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Erste Reise ins Ausland. – Aufenthalt in Zürich. – Die Internationale Arbeiterassoziation. – Ihr Ursprung. – Ihre Arbeit. – Ihre Ausbreitung. – Studium der sozialistischen Bewegung durch die Lektüre sozialistischer Zeitungen. – Die Genfer Sektion der Internationale. – Zweifel an der Lauterkeit der Führer.
Im nächsten Jahre, als der Winter kaum vorüber war, machte ich meine erste Reise nach Westeuropa. Beim Überschreiten der russischen Grenze empfand ich, sogar noch in höherem Maße, als ich erwartet hatte, was jeder Russe, wenn er sein Vaterland verläßt, empfindet. Solange der Zug auf russischem Boden durch die dünnbevölkerten nordwestlichen Provinzen fährt, hat man den Eindruck, als käme man durch eine Wüste. Wohl hundert Meilen weit ist das Land mit niedrigem Baumwuchs bedeckt, der kaum als Wald bezeichnet werden kann. Hier und da entdeckt das Auge ein im Schnee vergrabenes kleines, elendes Dorf oder eine unwegsame, kotige, enge und gewundene Dorfstraße. Aber alles, die Landschaft und was dazu gehört, ändert sich mit einem Schlage, sobald der Zug ins Ausland gelangt, nach Preußen mit seinen sauberen Dörfern und Höfen, seinen Gärten und gepflasterten Straßen; und das Gefühl des Gegensatzes wird immer stärker, je weiter man in Deutschland eindringt. Sogar das tote Berlin kommt einem nach unsern russischen Städten belebt vor.
Und nun der Kontrast des Klimas! Vor zwei Tagen hatte ich das in dichte Schneedecke gehüllte Petersburg verlassen, und jetzt ging ich im mittleren Deutschland im warmen Sonnenschein ohne Überrock den Bahnsteig entlang und bewunderte die Blütenknospen. Dann kam der Rhein und weiter die Schweiz, in glänzende Sonnenstrahlen gebadet, mit ihren kleinen sauberen Gasthöfen, wo einem zum Frühstück im Freien und angesichts der schneebedeckten Berge gedeckt wird. Nie war mir vorher so klar zum Bewußtsein gekommen, was die nördliche Lage für Rußland zu bedeuten habe, und welchen Einfluß auf die Geschichte des russischen Volkes der Umstand ausübte, daß sich die Hauptmittelpunkte seines Lebens in so nördlichen Breiten wie der des Finnischen Meerbusens entwickeln mußten. Nun erst gewann ich ein volles Verständnis für die unbezwingliche Anziehungskraft, die südliche Länder für die Russen besessen haben, ihre gewaltigen Anstrengungen, das Schwarze Meer zu erreichen, und den beständigen Drang der sibirischen Kolonisten nach Süden, immer tiefer in die Mandschurei hinein.
Damals war Zürich voll von russischen Studenten und Studentinnen. Die bekannte Vorstadt Oberstraß unweit des Polytechnikums war ein Stückchen Rußland, wo die russische Sprache alle andern überwog. Wie russische Studenten zumeist, führten sie auch dort, insbesondere die Studentinnen, ein sehr eingeschränktes Leben. Tee und Brot, etwas Milch und eine dünne auf einer Spirituslampe gebratene Schnitte Fleisch und dabei eine belebte Unterhaltung über das Neueste in der sozialistischen Welt oder das zuletzt gelesene Buch, das machte regelmäßig ihr Mahl aus. Wer über mehr Geld verfügte, als man zu einem solchen Leben bedurfte, spendete es für die ›gemeinsame Sache‹, die Bibliothek, die russische Revue, die herausgegeben werden sollte, oder die Unterstützung der Schweizer Arbeiterpresse. Was ihren Anzug betrifft, so befleißigten sie sich in dieser Beziehung der äußersten Sparsamkeit. Ein bekannter Vers von Puschkin besagt: ›Welcher Hut steht nicht der Sechzehnjähr'gen gut?‹ Es war, als ob die Züricher Russinnen an die Bevölkerung der alten Zwingli-Stadt die herausfordernde Frage richteten: »Gibt es eine Einfachheit im Anzug, die nicht einem Mädchen wohl stände, das jung, intelligent und voll Tatkraft ist?«
Dabei arbeitete die geschäftige kleine Gemeinde angestrengter, als es je, seitdem es Universitäten gibt, geschehen ist, und die Züricher Professoren wurden nicht müde, den Studenten die Leistungen und Fortschritte der Studentinnen als Muster vorzuhalten.
Seit langer Zeit war es mein Wunsch gewesen, mich gründlich über die Internationale Arbeiterassoziation zu unterrichten. Russische Blätter erwähnten sie ziemlich häufig in ihren Spalten; es war ihnen aber verboten, sich über ihre Grundsätze oder ihre Erfolge zu verbreiten. Mein Bruder und ich hatten das Gefühl, es müßte eine große, schwerwiegende Bewegung sein, aber ihre Ziele und Tendenzen waren uns unbekannt. Jetzt, während meines Aufenthaltes in der Schweiz, beschloß ich, diese Lücke auszufüllen.
Die Assoziation befand sich damals auf der Höhe ihrer Entwicklung. In den Jahren 1840 bis 1848 waren in den Herzen der europäischen Arbeiter große Hoffnungen erweckt worden. Erst jetzt erkennen wir allmählich, was für eine ungeheure Menge sozialistischer Literatur in jenen Jahren von Sozialisten aller Gruppen, den christlichen Sozialisten, Staatssozialisten, Fourieristen, Saint-Simonisten, Oweniten u. s. w., in Umlauf gesetzt wurde; erst jetzt fangen wir an, die Tiefe jener Bewegung zu ermessen, und sehen mit Erstaunen, wieviel von dem, was als ein Ergebnis zeitgenössischer Gedankenarbeit galt, bereits damals und das oft mit einer großen Schärfe entwickelt und gesagt worden ist. In jener Zeit verstanden die Republikaner unter ›Republik‹ etwas ganz anderes als die demokratische Organisation kapitalistischer Herrschaft, die jetzt diesen Namen führt. Wenn sie von den Vereinigten Staaten Europas sprachen, so dachten sie dabei an die Brüderschaft der Arbeiter, an die Umwandlung der Kriegswaffen in Werkzeuge der Arbeit und an die Notwendigkeit, den Gebrauch dieser Arbeitsmittel allen Mitgliedern der Gesellschaft und zum Nutzen aller zugänglich zu machen: ›Das Eisen wieder in des Arbeiters Hand gegeben‹, wie Pierre Dupont in einem seiner Lieder es ausdrückt. Nicht nur sollte nach ihrer Meinung Gleichheit betreffs der Strafgesetze und der politischen Rechte, sondern vor allem wirtschaftliche Gleichheit herrschen. Die Nationalisten selbst sahen in ihren Träumen Jung-Italien, Jung-Deutschland und Jung-Ungarn mit weitreichenden agrarischen und ökonomischen Reformen vorangehen.
Der Fehlschlag der Juni-Erhebung in Paris, die Niederwerfung Ungarns durch Nikolaus' I. Heere und Italiens durch die Franzosen und Österreicher, wie die furchtbare Reaktion auf politischem und geistigem Gebiet, die allenthalben in Europa eintrat, vernichteten jene Bewegung völlig. Ihre Literatur, ihre Taten, sogar ihre Grundsätze der ökonomischen Revolution und allgemeinen Brüderlichkeit wurden im Laufe der nächsten zwanzig Jahre einfach vergessen und verloren.
Doch ein Gedanke war aus dem Schiffbruch gerettet worden, das war der Gedanke der internationalen Brüderschaft aller Arbeiter, den ein paar französische Einwanderer in den Vereinigten Staaten sowie Robert Owens Anhänger in England zu verkünden fortfuhren. Das Einvernehmen, zu dem einige englische und ein paar Vertreter der französischen Arbeiter auf der Internationalen Ausstellung von 1862 gelangten, wurde sodann der Ausgangspunkt einer gewaltigen Bewegung, die sich bald über ganz Europa ausbreitete und mehrere Millionen Arbeiter umfaßte. Die Hoffnungen, die zwei Jahrzehnte geschlummert hatten, erwachten noch einmal zum Leben, als die Aufforderung an die Arbeiter erging, sich ohne Unterschied von Glauben, Geschlecht, Nation, Rasse oder Farbe zusammenzuschließen, zu erklären, daß ›die Befreiung der Arbeiter durch die Arbeiter selbst‹ erfolgen müsse, und das Gewicht einer starken, geeinten, internationalen Organisation für die Evolution der Menschheit geltend zu machen – nicht im Namen der Liebe und Barmherzigkeit, sondern im Namen der Gerechtigkeit und der Kraft, die eine von dem wohlbegründeten Bewußtsein ihrer eigenen Ziele und Bestrebungen erfüllte Gemeinschaft von Menschen besitzt.
Zwei Pariser Arbeiteraufstände in den Jahren 1868 und 1869 (bei denen vom Ausland, insonderheit von England, mehr oder minder Beihilfe geleistet wurde), wenn sie auch an sich nicht bedeutend waren, und die Verfolgungen, die die napoleonische Regierung über die Internationale verhängte, erzeugten eine ungeheure Bewegung, in deren Verlaufe die Solidarität der Arbeiter aller Völker angesichts der Rivalität der Staaten offen verkündet wurde. Der Gedanke einer internationalen Einigung aller Gewerke und eines Kampfes gegen das Kapital mit Hilfe internationalen Beistandes riß die gleichgültigsten unter den Arbeitern fort. Mit der Schnelligkeit eines Lauffeuers griff die Bewegung in Frankreich, Belgien, Italien und Spanien um sich, brachte eine große Zahl intelligenter, tätiger und opferfähiger Arbeiter in die vorderste Kampfreihe und übte auch auf einige hochstehende Männer und Frauen aus den besitzenden und gebildeten Klassen Anziehungskraft aus. Eine vorher ungeahnte Macht steckte in dieser Bewegung, täglich nahm sie an Kraft zu, und wäre nicht ihr Wachstum durch den deutsch-französischen Krieg aufgehalten worden, so würden sich wahrscheinlich in Europa große Dinge ereignet haben, durch die unsere Gesittung ein ganz anderes Aussehen bekommen hätte und der menschliche Fortschritt zweifellos beschleunigt worden wäre. Unglücklicherweise hatte der zermalmende Sieg der Deutschen ungewöhnliche europäische Zustände zur Folge; er hielt ein Vierteljahrhundert Frankreichs normale Entwicklung auf und stürzte das ganze Europa in eine Periode des Militarismus, in der wir uns noch heute befinden.
Alle möglichen sozialen Lösungen, die allerdings immer nur als teilweise Lösungen der großen sozialen Frage bezeichnet werden können, hatten damals unter den Arbeitern ihre Anhänger: Kooperation, Betriebsgenossenschaften mit staatlicher Unterstützung, Volksbanken, unverzinsliche Darlehen u. s. w. Jeder einzelne von diesen Vorschlägen wurde vor die ›Sektionen‹ der Assoziation und dann vor die lokalen, regionalen, nationalen und internationalen Kongresse gebracht und eifrig erörtert. Jeder jährliche Kongreß der Assoziation bezeichnet einen neuen Schritt vorwärts in der Entwicklung grundlegender Gedanken über das große soziale Problem, das unserer Generation gestellt ist und eine Lösung verlangt. Die Summe von Intelligenz, die in den Verhandlungen dieser Kongresse zum Ausdruck kam, und die zahlreichen wissenschaftlich unanfechtbaren und tiefdurchdachten Ideen, die so in Umlauf gesetzt wurden, und zwar als das Ergebnis kollektiver Denkbarkeit der Arbeiter, dies alles hat man niemals nach Verdienst gewürdigt. Jedenfalls kann man ohne Übertreibung sagen, daß alle Pläne sozialer Neuordnung, die jetzt unter der Flagge des ›wissenschaftlichen Sozialismus‹ oder des ›Anarchismus‹ segeln, ihren Ursprung in den Verhandlungen und Berichten der verschiedenen Kongresse der Internationale hatten. Die wenigen Gebildeten, die sich der Bewegung anschlossen, haben nur, was in kritischer oder aufbauender Richtung in den Sektionen und darauf auf den Kongressen von den Arbeitern selbst zum Ausdruck gebracht worden war, in eine theoretische Form gegossen.
Der Krieg von 1870-71 hatte wohl die Entwicklung der Assoziation gehemmt, aber nicht völlig vernichtet. In allen industriellen Mittelpunkten der Schweiz bestanden zahlreiche und rührige Sektionen der Internationale, und Tausende von Arbeitern strömten zu ihren Versammlungen, bei denen dem bestehenden System des Privatbesitzes von Land und Fabriken der Krieg erklärt und das nahe Ende der kapitalistischen Herrschaft verkündet wurde. Lokale Kongresse fanden in verschiedenen Teilen des Landes statt, und auf jeder dieser Versammlungen kamen die schwierigsten Probleme der gegenwärtigen sozialen Organisation zur Erörterung und zwar mit einer Beherrschung des Stoffes und einer Tiefe der Auffassung, welche die Mittelklassen sogar noch mehr beunruhigten als die große Zahl der Anhänger, die sich den Sektionen oder Gruppen der Internationale anschlossen. Die Eifersucht und das Vorurteil, die bisher in der Schweiz zwischen den privilegierten Gewerben der Uhrmacher und Goldarbeiter und den gröberen der Weber, Bauarbeiter u. s. w. geherrscht und ein gemeinsames Vorgehen bei Lohnstreitigkeiten verhindert hatten, fingen an zu schwinden. Immer nachdrücklicher erklärten die Arbeiter, daß alle andern in der modernen Gesellschaft bestehenden Unterschiede nichtig seien im Vergleich mit dem zwischen den Kapitalbesitzern und denen, die nicht nur ohne Heller und Pfennig in die Welt kommen, sondern auch dazu verdammt sind, für die wenigen Begünstigten fortdauernd Güter zu erzeugen.
Italien wies, insbesondere in den mittleren und nördlichen Landesteilen, zahlreiche Gruppen und Sektionen der Internationale auf, und in diesen erklärte man die so lange erstrebte italienische Einheit für eine bloße Illusion. Die Arbeiter wurden aufgefordert, ihrerseits eine Revolution auszuführen, das Land für die Bauern und die Fabriken für sich selbst in Besitz zu nehmen und die grausame zentralisierte staatliche Organisation abzuschaffen, die stets in der Geschichte die Aufgabe gehabt hätte, die gegenseitige Ausbeutung der Menschen aufrecht zu halten.
In Spanien bedeckte ein Netz ähnlicher Organisationen Katalonien, Valencia und Andalusien; ihren Mittelpunkt und zugleich ihre Hauptstütze bildeten die machtvollen Barcelonaer Arbeiterverbände, die schon im Baugewerbe den Achtstundentag durchgesetzt hatten. Nicht weniger als achtzigtausend regelmäßige Beiträge zahlende Mitglieder hatte die Internationale im spanischen Lande, alle strebsamen und denkenden Elemente der Bevölkerung gehörten ihr an, und durch ihre Weigerung, sich in die politischen Wirren von 1871 und 72 einzumischen, hatte sie in außerordentlichem Maße die Sympathien der Massen gewonnen. Die Verhandlungen ihrer provinzialen und nationalen Kongresse und die von ihr herausgegebenen Manifeste bildeten wahre Muster einer streng logischen Kritik der bestehenden Zustände und zeichneten sich durch wunderbar klare Formulierung der Arbeiterziele aus.
Auch in Belgien, Holland und selbst in Portugal breitete sich die gleiche Bewegung aus, ja, unter den belgischen Bergarbeitern und Webern waren bereits die großen Massen und die besten Elemente für die Assoziation gewonnen. In England hatten sich die immer am Alten hängenden Trade Unions ebenfalls der Bewegung, wenigstens im Grundsatz, angeschlossen und waren, ohne sich selbst zum Sozialismus zu bekennen, bereit, ihre Brüder auf dem Kontinent in ihren Kämpfen mit den Kapitalisten, besonders bei Ausständen, zu unterstützen. In Deutschland war ein Bund zwischen den Sozialisten mit den ziemlich zahlreichen Anhängern Lassalles geschlossen und damit der erste Grund für die sozialdemokratische Partei gelegt worden. Österreich und Ungarn folgten derselben Spur, und wenn auch in Frankreich damals, nach der Niederwerfung der Kommune und während der darauf folgenden Reaktion (drakonische Gesetze waren gegen die Anhänger der Assoziation erlassen worden), keine internationale Organisation bestehen konnte, so war doch jeder überzeugt, die rückschrittliche Periode könnte nicht lange dauern, Frankreich würde sich wieder der Internationale anschließen und in ihr die Führung übernehmen.
Als ich nach Zürich kam, trat ich einer lokalen Sektion der Internationalen Arbeiterassoziation bei. Ich fragte auch meine russischen Freunde, wo ich mich weiter über den Stand der großen Bewegung in andern Ländern unterrichten könnte. »Lesen Sie,« war ihre Antwort, und meine damals in Zürich studierende Schwägerin brachte eine ganze Zahl von Büchern und Sammlungen von Zeitungsnummern aus den letzten zwei Jahren. Ich las Tag und Nacht und empfing einen tiefen Eindruck, den nichts wieder auslöschen kann. Eine Flut neuer Gedanken stürmte auf mich ein, sie ist in meiner Vorstellung mit dem kleinen sauberen Zimmer in Oberstraß verbunden, von dessen Fenster man einen Blick auf den blauen See und die Berge dahinter hat, wo die Schweizer für ihre Unabhängigkeit gefochten haben, und auf die hohen Türme der Altstadt, die Zeugen so vieler Religionskämpfe.
Die sozialistische Literatur ist niemals reich an Büchern gewesen. Sie ist für Arbeiter geschrieben, für die schon ein Pfennig von Wert ist, und ihre Hauptstärke beruht in den Flugblättern und Zeitungen. Wer sich daher über den Sozialismus unterrichten will, der findet das, was er am meisten braucht, am wenigsten in Büchern. Sie enthalten die Theorien oder die wissenschaftliche Begründung für die sozialistischen Ziele, aber sie geben keine Vorstellung davon, wie die Arbeiter sozialistische Ideale aufnehmen, und wie sich die letzteren verwirklichen lassen. Es bleibt nichts übrig als Jahrgänge von Zeitungen vorzunehmen und sie ganz durchzulesen, die Tagesnachrichten so gut wie die Leitartikel, die ersteren vielleicht noch mehr als die letzteren. Eine ganz neue Welt sozialer Beziehungen und ganz neue Methoden des Denkens wie des Handelns enthüllen sich bei dieser Lektüre und gewähren Einsicht in etwas, das man sonst nirgends finden kann, nämlich in die Tiefe und moralische Stärke der Bewegung, in den Grad, in dem die Menschen von den neuen Theorien erfüllt sind, wie in ihre Bereitwilligkeit, sie in ihrem täglichen Leben zur Anwendung zu bringen und für sie zu leiden. Alles Reden über die Unausführbarkeit des Sozialismus und die Notwendigkeit einer langsamen Evolution hat wenig wert, da das Tempo dieser Entwicklung von innen heraus nur auf Grund genauer Kenntnis der menschlichen Wesen, um deren Evolution es sich handelt, beurteilt werden kann, wie vermag man eine Summe zu schätzen, wenn man die einzelnen Posten nicht kennt?
Je mehr ich las, desto mehr erkannte ich, daß sich vor mir eine neue Welt auftat, von der ich noch nichts wußte, und die den gelehrten Verfassern soziologischer Theorien völlig fremd war – eine Welt, die ich nur kennen lernen konnte, wenn ich der Arbeiterassoziation angehörte und an dem Alltagsleben der Arbeiter teilnahm. Ich beschloß daher, ein paar Monate ein solches Leben zu führen. Meine russischen Freunde redeten mir zu, und so ging ich nach etwa zwölftägigem Aufenthalt in Zürich nach Genf, das damals einen bedeutenden Mittelpunkt der internationalen Bewegung bildete.
Die Genfer Sektionen hatten ihren Versammlungsort in der Freimaurerloge, dem Temple Unique. Mehr als zweitausend Personen fanden bei den Generalversammlungen in ihrer großen Halle Platz, während in Nebenräumen jeden Abend alle möglichen Komitee- oder Sektionssitzungen abgehalten oder Unterricht in Geschichte, Physik, Maschinenkunde und dergleichen erteilt wurde. Unentgeltlich erhielten dort die Arbeiter Belehrung seitens der sehr, sehr spärlichen Vertreter des Mittelstandes, die sich der Bewegung angeschlossen hatten, zumeist flüchtigen Mitgliedern der Pariser Kommune. Es war zugleich eine Volkshochschule und ein Volksforum.
Als einer der Hauptführer dieses Zweiges der sozialistischen Bewegung erschien der Russe Nikolaus Utin, ein aufgeklärter, geschickter und rühriger Mann, aber die Seele des Ganzen war eine Frau, eine sehr sympathische Russin, weit und breit unter den Arbeitern als Frau Olga bekannt. In allen Komitees wurde von ihr das meiste getan. Utin wie Frau Olga nahmen mich herzlich auf, machten mich mit allen hervorragenden Persönlichkeiten in den Sektionen der verschiedenen Gewerbe bekannt und luden mich zur Teilnahme an den Komiteesitzungen ein. Ich folgte der Einladung, blieb aber lieber in der Gesellschaft der Arbeiter selbst. Ein Glas sauren Weines vor mir, pflegte ich jeden Abend an einem Tische der Versammlungshalle mitten unter den Arbeitern zu sitzen und wurde bald mit mehreren von ihnen befreundet, insbesondere mit einem Elsässer Steinmetzen, der Frankreich nach dem Aufstande der Kommune verlassen hatte. Seine Kinder waren zufällig fast im gleichen Alter wie die beiden, die mein Bruder ein paar Monate vorher so plötzlich verloren hatte, und durch die Kinder kam ich bald in ein näheres Verhältnis zu der Familie und ihren Bekannten. So konnte ich der Bewegung gewissermaßen von innen folgen und erkennen, wie die Arbeiter sie ansahen.
Sie hatten alle ihre Hoffnungen auf die internationale Bewegung gebaut. Jung und alt strömte nach der langen Tagesarbeit zur Loge um des wenigen Unterrichts willen, den sie dort haben konnten, oder um den Rednern zuzuhören, die ihnen eine große Zukunft verhießen, nämlich den gemeinsamen Besitz alles zur Gütererzeugung Nötigen und allgemeine Brüderlichkeit ohne Unterschied des Standes, der Rasse oder der Nation. Alle hofften, es würde bald auf friedlichem oder gewaltsamem Wege eine große soziale Revolution kommen und die wirtschaftlichen Verhältnisse von Grund aus umwälzen. Keiner wünschte den Klassenkrieg, aber alle erklärten, ginge es infolge der blinden Halsstarrigkeit der herrschenden Stände nicht anders, so müßte der Kampf, vorausgesetzt, er brächte den niedergetretenen Massen Wohlhabenheit und Freiheit, durchgefochten werden.
Man muß damals unter den Arbeitern gelebt haben, um zu verstehen, welche Wirkung das plötzliche Anwachsen der Assoziation auf sie ausübte, das Vertrauen, das sie auf sie setzten, die Liebe, mit der sie von ihr sprachen, und die Opfer, die sie für sie brachten. Jeden Tag gaben Tausende von Arbeitern Woche für Woche und Jahr für Jahr ihre Zeit und ihre Pfennige, die sie sich geradezu vom Munde absparten, her, um das Weiterbestehen jeder Gruppe zu ermöglichen, das Erscheinen der Zeitungen zu sichern, die Kosten der Kongresse zu bestreiten, die um der Assoziation willen darbenden Kameraden zu unterstützen, ja, auch an den Sitzungen und Kundgebungen persönlich teilzunehmen. Auch der veredelnde Einfluß, der von der Internationale ausging, machte einen tiefen Eindruck auf mich. Ihre Pariser Anhänger waren in der großen Mehrzahl fast völlige Temperenzler, und sämtlich hatten sie sich das Rauchen abgewöhnt. »Warum sollte ich diese Schwäche in mir nähren?« sagten sie. Das Gemeine, das Gewöhnliche verschwand und gab einem erhabenen, veredelnden Streben Raum.
Wer in die Bewegung nicht hineinschauen kann, wird niemals verstehen, welche Opfer von den Arbeitern für dieselbe gebracht wurden. Es gehörte kein geringes Maß von moralischem Mut dazu, sich offen einer Sektion der Internationale anzuschließen und sich der Unzufriedenheit und der Gefahr auszusetzen, bei der ersten besten Gelegenheit entlassen zu werden und vielleicht monatelang arbeitslos zu bleiben. Aber auch unter den günstigsten Umständen beansprucht die Zugehörigkeit zu einer Arbeiterverbindung oder zu irgendeiner radikalen Partei ununterbrochene Opfer. Schon eine Ausgabe von ein paar Pfennigen für die gemeinsame Sache bedeutet eine Bürde für das magere Budget des europäischen Arbeiters, und jede Woche müssen viele Pfennige geopfert werden. Sogar der häufige Besuch der Versammlungen ist als ein Opfer anzusehen. Für uns mag es ein Vergnügen sein, ein paar Stunden einer Sitzung beizuwohnen, aber Leute, deren Arbeitstag früh um fünf oder sechs Uhr beginnt, müssen sich diese Stunden von der nötigen Ruhezeit wegstehlen.
Ich empfand diese Aufopferung als beständigen Vorwurf. Ich sah, wie eifrig die Arbeiter sich um ihre Fortbildung bemühten, und wie erschrecklich gering die Zahl derer war, die ihnen dabei helfen wollten. Ich sah, wie sehr die arbeitenden Massen bei ihren Versuchen, die Organisation auszuarbeiten und zu entwickeln, der Unterstützung von gebildeten und über die nötige Zeit verfügenden Männern bedurften; aber wie wenige fanden sich bereit, diese Unterstützung zu leisten, ohne daß sie dabei die Absicht gehabt hätten, gerade aus dieser Hilflosigkeit des Volkes politisches Kapital zu schlagen! Mehr und mehr wurde die Empfindung in mir herrschend, ich sei verpflichtet, mein Leben ihrer Sache zu weihen. Stepniak sagt in seiner ›Laufbahn eines Nihilisten‹, jeder Revolutionär habe in seinem Leben einen Moment gehabt, wo ihn irgend ein vielleicht an sich unbedeutender Umstand, zu dem entschiedenen Gelöbnis gebracht habe, sich der Sache der Revolution hinzugeben. Ich kenne diesen Moment, ich erlebte ihn nach einer Sitzung in der Freimaurerloge, als sich mir lebhafter als je die Überzeugung aufdrängte, wie feige die Gebildeten handelten, die Bedenken trügen, ihre Bildung, ihr Wissen, ihre Tatkraft in den Dienst derer zu stellen, die dieser Bildung und Tatkraft so sehr bedurften. »Hier sind Menschen,« sprach ich zu mir, »die sich ihrer Knechtschaft bewußt sind, die sich mühen, sich von ihr frei zu machen, aber wo sind die Helfer? Wo sind die, welche den Massen dienen wollen – ohne sie zum Schemel ihres Ehrgeizes zu machen?«
Allmählich stiegen mir aber Zweifel über die Lauterkeit der in der Freimaurerloge betriebenen Agitation auf. Eines Abends stellte sich bei der Versammlung der wohlbekannte Genfer Rechtsanwalt A. ein und erklärte, er habe sich bis jetzt der Assoziation nicht angeschlossen, weil er erst seine eigenen Geschäfte hätte in Ordnung bringen müssen. Jetzt sei ihm dies gelungen und darum komme er, um sich der Arbeiterbewegung anzuschließen. Dieses zynische Eingeständnis versetzte mich in Entrüstung, und als ich meinem Freunde, dem Steinmetzen, mitteilte, wie ich darüber dächte, sagte er mir zur Erklärung, jener Rechtsanwalt sei bei der letzten Wahl, wo er sich um die Unterstützung der Radikalen beworben habe, durchgefallen und hoffe nun mit Hilfe der Arbeiterstimmen sein Ziel zu erreichen. »Wir nehmen jetzt ihre Dienste an,« schloß mein Freund, »sobald aber die Revolution kommt, wird es unser erstes sein, sie alle über Bord zu werfen.«
Dann fand eine hastig zusammenberufene Versammlung statt, um, wie es hieß, gegen die Verleumdungen des ›Journal de Genève‹ zu protestieren. Dieses Organ der Genfer Kapitalistenklassen hatte behauptet, im Temple Unique bereite sich Unheilvolles vor, und die Bauarbeiter planten einen allgemeinen Ausstand wie 1869. Die gewöhnlichen Führer beriefen die Versammlung ein. Tausende von Arbeitern kamen, und Utin beantragte eine Resolution, deren Fassung mir sehr sonderbar vorkam; sie enthielt nämlich einen entrüsteten Protest gegen die doch in keiner Weise beleidigende Behauptung, daß die Arbeiter einen Ausstand beabsichtigten. »Warum wird dies als eine Beleidigung hingestellt?« fragte ich mich. »Ist denn ein Arbeiterausstand ein Verbrechen?« Inzwischen schloß Utin eine überhastete Ansprache, in der er die Annahme seiner Resolution empfahl, mit den Worten: »Wenn ihr damit einverstanden seid, Bürger, will ich sie sofort der Presse zugehen lassen.« Als er die Rednerbühne verlassen wollte, meinte ein Mitglied der Versammlung, man solle die Sache zur Diskussion stellen, worauf dann Vertreter aller Baugewerke auftraten und einer nach dem andern sich dahin äußerten, es seien die Löhne in letzter Zeit so heruntergegangen, daß sie kaum davon leben könnten. Mit dem Beginne des Frühlings stehe ein gesteigertes Arbeitsangebot in Aussicht, diesen Umstand wollten sie zur Erlangung höherer Löhne benutzen; würde ihre Forderung zurückgewiesen, so hätten sie im Sinne, einen allgemeinen Ausstand zu beginnen.
Ich war außer mir und machte am andern Tage Utin wegen seines Vorgehens heftige Vorwürfe. »Sie als Führer,« sagte ich zu ihm, »mußten wissen, daß ein Ausstand wirklich beabsichtigt war.« In meiner Unschuld ahnte ich die wirklichen Motive der Führer gar nicht, und erst Utin selbst gab mir zu verstehen, daß ein unzeitiger Ausstand für die Wahl des Rechtsanwalts A. verhängnisvoll sein würde.
Diese Drahtzieherei seitens der Führer konnte ich mit den flammenden Reden, die ich sie hatte halten hören, nicht zusammenreimen. Ich fühlte mich abgestoßen und äußerte Utin gegenüber meine Absicht, die andere Genfer Sektion der Internationale, deren Mitglieder als ›Bakunisten‹ bezeichnet wurden, kennen zu lernen; der Name ›Anarchist‹ war damals noch wenig im Gebrauch. Utin schrieb mir sofort ein paar empfehlende Worte an einen andern Russen, Nikolaus Joukowsky, der jener Sektion angehörte, schaute mir gerade in die Augen und sagte dabei mit einem Seufzer: »Ich glaube, Sie kehren nicht wieder zu uns zurück; Sie bleiben dort.« Seine Vermutung war zutreffend.
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