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Zehntes Kapitel.

Verbringung ins Untersuchungsgefängnis. – Erkrankung. – Im Militärhospital. – Fluchtpläne. – Glückliches Entkommen. – Reise ins Ausland.

 

Zwei Jahre waren vergangen. Einige meiner Kameraden waren gestorben, einige wahnsinnig geworden, aber davon, daß unser Fall vor Gericht kommen sollte, verlautete noch nichts.

Gegen Ende des zweiten Jahres war auch meine Gesundheit erschüttert. Der eichene Schemel kam mir nun schwer vor in meiner Hand, und die Meile wurde eine endlose Entfernung. Da wir unser etwa sechzig in der Festung waren, wurden wir bei der Kürze der Wintertage um jeden dritten Tag zu einem Aufenthalt von zehn Minuten in den Hof geführt. Ich tat mein Bestes, meine Spannkraft zu bewahren, aber die ›arktische Überwinterung‹ ohne sommerliche Unterbrechung überwältigte mich. Von meinen sibirischen Reisen hatte ich leichte Symptome von Skorbut heimgebracht, die sich jetzt, bei der Dunkelheit und Feuchtigkeit des Gelasses, stärker entwickelten; so hatte mich diese Geißel des Gefängnislebens getroffen.

Im März oder April 1876 sagte man uns endlich, die Dritte Abteilung hätte die ›Voruntersuchung‹ beendet. Der ›Fall‹ war an die ordentlichen Gerichte überwiesen worden, und folglich wurden wir auch in das Untersuchungsgefängnis gebracht.

Es war dies ein vor kurzem nach dem Muster französischer und belgischer Gefängnisse errichtetes Gebäude, das aus vier Stockwerken voll kleiner Zellen bestand. Jede Zelle hatte ein Fenster, das nach einem inneren Hofe ging, und eine auf einen Balkon führende Tür; die Balkone der einzelnen Stockwerke waren durch eiserne Treppen miteinander verbunden.

Für meine Kameraden bedeutete die Verbringung in dieses Gefängnis zumeist einen großen Fortschritt zum Besseren. Es war hier mehr Leben als in der Festung und bessere Gelegenheit zum Korrespondieren, Verwandte zu sprechen und zu gegenseitigem Verkehr. Den ganzen Tag konnte man ungestört das Wandklopfen fortsetzen, und ich vermochte auf diese Weise einem jungen Nachbar die Geschichte der Pariser Kommune von Anfang bis Ende zu erzählen, wozu ich freilich eine Woche lang die Klopfsprache anwenden mußte.

Mit meinem körperlichen Zustande wurde es hier noch schlimmer, als es in letzter Zeit in der Festung gewesen war. Die schwüle Atmosphäre der kleinen Zelle, die nur vier Schritte von einer Ecke zur andern maß, und in der die Temperatur, sobald die Dampfröhren zu wirken begannen, von eisiger Kälte zu unausstehlicher Hitze umschlug, konnte ich nicht ertragen. Beim Gehen mußte ich mich so oft umwenden, daß mir nach wenigen Minuten schwindlig wurde, und die zehn Minuten täglicher Bewegung in einem Winkel des von hohen Backsteinmauern eingeschlossenen Hofes, gewährten mir ganz und gar keine Erholung. Was den Gefängnisarzt betrifft, der ›in seinem Gefängnis‹ das Wort ›Skorbut‹ nicht hören wollte, so ist das beste, was man tun kann, daß man gar nicht von ihm spricht.

Da zufällig eine meiner Verwandten, die Frau eines Rechtsanwalts, nur ein paar Häuser vom Gefängnis entfernt wohnte, wurde mir gestattet, von ihr meine Beköstigung zu erhalten. Meine Verdauung war aber so schlecht geworden, daß ich bald den ganzen Tag nichts als ein kleines Stück Brot und ein oder zwei Eier essen konnte. Meine Kräfte nahmen infolgedessen reißend schnell ab, und die allgemeine Meinung ging dahin, ich würde höchstens noch zwei Monate zu leben haben. Wenn ich die Treppe zu meiner im zweiten Stock gelegenen Zelle hinaufstieg, mußte ich zwei- oder dreimal anhalten und ausruhen, und ich besinne mich, wie ein älterer Wachsoldat einmal mitleidig sagte: »Armer Mann, Sie werden das Ende des Sommers nicht erleben.«

Meine Verwandten gerieten unter diesen Umständen in die größte Bestürzung. Meine Schwester Helene suchte meine Haftentlassung gegen Bürgschaft zu erwirken, aber der Staatsanwalt, Schubin, erwiderte ihr mit sardonischem Lächeln: »Wenn Sie mir ein ärztliches Gutachten bringen, wonach sein Tod in zehn Tagen zu erwarten ist, so will ich ihn freigeben.« Er hatte die Genugtuung, mit anzusehen, wie meine Schwester in einen Stuhl sank und laut aufschluchzte. Es gelang ihr aber doch durchzusetzen, daß ich von einem tüchtigen Arzte, dem Oberarzte des Petersburger Garnisonhospitales, untersucht wurde. Der alte scharfsinnige Herr kam nach einer äußerst gewissenhaften Untersuchung zu dem Schlusse, ich hätte keine organische Krankheit, sondern litte nur an ungenügender Oxydation des Blutes. »Alles, was Sie brauchen, ist Luft,« sagte er. Dann stand er einige Minuten zaudernd da und fügte endlich mit entschiedenem Ausdruck hinzu: »Reden nutzt nichts; hier können Sie nicht bleiben, Sie müssen fort.«

Nach zehn Tagen verbrachte man mich in das Militärhospital, das in einem äußeren Stadtteile Petersburgs gelegen ist, und das ein besonderes kleines Gefängnis für die während einer gegen sie schwebenden Untersuchung erkrankenden Offiziere und Soldaten enthält. Zwei meiner Kameraden hatte man, als ihr baldiger Tod infolge von Schwindsucht zweifellos schien, bereits dorthin gebracht.

Im Hospital erholte ich mich sofort. Man gab mir ein geräumiges Zimmer zu ebener Erde, dicht neben der Wachstube. Ein mächtiges vergittertes nach Süden schauendes Fenster öffnete sich auf eine kleine mit zwei Baumreihen besetzte Promenade, jenseit deren zweihundert Zimmerleute auf einem weiten Platze damit beschäftigt waren, hölzerne Baracken für Typhuskranke zu errichten. Jeden Abend sangen sie wohl eine Stunde lang im Chor, wie ihn nur große Zimmermanns-Artels bilden können. Eine Schildwache, deren Häuschen meinem Zimmer gegenüber stand, schritt in der Promenade auf und ab.

Mein Fenster blieb den ganzen Tag geöffnet, und ich konnte mir's in den Strahlen der Sonne, die ich so lange entbehrt hatte, wohl sein lassen. Mit voller Brust atmete ich die balsamische Mailuft ein, und mein Gesundheitszustand besserte sich sehr schnell – zu schnell, wie ich bald meinte. In kurzer Zeit vermochte ich wieder leichte Nahrung zu verdauen, meine Kraft wuchs, und ich ging von neuem mit frischer Energie an meine Arbeit. Da ich keine Möglichkeit sah, den zweiten Band meines Werkes zu vollenden, so verfaßte ich eine gedrängte Übersicht davon, die im ersten Bande zum Abdruck kam.

 

In der Festung hatte ich von einem Kameraden, der im Hospitalgefängnis gewesen war, gehört, es würde mir nicht schwer fallen, von dort zu entfliehen, weshalb ich meine Freunde von meinem neuen Aufenthaltsorte in Kenntnis setzte. Es zeigte sich aber, daß die Flucht weit schwieriger war, als ich auf Grund jener Mitteilung geglaubt hatte. Ich wurde viel schärfer als je vorher überwacht, die Schildwache im Gange hatte ihren Platz vor meiner Tür, ich durfte mein Zimmer überhaupt nicht verlassen, und die Hospitalsoldaten, wie die Offiziere der Wache, die in mein Zimmer traten, scheuten sich offenbar, länger als eine oder zwei Minuten zu verweilen.

Von meinen Freunden wurden verschiedene Pläne zu meiner Befreiung entworfen, darunter manche höchst ergötzlicher Art. So sollte ich die eisernen Stangen vor meinem Fenster durchfeilen. Dann sollten sich zwei Freunde in einer regnerischen Nacht, wenn die Schildwache vorm Fenster in ihrem Schilderhaus schlummerte, von hinten heranschleichen und das Häuschen umstürzen, so daß es auf den Soldaten fiele und ihn, ohne ihn zu verletzen, wie in einer Mausefalle finge, während ich inzwischen aus dem Fenster spränge. Doch es bot sich in unerwarteter Weise eine bessere Lösung.

»Suchen Sie um Erlaubnis zu einem Spaziergange nach,« flüsterte mir eines Tages einer der Soldaten zu. Ich folgte dem Rate; der Arzt unterstützte mein Gesuch, und so wurde mir gestattet, jeden Nachmittag um vier Uhr eine Stunde lang mich im Gefängnishof aufzuhalten. Ich mußte den langen grünen Flanellrock, den die Patienten des Hospitals tragen, anbehalten, doch wurden nur meine Stiefel, meine Weste und meine Hosen jeden Tag eingehändigt.

Niemals werde ich meinen ersten Ausgang vergessen. Als man mich hinausführte, sah ich einen volle dreihundert Schritte langen und mehr als zweihundert Schritte breiten ganz mit Gras bedeckten Hof vor mir. Das Tor war offen, so daß ich ungehindert die Straße, das mächtige Hospitalgebäude gegenüber und die vorübergehenden Leute sehen konnte. Ich blieb an den Türstufen des Gefängnisses stehen, da ich beim Anblick des Hofes und des Tores einen Augenblick unfähig war, mich zu bewegen.

An einem Ende des Hofes stand das Gefängnis, ein schmales, etwa hundertfünfzig Schritte langes Gebäude, an dessen beiden Enden sich Schilderhäuser befanden. Die beiden Schildwachen schritten vor dem Gebäude auf und nieder und hatten auf dem Rasen einen Fußpfad ausgetreten. Auf diesem Fußpfad hieß man mich gehen, während die Schildwachen fortfuhren, auf und ab zu schreiten, so daß ich niemals mehr als zehn oder fünfzehn Schritte von einer von beiden entfernt war. Die Hospitalsoldaten ließen sich auf den Türstufen nieder.

Am gegenüberliegenden Ende dieses geräumigen Hofes wurde von einem Dutzend Karren Holz abgeladen und von etwa zwölf Bauern an der Mauer aufgeschichtet. Der ganze Hof war von einem hohen Zaun aus dicken Brettern umgeben. Das Tor war offen, damit die Karren ein- und ausfahren konnten.

Dieses offene Tor hatte es mir angetan. »Ich darf nicht darauf hinstarren,« sagte ich mir, und doch blickte ich die ganze Zeit darauf hin. Sobald ich in meine Zelle zurückgeführt war, schrieb ich an meine Freunde, um ihnen die willkommene Neuigkeit mitzuteilen. »Ich fühle mich nahezu außerstande, die Chiffren anzuwenden,« schrieb ich mit bebender Hand und kritzelte dabei fast unlesbare Zeichen hin. »Diese Nähe der Freiheit läßt mich zittern, als wäre ich im Fieber. Heute nahmen sie mich in den Hof hinaus; das Tor war offen, und keine Schildwache stand daneben! Durch dieses unbewachte Tor will ich hinauslaufen; meine Schildwachen werden mich nicht einholen« – und ich entwarf den Plan zur Flucht. »Eine Dame kommt in offenem Wagen zum Hospital. Sie steigt aus, und der Wagen wartet auf sie in der Straße einige fünfzig Schritte vom Tor. wenn ich um vier hinausgeführt werde, gehe ich eine Weile hin und her mit dem Hut in der Hand, und für einen Freund, der am Tore vorübergeht, bedeutet dies das Zeichen, daß im Gefängnis alles in Ordnung ist. Dann müßt ihr mir eurerseits durch ein Zeichen mitteilen, daß auf der Straße alles sicher ist. Ohne dieses Signal rühre ich mich nicht vom Fleck, denn bin ich einmal aus dem Tore, so dürfen sie mich nicht wieder fangen. Nur durch eine Licht- oder eine Tonwirkung dürft ihr mir das Zeichen geben. So kann etwa der Kutscher seinen Lackhut heben, so daß die Sonnenstrahlen auf das Hauptgebäude des Spitals zurückgeworfen werden; oder er mag lieber einen Gesang anstimmen und ihn so lange fortsetzen, als die Straße sicher ist. Das beste wäre freilich, ihr könntet das kleine graue Häuschen, das ich vom Hofe aus sehe, dazu benutzen und mir von seinem Fenster das Zeichen geben. Die Schildwache wird hinter mir herrennen wie der Hund nach dem Hasen; sie wird aber eine Krümmung beschreiben, während ich in gerader Linie laufe, und ich will fünf oder zehn Schritte vor ihr bleiben. Auf der Straße springe ich dann in den Wagen, und im Galopp geht's davon. Schießt die Wache – nun das läßt sich nicht ändern, das entzieht sich unserer Berechnung; und dann: schaut man einem sicheren Tode im Gefängnisse ins Auge, so lohnt sich das Wagnis wohl.«

Es wurden Gegenvorschläge gemacht, aber am Ende kam jener Plan zur Annahme. Unser Kreis nahm die Sache in die Hand; Leute, die ich niemals gekannt hatte, befaßten sich damit, als handelte es sich um die Befreiung ihres liebsten Bruders. Doch stellten sich dem Unternehmen viele Schwierigkeiten entgegen, und dabei verrann die Zeit mit furchtbarer Schnelligkeit. Obwohl ich angestrengt arbeitete und bis spät in die Nacht hinein schrieb, besserte sich doch meine Gesundheit mit einer mich geradezu verblüffenden Schnelligkeit. Als man mich zum erstenmal in den Hof ließ, konnte ich nur wie eine Schildkröte den Fußpfad dahinkriechen, und jetzt fühlte ich mich zum Laufen stark genug. Freilich bewegte ich mich immer noch im Schildkrötenschritt, damit meine Spaziergänge nicht aufhörten, aber ich konnte mich jeden Augenblick durch meine natürliche Lebhaftigkeit verraten. Inzwischen mußten meine Kameraden mehr als zwanzig Helfer werben, ein zuverlässiges Pferd und einen erfahrenen Kutscher ausfindig machen und hunderterlei unvorhergesehene Zwischenfälle in die Gleiche bringen, die bei derartigen Unternehmungen stets vorkommen. Die Vorbereitungen dauerten etwa einen Monat, und jeden Tag konnte ich ins Untersuchungsgefängnis zurückgebracht werden.

Schließlich wurde der Tag der Flucht bestimmt. Am 29. Juni alten Stils ist der Peter-Pauls-Tag. An diesem Tage wollten mich meine Freunde, die damit ihrem Unternehmen einen etwas sentimentalen Anstrich gaben, gern befreien. Sie hatten mich wissen lassen, sie würden auf mein Zeichen, daß ›alles drinnen in Ordnung‹ sei, mir ihrerseits durch Steigenlassen eines kleinen roten Kinderballons mitteilen, daß ›draußen alles in Ordnung‹ sei. Dann würde der Wagen kommen und ein Lied gesungen werden zum Zeichen, daß die Straße frei sei.

Am 29. ging ich hinaus, nahm meinen Hut ab und wartete auf den Ballon. Doch es war nichts davon zu sehen. Eine halbe Stunde verrann, da vernahm ich auf der Straße das Rollen eines Wagens, ich hörte einen Mann ein mir unbekanntes Lied singen, aber kein Ballon ließ sich sehen.

Die Stunde war um und mit gebrochenem Herzen kehrte ich in mein Zimmer zurück. »Es muß etwas verkehrt gegangen sein,« sagte ich mir.

Was unmöglich schien, war an dem Tage eingetreten. Immer sind in Petersburg in der Nähe des Gostinoi Dwor Hunderte von Kinderballons zu kaufen. An jenem Morgen war keiner da, nicht ein einziger war aufzutreiben. Endlich entdeckte man einen, der einem Kinde gehörte, aber er war alt und wollte nicht fliegen. Da eilten meine Freunde zu einem Mechaniker, kauften einen Apparat zur Erzeugung von Wasserstoff und füllten den Ballon damit, aber er flog um nichts besser, weil der Wasserstoff nicht trocken genug war. Die Zeit drängte. Da befestigte eine Dame den Ballon an ihrem Schirm und ging, diesen hoch über ihrem Kopfe haltend, in der Straße an der hohen Mauer entlang hin und her; aber ich bemerkte nichts davon, da die Mauer zu hoch und die Dame zu klein war.

Wie sich am Ende herausstellte, hätte gar nichts Besseres geschehen können als dieses Mißgeschick mit dem Ballon. Als nämlich die Stunde vorüber war und der Wagen die Straßen entlang fuhr, durch die er sich nach meiner Entweichung bewegen sollte, wurde er in einer engen Straße von einem reichlichen Dutzend Karren, die Holz nach dem Hospital fuhren, zum Halten gebracht. Die Karrenpferde gerieten auf der rechten wie auf der linken Seite der Straße ineinander, und unser Wagen mußte langsamen Schrittes dazwischen durchzukommen suchen und konnte bei einer Straßenbiegung überhaupt nicht mehr weiter. Wäre ich darin gewesen, so hätte man mich gefaßt.

Nun wurde ein ganzes System von Signalen alle Straßen entlang, durch die uns die Flucht führen sollte, eingerichtet, um so die Sicherheit zu gewinnen, daß der ganze Weg frei sei. Fast eine halbe Meile weit standen meine Genossen vom Hospital an Schildwache. Einer sollte mit dem Taschentuch in der Hand die Straße auf und ab gehen, und das Tuch, wenn Karren kämen, in die Tasche stecken, ein anderer auf einem Steine sitzen und Kirschen essen und damit aufhören, wenn Karren nahe wären, und so fort. Alle diese in den verschiedenen Straßen gegebenen Zeichen sollten bis zum Wagen fortgesetzt werden. Auch hatten meine Freunde das erwähnte graue Häuschen gemietet, das ich vom Hofe aus sehen konnte, und an dem offenen Fenster desselben einen Geiger Stellung nehmen lassen, der sich bereit hielt, sobald ihn das Signal ›die Straße ist frei‹ erreicht hätte, auf seiner Geige zu spielen.

Das Unternehmen war auf den nächsten Tag festgesetzt worden, da weiterer Aufschub gefährlich schien. Schon das Erscheinen des Wagens war den Leuten im Hospital aufgefallen; auch mußte den Behörden etwas Verdächtiges zu Ohren gekommen sein, denn ich hörte, wie der Patrouillenoffizier die vor meinem Fenster stehende Wache fragte: »Wo sind die Kugelpatronen?« Unbeholfen wollte sie der Soldat aus seiner Patronentasche holen; es dauerte aber ein paar Minuten, ehe er sie herausbrachte. Der Offizier wetterte auf ihn los: »Hat man euch nicht gesagt, ihr sollt heute nacht vier Kugelpatronen in eurer Rocktasche haben?« Und er blieb solange bei dem Mann stehen, bis er vier Patronen in seine Tasche gesteckt hatte. »Gib scharf acht!« sagte er, als er wegging.

Die neuen Verabredungen über die Signale mußten mir unverzüglich mitgeteilt werden. Zu diesem Zwecke kam am nächsten Tage um zwei Uhr eine Dame, eine liebe Verwandte von mir, ins Gefängnis und bat, mir eine Uhr zu übergeben. Alles für mich Bestimmte mußte durch die Hände des Staatsanwalts gehen, aber da es sich diesmal nur um eine Uhr ohne Gehäuse handelte, so sah man davon ab. Die Uhr enthielt aber einen winzigen Brief in Chiffernschrift, der mich von dem ganzen Plan in Kenntnis setzte. Diese Verwegenheit erfüllte mich im ersten Moment mit Schrecken. Die Dame, die selbst aus politischen Gründen von der Polizei verfolgt wurde, wäre auf der Stelle verhaftet worden, hätte zufällig jemand den Uhrdeckel aufgemacht. Sie aber verließ, wie ich sehen konnte, das Gefängnis ganz ruhig und bewegte sich langsam die Promenade entlang.

Wie gewöhnlich kam ich um vier hinaus und gab mein Zeichen. Zunächst vernahm ich das Rollen des Wagens, und ein paar Minuten darauf drangen die Töne der Geige vom grauen Häuschen in unsern Hof. Aber jetzt war ich gerade am andern Ende des Gebäudes. Als ich dann wieder an das dem Tore nächstliegende Ende – etwa hundert Schritte davon – meines Pfades kam, war mir die Schildwache dicht auf den Fersen. Noch einmal hin und zurück, dachte ich – aber noch ehe ich das andere Ende erreichte, hörte die Violine auf einmal auf zu spielen.

Es verging mehr als eine bange Viertelstunde, ehe mir die Ursache der Unterbrechung klar wurde. Dann fuhr nämlich ein Dutzend schwerbeladener Holzkarren durch das Tor und bewegte sich nach dem andern Ende des Hofes. Sofort begann der Geigenspieler – ein guter, muß ich gestehen – eine aufregende Mazurka von Kontsky, als wollte er sagen: »Vorwärts jetzt – das ist deine Zeit!« Langsam ging ich zu dem, dem Tore näheren Ende meines Pfades, bei dem Gedanken bebend, die Mazurka könnte aufhören, bevor ich mein Ziel erreichte.

Als ich am Ende war, drehte ich mich um. Die Schildwache hatte fünf oder sechs Schritte hinter mir Halt gemacht und blickte nach einer andern Richtung. »Jetzt oder nie!« Dieser Gedanke blitzte, wie ich mich noch erinnere, durch meinen Kopf. Ich schleuderte meinen grünen Flanellrock von mir und fing an zu laufen.

Viele Tage hintereinander hatte ich mich im Abwerfen dieses über die Maßen langen und bauschigen Kleidungsstückes geübt. Es war so lang, daß ich den unteren Teil auf meinem linken Arme trug wie die Damen die Schleppe ihres Reitkleides. Wie ich es aber auch anstellte, ich konnte es nicht mit einem Ruck los werden. Ich trennte es unter den Achselhöhlen auf, doch es half nichts. So beschloß ich denn, mich darin zu üben, es in zwei Bewegungen abzuwerfen, indem ich mit der einen das Ende vom Arm schleuderte und mit der andern den Rock zur Erde beförderte. Ich übte geduldig in meinem Zimmer, bis es so gut klappte wie beim Exerzieren der Soldaten mit dem Gewehr: ›Eins, zwei‹ und es lag am Boden.

Ich traute meiner Kraft nicht viel zu und lief zuerst, um sie zu sparen, ziemlich langsam. Kaum hatte ich aber ein paar Schritte getan, als die das Holz am andern Ende des Hofs aufschichtenden Bauern schrien: »Er läuft fort! Haltet ihn! Fangt ihn!« und mir am Tore den Weg verlegen wollten. Da flog ich, als gälte es mein Leben. An nichts anderes dachte ich mehr als schnell zu laufen – nicht einmal an das Loch, das die Karren am Tore ausgefahren hatten: »Renne! Renne, was du kannst!« tönte es in mir.

Wie mir meine Freunde, die der Szene vom grauen Häuschen aus zuschauten, später erzählten, lief die Schildwache samt den drei Soldaten, die auf den Türstufen saßen, hinter mir her. Die Wache war mir so nahe, daß sie sicher glaubte, sie könnte mich fangen. Mehrmals stieß sie mit dem Gewehr nach vorn, um mich mit dem Bajonett in den Rücken zu stechen, und einen Augenblick dachten meine Freunde, sie hätten mich. Offenbar war mein Verfolger so überzeugt, auf diese Weise meiner habhaft werden zu können, daß er nicht schoß. Aber ich behielt meinen Vorsprung, und am Tore mußte er die Hoffnung, mich einzuholen, aufgeben.

Sobald ich das Tor glücklich hinter mir hatte, bemerkte ich zu meinem Schrecken, daß in dem Wagen ein Zivilist mit einer Militärkappe saß, der sein Gesicht mir nicht zuwendete. Verkauft! war mein erster Gedanke. Meine Kameraden hatten geschrieben: »Bist du erst in der Straße, so gib dich nicht verloren, es werden Freunde da sein, die dich im Falle der Not verteidigen«; ich wollte daher nicht in den Wagen springen, wenn sich ein Feind darin befand. Als ich aber dem Wagen näher war, sah ich, daß der Mann einen blonden Backenbart trug, der wie der eines guten Freundes von mir aussah. Er gehörte zwar unserm Kreise nicht an, aber wir waren persönlich befreundet, und ich hatte mehr als einmal Gelegenheit gehabt, seinen kühnen Mut kennen zu lernen und zu sehen, wie seine Kraft, wenn es not tat, auf einmal wahrhaft herkulisch wurde. Warum sollte er hier sein? Ist es möglich? dachte ich, und wollte schon seinen Namen rufen, als ich noch zur rechten Zeit an mich hielt und statt dessen, während ich noch lief, in die Hände klatschte, um seine Aufmerksamkeit zu erregen. Er wandte mir sein Gesicht zu, und nun wußte ich, wer es war.

»Spring herein, rasch, rasch!« schrie er mit schrecklicher Stimme und einen Revolver schußbereit in der Hand haltend, trieb er mich und den Kutscher mit heftigen Worten zur Eile an. »Fahre! Fahre schnell, oder ich schieß' dich nieder, Kerl,« rief er dem Kutscher zu. Das Pferd, ein schöner, erprobter Traber, den man zu diesem Zwecke erstanden hatte, setzte in vollem Galopp ein. »Haltet sie! greift sie!« klang es gellend von zahlreichen Stimmen hinter uns, während mein Freund mir inzwischen behilflich war, mich mit einem Zylinder und einem eleganten Überrock zu bekleiden. Doch drohte die wahre Gefahr weniger von den Verfolgern als von dem Soldaten, der am Tore des Hospitals, etwa dem Platze, wo der Wagen hielt, gegenüber, auf Posten stand, wenn er nur schnell ein paar Schritte vorwärts machte, so konnte er mich am Besteigen des Wagens verhindern oder auch das Pferd zum Halten bringen. Es war daher einem Freunde der Auftrag gegeben worden, die Aufmerksamkeit dieses Soldaten durch ein Gespräch abzulenken. Er entledigte sich seiner Aufgabe mit bestem Erfolge. Da der Soldat einmal im Laboratorium des Hospitals beschäftigt gewesen war, so gab mein Freund der Unterhaltung eine wissenschaftliche Wendung, indem er vom Mikroskop und den Wundern, die es uns erschließt, sprach. Er fragte in Bezug auf einen bestimmten Parasiten des menschlichen Körpers: »Haben Sie schon gesehen, was für einen furchtbaren Schwanz er hat?« »Was sagen Sie, einen Schwanz?« »Ja, freilich; er ist unter dem Mikroskop so dick.« »Reden Sie mir doch nichts vor!« versetzte der Soldat. »Das weiß ich besser. Es war ja das erste, das ich unter dem Vergrößerungsglas gesehen habe.« Dieses lebhafte Zwiegespräch fand statt, gerade als ich bei ihnen vorbeilief und in den Wagen sprang. Es klingt wie eine Fabel, ist aber Tatsache.

Der Wagen bog plötzlich in eine schmale Gasse ein, um an derselben Hofmauer entlang zu fahren, an der die Bauern Holz aufgeschichtet hatten, während sie jetzt sämtlich hinter mir herliefen. Die Wendung war so scharf, daß der Wagen beinahe umgeflogen wäre, hätte ich mich nicht, meinen Freund mit mir ziehend, nach innen geworfen und durch diese plötzliche Bewegung das Gleichgewicht wieder hergestellt.

Wir trabten durch die enge Gasse und wandten uns dann links. Dort standen vor der Tür eines Wirtshauses zwei Gendarmen, welche die Dienstmütze meines Begleiters in militärischer Weise grüßten, »Psch! Psch!« machte ich zu meinem Nachbar, der sich noch in furchtbarer Aufregung befand; »alles geht gut; die Gendarmen grüßen uns.« Auf diese Bemerkung wendete mir der Kutscher sein Gesicht zu, und ich erkannte in ihm einen andern Freund, der ganz glücklich lächelte.

Allenthalben sahen wir Freunde, die uns zuwinkten oder uns, wenn wir im vollen Galopp unseres wackeren Pferdes vorbeijagten, ein ›Gut Heil‹ zuriefen. Dann bogen wir in den breiten Newsky-Prospekt ein, lenkten in eine Nebenstraße, stiegen vor einer Türe aus und schickten den Kutscher fort. Ich lief eine Treppe hinauf und fiel auf der obersten Stufe in die Arme meiner Schwägerin, die in schmerzlicher Bangigkeit gewartet hatte. Sie lachte und weinte in einem Atem und hieß mich eiligst eine andere Kleidung anziehen und meinen auffallenden Bart stutzen. Zehn Minuten später verließen mein Freund und ich das Haus und nahmen eine Droschke.

Inzwischen waren der Offizier der Gefängniswache und die Hospitalsoldaten auf die Straße hinausgestürzt und wußten nicht, was sie tun sollten. Ringsherum war keine Droschke, da alle im Umkreis von zwanzig Minuten von unsern Freunden gemietet waren. Eine alte Bauernfrau aus der Volksmenge, die sich angesammelt hatte, war klüger als alle zusammen. »Arme Kerls,« sagte sie, wie im Selbstgespräch, »die kommen sicher am Perspekt 'raus, und da wird man sie fassen, wenn einer die Straße entlang läuft, die gerade zum Perspekt führt.« Sie hatte ganz recht, und der Offizier eilte zu dem Pferdebahnwagen, der in kurzer Entfernung hielt, und bat, man möchte ihm die Pferde überlassen, damit jemand nach dem Prospekt reiten könnte. Man weigerte sich aber hartnäckig, die Pferde herzugeben, und der Offizier wollte sie nicht mit Gewalt nehmen.

Auch der Geigenspieler und die Dame, die sich in dem grauen Häuschen befunden hatten, stürzten heraus und mischten sich unter die Menge. Sie hörten mit an, wie die alte Frau den erwähnten guten Rat gab, und als sich die Leute nach und nach wieder verliefen, gingen sie ebenfalls ruhig ihres Weges.

Es war ein schöner Nachmittag, wir fuhren nach den Inseln, wo die Petersburger Aristokratie an heiteren Frühlingstagen sich den Sonnenuntergang anzusehen pflegt. Unterwegs ließ ich mir in einer abgelegenen Straße von einem Barbier meinen Bart abnehmen, was mein Aussehen natürlich einigermaßen, doch nicht eben sehr veränderte. Ziellos fuhren wir auf den Inseln hin und her und wußten nicht, da wir uns in unserem Nachtquartier erst spät einfinden durften, wohin wir uns wenden sollten. »Was fangen wir in der Zwischenzeit an?« fragte ich meinen Freund, den dieselbe Frage beschäftigte. »Zu Donon!« rief er auf einmal dem Kutscher zu und nannte damit eines der ersten Petersburger Restaurants. »Es wird keinem je einfallen, dich bei Donon zu suchen,« bemerkte er ruhig. »Überall wird man nach dir forschen, nur da nicht; und wir werden bei einem guten Diner und einem guten Tropfen dein glückliches Entkommen feiern können.«

Was konnte ich auf einen so vernünftigen Vorschlag erwidern? So gingen wir zu Donon, schritten durch die hellerleuchteten, zur Dinerstunde mit Gästen gefüllten Säle, belegten ein kleines Zimmer für uns und brachten dort den ganzen Abend zu, bis die Stunde, in der man uns erwartete, herangekommen war. Das Haus, in dem wir zuerst abgestiegen waren, wurde noch nicht zwei Stunden, nachdem wir es verlassen hatten, durchsucht, ebenso die Wohnungen fast aller meiner Freunde. Bei Donon Nachforschung zu halten, kam keinem in den Sinn.

Ein paar Tage später sollte ich ein Zimmer beziehen, das man für mich gemietet hatte und das ich unter falschem Namen und entsprechendem Passe innehaben konnte. Aber die Dame, die mich in einem Wagen hinbringen sollte, und so vorsichtig war, das Haus vorher selbst noch einmal aufzusuchen, fand, daß die Gegend von Spitzeln wimmelte. Es waren so viele von meinen Freunden gekommen, um sich zu erkundigen, ob ich dort in Sicherheit sei, daß die Polizei argwöhnisch geworden war. Überdies hatte die Dritte Abteilung mein Porträt vervielfältigen und in Hunderten von Exemplaren an die Polizei und Wachmannschaft verteilen lassen. Alle Geheimpolizisten, die mich von Ansehn kannten, ließ man nach mir suchen; anderen, denen ich von Person nicht bekannt war, gab man Soldaten und Gefängniswärter bei, die mich während meiner Haft gesehen hatten. Der Zar war wütend darüber, daß eine solche Flucht fast vor seinen Augen und bei hellem Tageslicht geglückt sein sollte, und er hatte den Befehl gegeben: »Er muß gefunden werden!«

In Petersburg zu bleiben war unmöglich; ich hielt mich daher in Landhäusern in der Umgebung der Stadt auf. Mit einem halben Dutzend treuer Freunde befand ich mich in einem Dorfe, das in dieser Jahreszeit für die Petersburger vielfach das Ziel ihrer Ausflüge bildet. Dann wurde beschlossen, ich sollte ins Ausland gehen. Da wir aber aus einer fremden Zeitung ersehen hatten, daß alle Grenz- und Endstationen in den Baltischen Provinzen und Finnland von Geheimpolizisten, die meine Person kannten, überwacht würden, so entschied ich mich zur Wahl einer Richtung, in der man mich voraussichtlich am wenigsten erwartete. Mit dem Passe eines Freundes versehen und von einem andern Freunde begleitet, kreuzte ich Finnland und ging nordwärts in einen abgelegenen Hafen des Bottnischen Meerbusens, von wo ich nach Schweden überfuhr.

Als ich an Bord des Dampfers war und dieser eben abfahren wollte, teilte mir der Freund, der mich bis zur Grenze begleitet hatte, die Petersburger Neuigkeiten mit, die er unseren Freunden versprochen hatte mir bis dahin vorzuenthalten. Meine Schwester Helene wie auch die Schwester meiner Schwägerin, die mich, seit mein Bruder und seine Frau sich in Sibirien befanden, einmal im Monat im Gefängnis besucht hatte, waren wegen Beihilfe zur Flucht verhaftet worden.

Meine Schwester wußte nicht das geringste von den Vorbereitungen zu meiner Flucht. Erst nach meiner Entweichung war ein Freund mit der willkommenen Nachricht zu ihr geeilt, vergebens beteuerte sie, es sei ihr nichts von dem Fluchtplan bekannt gewesen: man nahm sie von ihren Kindern fort und behielt sie zwei Wochen in Haft. Die Schwester meiner Schwägerin wußte zwar, daß irgend etwas im Werke sei, aber an den Vorbereitungen hatte sie keinen Teil. Bei einfacher Überlegung hätten sich die Behörden selbst sagen sollen, daß jemand, der mich offen im Gefängnis besuchte, in ein solches Unternehmen nicht verwickelt sei. Trotzdem mußte sie länger als zwei Monate in Haft bleiben, und vergebens versuchte ihr Gatte, ein bekannter Rechtsanwalt, ihre Freilassung zu erwirken. »Wir wissen nun,« sagten ihm die Gendarmerieoffiziere, »daß sie mit der Flucht nichts zu tun hatte; aber sehen Sie, wir haben dem Kaiser an dem Tage, als wir sie verhafteten, berichtet, die Person, die alles für die Flucht eingeleitet hätte, sei entdeckt und festgenommen. Jetzt wird es einige Zeit dauern, bis wir ihn darauf vorbereitet haben, daß sie nicht die wahre Schuldige ist.«

Ohne Aufenthalt fuhr ich durch Schweden und erreichte Christiania. Hier wartete ich ein paar Tage auf einen Dampfer, der nach Hull gehen sollte, und benutzte diese Zeit, um mich über die Bauernpartei des norwegischen Storthing zu informieren. Als ich mich zu dem Dampfer begab, legte ich mir eifrig besorgt die Frage vor: »Unter welcher Flagge segelt er – der norwegischen, deutschen, englischen?« Als ich dann über dem Stern den Union Jack flattern sah, die Flagge, unter der so viele Flüchtlinge, Russen, Italiener, Franzosen, Ungarn und so weiter, eine Zufluchtsstätte gefunden haben, grüßte ich die Flagge aus der Tiefe meines Herzens.

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