolle, die dem Jurabunde in der Entwicklung des Sozialismus zukommt, nicht nur in der Bedeutung der antigouvernementalen und föderalistischen Ideen, deren Hauptvertreter er war, ihren Grund hat, sondern auch darin, daß diese Ideen infolge des gesunden Menschenverstandes der Uhrmacher des Jura in so vernünftiger Form zum Ausdruck gelangten. Ohne ihren Beistand wären diese Prinzipien vielleicht noch lange Zeit bloße Abstraktionen geblieben.

Die theoretische Ausbildung des Anarchismus, wie sie damals innerhalb des Jurabundes unter dem Einflusse Bakunins allmählich erfolgte, die Kritik des Staatssozialismus – die Besorgnis vor einem den bloßen politischen Despotismus an Gefährlichkeit weit überragenden wirtschaftlichen Despotismus – die ich dort formulieren hörte, und der revolutionäre Charakter der Agitation übten auf mich wegen ihres theoretischen Wertes sicher einen großen Einfluß aus. Aber die Prinzipien der Gleichheit, die ich im Jura herrschend fand, die Unabhängigkeit im Denken und im Gedankenausdruck, wie sie sich nach meiner Wahrnehmung unter den dortigen Arbeitern entwickelte, und ihre grenzenlose Hingabe an die gemeinsame Sache machten auf meine Gefühle einen noch stärkeren Eindruck; und als ich die Uhrmacher des Jura, nachdem ich etwa zwölf Tage unter ihnen geweilt hatte, verließ, standen meine sozialistischen Ansichten fest: ich war ein Anarchist.

Durch eine Reise, die ich sodann nach Belgien machte, und auf der ich wieder die zentralisierte politische Agitation in Brüssel mit der unter den Tuchmachern in Verviers sich entwickelnden wirtschaftlichen und unabhängigen Agitation vergleichen konnte, verstärkten sich meine Ansichten nur. Diese Tuchmacher gehörten zu den sympathischsten Bevölkerungsklassen, die ich in Westeuropa angetroffen habe.

 

Damals hielt sich Bakunin in Locarno auf. Ich bekam ihn nicht zu sehen, was ich jetzt außerordentlich bedaure, denn als ich nach vier Jahren wieder die Schweiz besuchte, war er bereits tot. Er war es, der den Freunden im Jura geholfen hatte, ihre Ideen zu klären und ihre Forderungen zu formulieren, und der sie mit seiner machtvollen, glühenden, unwiderstehlichen Begeisterung für die Revolution beseelt hatte. Kaum bemerkte er, daß ein kleines Blatt, das Guillaume anfing, in Locle im Jura herauszugeben, einen neuen Ton selbständigen Denkens in der sozialistischen Bewegung anschlug, so kam er nach Locle. Ganze Tage und Nächte lang redete er zu seinen neuen Freunden über die Notwendigkeit eines weiteren Schrittes in anarchistischem Sinne; er schrieb für jenes Blatt eine Reihe tiefgedachter und glänzender Artikel über den historischen Fortschritt der Menschheit zur Freiheit, flößte seinen neuen Freunden Begeisterung ein und schuf so einen Herd der Propaganda, von dem der Anarchismus später nach anderen Teilen Europas ausstrahlte.

Nachdem er nach Locarno gegangen war, von wo er eine ähnliche Bewegung in Italien und durch seinen sympathischen und begabten Sendling, Fanelli, auch in Spanien ins Leben rief, wurde das von ihm im Jura angefangene Werk von den Juraarbeitern selbständig fortgesetzt. Oft kehrte in ihren Unterhaltungen der Name ›Michel‹ wieder, aber nicht als der eines abwesenden Häuptlings, dessen Ansichten Gesetz wären, sondern wie der eines persönlichen Freundes, von dem jeder mit Liebe und in kameradschaftlicher Weise redet. Am auffallendsten war es mir, daß Bakunins Einfluß weit weniger in seiner geistigen Autorität als in seiner sittlichen Persönlichkeit beruhte. Wenn sich das Gespräch um Anarchismus oder die Haltung des Bundes drehte, hörte ich niemals zur Unterstützung einer Behauptung die Äußerung: »Bakunin hat das gesagt« oder »Bakunin denkt so«. Seine Schriften und seine Worte galten nicht als etwas Unfehlbares, dem man unbedingt zu gehorchen hätte, wie es leider bei politischen Parteien oft der Fall ist. In allen Fragen, in denen der Intellekt die höchste Instanz bildet, brachte jeder in der Diskussion seine eigenen Argumente zur Geltung. Mochten sie nach Inhalt und Form zuerst von Bakunin aufgestellt sein, oder mochte sie Bakunin von seinen Freunden im Jura entlehnt haben, jedenfalls trugen die Argumente bei jedem einzelnen einen individuellen Charakter. Nur einmal hörte ich Bakunins Namen als Autorität an sich anrufen, und das war mir so auffallend, daß ich mich jetzt noch an den Ort und die näheren Umstände der Unterhaltung erinnere. Die jungen Männer fingen einmal in Gegenwart von Frauen Reden an, die nicht gerade sehr achtungsvoll für das andere Geschlecht klangen. Da brachte sie plötzlich die eine Frau durch den Ausruf zum Schweigen: »Schade, daß Michel nicht da ist, er würde euch schon in eure Schranken gewiesen haben!« Die riesenhafte Gestalt des Revolutionärs, der alles für die Sache der Revolution hingegeben hatte, der für sie allein lebte und von seiner Auffassung derselben die höchsten und reinsten Anschauungen für das Leben überhaupt ableitete, übte noch immer ihren Einfluß auf sie aus.

 

Von dieser Reise kehrte ich mit ganz bestimmten soziologischen Ideen zurück, und diese Ideen habe ich nicht nur bis zum heutigen Tage festgehalten, sondern mich auch nach besten Kräften bemüht, sie weiter zu entwickeln und immer klarer und konkreter auszugestalten.

Doch gab es einen Punkt dabei, mit dem ich mich erst abfinden konnte, nachdem ich angestrengt und manche Stunde der Nacht darüber nachgedacht hatte. Klar sah ich nämlich, welch ungeheure Änderung nötig wäre, um alles, was zum Leben und zur Produktion gehört, in die Hände der Gesellschaft zu geben, – mochte es sich um den Volksstaat der Sozialdemokraten oder die freien Vereinigungen zwanglos miteinander verbrüderter Gruppen, wie die Anarchisten wollen, handeln – und daß diese Änderung einen gewaltigeren Umsturz bedingte, als je einer in der Geschichte stattgefunden hat. Dazu hatten die Arbeiter offenbar bei solcher Revolution nicht nur das verkommene Aristokratengeschlecht gegen sich, das die französischen Bauern und Republikaner im achtzehnten Jahrhundert bekämpfen mußten – und auch dieser Kampf war ein unerhört heftiger – sondern die intellektuell und physisch weit mächtigeren Mittelklassen, denen alle die gewaltigen Hilfsmittel des modernen Staates zur Verfügung stehen. Bald erkannte ich aber, daß keine Revolution friedlicher oder gewaltsamer Natur jemals stattgefunden hat, ohne daß die neuen Ideale sich auch unter den Angehörigen eben der Klasse, deren Vorrechten der Ansturm galt, zahlreiche Anhänger gewonnen hätten. Ich hatte selbst die Aufhebung der Leibeigenschaft in Rußland erlebt, und ich wußte, daß ohne die auch von vielen Grundherren geteilte Überzeugung von der Ungerechtigkeit ihrer Sache (eine Folge der vorhergehenden westeuropäischen Entwicklung und Revolution) die Befreiung der Leibeigenen niemals mit der Leichtigkeit, wie es 1861 geschah, sich vollzogen haben würde. Nun konnte ich nicht daran zweifeln, daß die Idee einer Befreiung der Arbeiter vom gegenwärtigen Lohnsystem sich in gewissem Maße unter den Mittelklassen selbst ausbreitete. Bereits machten die Verteidiger der jetzigen wirtschaftlichen Zustände für die bestehenden Privilegien nicht mehr ein Recht geltend, sondern schoben statt dessen die Frage der Opportunität einer solchen Umgestaltung in den Vordergrund. Sie leugneten nicht, daß eine Änderung in dieser Richtung wünschenswert sei, sondern stellten nur in Frage, ob die von den Sozialisten befürwortete neue wirtschaftliche Organisation wirklich besser sein würde als die jetzige, ob eine Gesellschaft, in der die Arbeiter die entscheidende Stimme hätten, die Produktion erfolgreicher ausführen könnte, als es die einzelnen, nur vom eigenen Interesse geleiteten Kapitalisten zur Zeit vermögen.

Außerdem begriff ich allmählich, daß Revolutionen, d. h. Perioden beschleunigter Entwicklung und reißend schneller Fortschritte, der Natur der menschlichen Gesellschaft nicht minder eigen sind als die langsame Fortentwicklung, wie sie sich innerhalb der gesitteten Rassen jetzt beständig vollzieht, und daß jedesmal, wenn solche Periode beschleunigter Entwicklung und gründlicher Neukonstruktion anhebt, ein Bürgerkrieg in geringerem oder größerem Umfange auszubrechen droht. Es lautet demnach die entscheidende Frage nicht: Wie kann man Revolutionen vermeiden? sondern: Wie sind die größten Ergebnisse bei möglichster Beschränkung des Bürgerkrieges, bei der geringsten Zahl der Opfer und einem Minimum gegenseitiger Erbitterung zu erzielen? Hierfür gibt es nur ein Mittel: es muß nämlich der unterdrückte Teil der Gesellschaft sich so klar wie möglich über seine Ziele und die dahin führenden Wege werden und die zur Erreichung des Zieles nötige Begeisterung besitzen. Dann wird seine Sache sicher gerade auf die besten und frischesten intellektuellen Kräfte der im Besitze der historisch gewordenen Vorrechte befindlichen Klasse eine unwiderstehliche Anziehungskraft ausüben.

Die Pariser Kommune bietet das erschreckende Beispiel eines Ausbruchs mit noch ungeklärten Idealen. Als die Arbeiter im März 1871 Herren der großen Stadt wurden, rührten sie nicht an die Eigentumsrechte der Mittelklassen, sondern stellten im Gegenteil diese Rechte unter ihren Schutz. Die Führer der Kommune deckten die Nationalbank mit ihren Leibern, und trotz der die Industrie lähmenden Krisis und der daraus folgenden Verdienstlosigkeit vieler Arbeiter schützten sie durch Erlasse die Eigentumsrechte der Pariser Fabrikinhaber wie der Besitzer von Handels- und Wohnhäusern. Als aber die Bewegung niedergeschlagen war, nahmen die Mittelklassen keinerlei Rücksicht auf die von den Aufständischen bewiesene Bescheidenheit in ihren kommunistischen Ansprüchen. Nachdem sie zwei Monate lang in Angst geschwebt hatten, die Arbeiter würden ihre Eigentumsrechte angreifen, übten die Reichen an den Arbeitern ihre Rache genau in derselben Weise aus, als wäre der Angriff in Wirklichkeit erfolgt. An dreißigtausend Arbeiter wurden bekanntlich nicht im Kampfe, sondern nachdem sie im Kampfe unterlegen waren, hingeschlachtet. Hätten die Arbeiter Schritte zur Aufhebung des Privateigentums getan, die Rache hätte nicht furchtbarer sein können.

Meine Schlußfolgerung lautete also: Wenn es Perioden der menschlichen Entwicklung gibt, wo ein Konflikt unvermeidlich ist, und ein Bürgerkrieg ganz unabhängig von dem Willen dieser oder jener Einzelperson ausbrechen muß, so sollen diese Konflikte wenigstens nicht auf der Basis unbestimmter Bestrebungen, sondern klarer Ziele stattfinden und nicht zur Lösung minderwichtiger Fragen, deren geringere Bedeutung doch dem Kampfe nicht seine Heftigkeit nimmt, sondern auf Grund durchgreifender, umfassender Ideen, die die Menschen durch die Großartigkeit des neuen Gesichtskreises, den sie ihnen eröffnen, begeistern. In diesem Falle wird der Konflikt selbst weit weniger durch die Wirksamkeit der Feuerwaffen und Kanonen entschieden werden als von der Kraft des schöpferischen Geistes, der bei dem Neuaufbau der menschlichen Gesellschaft ins Leben tritt. Die Entscheidung wird hauptsächlich von der Stärke der konstruktiven Kräfte der Gesellschaft, die auf einen Augenblick freie Bahn gewinnen, abhängen und von dem Wert der erstrebten Ziele. Entsprechen sie einer höheren Entwicklungsstufe, so wird ihnen größere Sympathie auch seitens derer entgegengebracht, die als Klassenangehörige der Änderung feindlich gegenüberstehen. Wenn sich so der Konflikt gewissermaßen auf höherer Warte abspielt, so wird er die soziale Atmosphäre selbst reinigen, und die Zahl der Opfer wird sicher auf beiden Seiten kleiner ausfallen, als wenn der Kampf um geringere Ziele ausgefochten worden wäre, bei denen die niedrigeren Instinkte der Menschen zur Geltung kommen.

Mit diesen Ideen kehrte ich nach Rußland zurück.

 

Während meiner Reise kaufte ich eine Anzahl von revolutionären Büchern und Jahrgängen sozialistischer Zeitungen. In Rußland sind solche Bücher von der Zensur unbedingt verboten, und die Zeitungen und Berichte über internationale Kongresse waren in solcher Vollständigkeit nicht einmal in Belgien zu den höchsten Preisen käuflich. »Soll ich sie von mir geben, während mein Bruder und meine Freunde so froh wären, wenn sie sie in Petersburg haben könnten?« fragte ich mich und beschloß, sie jedenfalls nach Rußland hineinzubringen.

Ich fuhr über Wien und Warschau nach Petersburg zurück. An der polnischen Grenze leben Tausende von Juden vom Schmuggel, und ich dachte, wenn ich nur einen von ihnen auftreiben könnte, so würden meine Bücher sicher über die Grenze gelangen. Es schien mir aber nicht ratsam, an einer kleinen Grenzstation als einziger Passagier auszusteigen und da einen Schmuggler aufzustöbern. So benutzte ich eine Seitenbahn und kam nach Krakau. »Die alte polnische Hauptstadt liegt unweit der Grenze,« dachte ich, »und dort werde ich einen Juden finden, der mich zu den gesuchten Leuten führt.«

Ich erreichte die einst berühmte und glänzende Stadt am Abend und begab mich am nächsten Morgen frühzeitig auf die Suche. Wie erstaunt war ich aber, als ich an jeder Straßenecke, und wohin ich nur auf dem sonst öden Marktplatze meine Augen wandte, einen Juden in dem traditionellen langen Rock und mit den Locken seiner Vorväter sah, der dort auf einen polnischen Edelmann oder Händler wartete, um in dessen Auftrag für wenige Kupfermünzen einen Gang zu machen. Ich wollte nur einen Juden finden, und nun waren zu viele da. An wen sollte ich mich wenden? Ich durchschritt die Stadt und entschloß mich dann in meiner Verzweiflung, den Juden am Eingangstore meines Hotels anzureden. Dieses Hotel war, nebenbei bemerkt, ein großartiger alter Palast, dessen Säle sich in früheren Tagen mit eleganten Scharen glänzend gekleideter Tänzer füllten, das aber jetzt dem prosaischeren Zwecke diente, ein paar gelegentlichen Reisenden Verköstigung und Obdach zu gewähren. Ich teilte dem Manne meinen Wunsch mit, einen ziemlich schweren Pack Bücher und Zeitungen nach Rußland zu schmuggeln.

»Nichts leichter als das, Herr,« erwiderte er. »Ich will gleich den Vertreter der Internationalen Börse für (sagen wir) Hadern und Knochen zu Ihnen schicken. Die Gesellschaft betreibt das großartigste Schmuggelgeschäft der Welt, und er wird Ihnen sicher dienen können!« Nach einer halben Stunde kam er wirklich mit dem Vertreter der Gesellschaft, einem höchst eleganten jungen Manne, der das Russische, Deutsche und Polnische völlig beherrschte, zurück.

Er besichtigte mein Paket, wog es mit der Hand und fragte, was für Bücher darin wären.

»Alle strengstens von der russischen Zensur verboten; darum müssen sie eingeschmuggelt werden.«

»Bücher,« sagte er, »gehören eigentlich nicht zu unserer Warengattung, wir machen in wertvollen Seidestoffen. Wollte ich meine Leute unserem Seidentarif entsprechend nach dem Gewicht bezahlen, so müßte ich von Ihnen einen ganz unverhältnismäßigen Preis fordern. Und dann muß ich gestehen, lasse ich mich nicht gern auf Bücher ein. Passiert nur das geringste, so würden ›sie‹ es zu einer politischen Affäre aufbauschen, und es könnte dann die Allgemeine Hadern- und Knochen-Gesellschaft eine entsetzliche Summe kosten, sich reinzuwaschen.«

Wahrscheinlich machte ich ein sehr bedauerndes Gesicht, denn der elegante junge Vertreter der Hadern- und Knochen-Gesellschaft fügte sofort hinzu: »Seien Sie ruhig. Er (der Hotel-Kommissionär) wird schon einen Ausweg finden.«

»O ja; auf vielerlei Weisen läßt sich das machen, dem Herrn zu dienen; es ist eine Kleinigkeit,« bemerkte der Kommissionär und entfernte sich.

Nach einer Stunde kam er mit einem andern jungen Manne zurück. Dieser nahm das Paket, legte es neben die Tür und sagte: »Es ist gut; wenn Sie morgen abfahren, werden Sie Ihre Bücher an der und der russischen Station erhalten,« und er setzte mir auseinander, wie die Sache gemacht würde.

»Was wird es kosten?« fragte ich.

»Was wollen Sie zahlen?« war die Erwiderung.

Ich schüttelte den Inhalt meiner Börse auf den Tisch und sagte: »So viel brauche ich zur Reise; der Rest ist für Sie; ich will dritter Klasse fahren.«

»Waih, waih, waih!« riefen beide zugleich. »Was Sie sagen, Herr? So ein Edelmann dritter Klasse reisen! Niemals. Nein, nein, nein, das geht nicht … Acht Rubel ist für uns genug und dann etwa einen Rubel für den Kommissionär, wenn's Ihnen recht ist – ganz nach Ihrem Belieben. Wir sind keine Straßenräuber, sondern ehrliche Geschäftsleute.« Und sie weigerten sich rundweg, mehr Geld anzunehmen.

Ich hatte oft von der Ehrlichkeit der jüdischen Grenzschmuggler gehört, hätte aber niemals erwartet, solchen Beweis davon zu erhalten. Als später unser Kreis viele Bücher vom Auslande bezog oder noch später, als so viele Revolutionäre und Flüchtlinge die Grenze auf ihrem Wege aus oder nach Rußland kreuzten, ist mir kein Fall zu Ohren gekommen, in dem die Schmuggler einen verraten oder sich die Umstände zunutze gemacht und einen übertriebenen Preis für ihre Dienste gefordert hätten.

Am nächsten Tage fuhr ich von Krakau ab; und auf der bestimmten russischen Station trat ein Gepäckträger an meinen Wagen und sagte so laut, daß es der auf dem Bahnsteig auf- und abgehende Polizist hören konnte, zu mir: »Hier ist der Koffer, den Eure Hoheit gestern hinterlassen haben,« und händigte mir mein wertvolles Paket ein.

Ich freute mich so, es in Händen zu haben, daß ich nicht einmal in Warschau Halt machte, sondern meine Reise ohne Aufenthalt nach Petersburg fortsetzte, um meinem Bruder meine Siegesbeute zu zeigen.

*


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